S. 436 / Nr. 77 Motorfahrzeuggesetz (d)

BGE 64 II 436

77. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 26. Oktober 1938 i. S.
Schneider und «Helvetia» Schweiz. Unfall- und
Haftpflichtversicherungsgesellschaft gegen Liechti.

Regeste:
Motorfahrzeughaftpflicht. Schädigung eines Halters durch einen andern.
Verweist Art. 39 MFG für den körperlichen Schaden auf Art. 37 oder 38 Abs. 2?

Der Kläger Liechti stiess am 9. April 1935 beim Burgernziel in Bern auf seinem
Motorrad mit dem Automobil des Erstbeklagten Schneider zusammen. Er erlitt
schwere

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Verletzungen, die einen Spitalaufenthalt notwendig machten und eine
vorübergehende gänzliche Arbeitsunfähigkeit sowie eine dauernde
Teilinvalidität zur Folge hatten.
Im vorliegenden Prozesse belangte Liechti den Automobilisten Schneider und die
hinter diesem stehende Versicherungsgesellschaft auf Leistung von
Schadenersatz und Genugtuung.
Der Appellationshof des Kantons Bern hiess durch Urteil vom 27. Mai 1938 die
Klage grundsätzlich gut und verpflichtete die beiden Beklagten, dem Kläger
unter Solidarhaft einen Betrag von Fr. 28415.20 zu bezahlen.
Gegen dieses Urteil erklärten die Beklagten die Berufung an das Bundesgericht
mit dem Antrag auf Abweisung der Klage.
Aus den Erwägungen:
1.- (Die vorinstanzliche Beweiswürdigung ergibt, dass keinem der beiden
Fahrzeugführer, weder dem Automobilisten noch dem Motorradfahrer, ein für den
Unfall kausales Verschulden nachgewiesen werden kann.)
2.- Gegenstand des Rechtsstreites sind Schadenersatz- und
Genugtuungsansprüche, die ein Motorfahrzeughalter gegen den Halter eines
andern Motorfahrzeuges und dessen Haftpflichtversicherer geltend macht. Der
klägerische Halter hat durch den Zusammenstoss der beiden Fahrzeuge einen
Unfall sowie Sachschaden erlitten. Der Tatbestand ist somit derjenige des Art.
39 MFG, wo die Rechtsfolgen dahin geregelt sind, dass sich die Ersatzpflicht
für den körperlichen Schaden «nach diesem Gesetz» richte, während für den
Sachschaden das Obligationenrecht gelte.
Welche Bestimmungen des MFG mit «diesem Gesetz» gemeint sind, ist nicht ohne
weiteres klar. In Betracht kommen Art. 37 und Art. 38 Abs. 2.
Die Versuchung liegt nahe, die Frage für alle in Betracht fallenden
Möglichkeiten in genereller Weise zu lösen (so die einmütige Doktrin, wobei
indessen die einen Autoren -STREBEL. Komm. zum MFG. Art. 39 N. 1, 4 und 6,

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sowie JAEGER in der SchwJZ 35 S. 1 ff. - durchwegs auf Art. 38 Abs. 2
abstellen möchten, während andere die Verweisung des Art. 39 auf Art. 37
beziehen, so BADERTSCHER, BG über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr 146,
BUSSY, Code Fédéral de la Circulation 90, STADLER, Komm. zum MFG 85, und
endlich Obergericht Zürich in den Blättern für zürcherische Rechtsprechung
1938 S. 4). Ob eine Notwendigkeit zu einer solchen generellen Lösung im einen
oder andern Sinne besteht, oder ob nicht vielmehr - analog der heute allgemein
gebilligten Auslegung der Verweisungsnorm des Art. 32 ZivrVerhG - für jede
Gruppe von Fällen gesondert zu prüfen ist, welche Gesetzesstelle die
zweckmässigste Lösung ergibt, kann vorliegend dahingestellt bleiben. Denn in
einem Falle, in dem sich, wie im heutigen, zwei schuldlose Halter
gegenüberstehen, in Bezug auf die gesagt werden muss, dass die ihren
Fahrzeugen innewohnenden Betriebsgefahren in ungefähr gleichem Masse zum
Unfall beigetragen haben, kommt man gestützt auf die beiden in Frage stehenden
Gesetzesstellen (Art. 37 wie Art. 38 Abs. 2) zum gleichen Ergebnis, sodass
hier die Streitfrage überhaupt gegenstandslos ist.
Wendet man nämlich Art. 38 Abs. 2 Satz 2 an, so kann es keinem Zweifel
unterliegen, dass eine Haftung zu gleichen Teilen gegeben ist. In Bezug auf
Art. 37 sodann wird zwar in der Lehre die Auffassung vertreten, er würde zum
Ergebnis führen, dass bei Schuldlosigkeit beider Halter der geschädigte vom
andern Ersatz des ganzen Schadens beanspruchen könnte (so STREBEL, a.a.O.,
Art. 39 N. 6, sowie JAEGER in der SchwJZ 35 S. 2 Spalte 2). Allein das verhält
sich in Wirklichkeit nicht so. Im heutigen Schadenersatzrecht ist allgemein
anerkannt, dass man jedenfalls dem Grundsatze nach für sein eigenes
Verschulden selbst einzustehen hat. Diese Auffassung hat ihren Niederschlag
auch in Art. 44
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 44 - 1 Hat der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt, oder haben Umstände, für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert, so kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden.
1    Hat der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt, oder haben Umstände, für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert, so kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden.
2    Würde ein Ersatzpflichtiger, der den Schaden weder absichtlich noch grobfahrlässig verursacht hat, durch Leistung des Ersatzes in eine Notlage versetzt, so kann der Richter auch aus diesem Grunde die Ersatzpflicht ermässigen.
OR gefunden, wonach der Richter die Ersatzpflicht ermässigen
oder gänzlich von ihr entbinden kann, wenn der Geschädigte in die schädigende
Handlung eingewilligt hat, oder Umstände, für die

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er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens
eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert haben. Das
Prinzip gilt aber, eben weil es auf einem allgemein anerkannten
Fundamentalsatz beruht, über das Anwendungsgebiet des OR hinaus (vgl. BECKER,
Komm. zum OR, Art. 44 N. 7 und die dortigen Verweisungen). Es müsste daher
grundsätzlich in entsprechender Weise auch bei Art. 37 zur Anwendung gebracht
werden, falls sich die Verweisung des Art. 39 auf ihn beziehen würde. Das
würde zu folgendem Resultat führen. Art. 37 statuiert, dass, wenn durch den
Betrieb eines Motorfahrzeuges ein Mensch getötet oder verletzt oder
Sachschaden verursacht wird, der Halter für den Schaden haftet. Entsprechend
dem Grundsatz, dass man für selbst verschuldeten Schaden in der Regel selbst
aufzukommen hat, müsste daher hier ein analoges Prinzip der Selbsttragung des
vom Halter selbstverursachten Schadens aufgestellt und der geschädigte Halter
für den Anteil an Kausalität, der auf sein Motorfahrzeug fällt, grundsätzlich
als nicht ersatzberechtigt erklärt werden. Jede andere Lösung wäre, weil nicht
nur mit einem Fundamentalsatz des Schadenersatzrechtes, sondern überdies auch
mit Art. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 2 - 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
1    Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln.
2    Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.
ZGB im Widerspruche stehend, unannehmbar. Analog wie in der Lehre
über das Selbstverschulden müsste auch hier gesagt werden, dass man inbezug
auf sog. «ordnungswidriges Verhalten» (vgl. darüber etwa GUHL, Untersuchungen
zu Art. 51 aOR, S. 75 ff. und die dortigen Verweisungen) nicht
ersatzberechtigt ist. Ein «ordnungswidriges Verhalten» im Sinne dieser Lehre
würde darin liegen, dass der geschädigte Halter als solcher eine
Mitverursachung zu vertreten hat, die ihn, falls beim Unfall ein anderer
verletzt worden wäre, diesem gegenüber zu Schadenersatz verpflichtet hätte.
Die durch sein eigenes Fahrzeug vermittelte Verursachung darf auch im
Verhältnis zum Halter des Motorfahrzeuges, das zusammen mit seinem eigenen zu
seiner Schädigung Anlass gegeben hat, nicht bedeutungslos sein. Wenn dabei,
wie dies

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vorliegend zutrifft, die den beteiligten Motorfahrzeugen inhärenten
Betriebsgefahren in ungefähr gleichem Masse zum Unfall beitrugen, so würde
sich mithin auch im Falle der Beziehung der Verweisung des Art. 39 auf Art. 37
die gleiche Lösung ergeben wie auf Grund des Art. 38 Abs. 2, nämlich eine
gleichmässige Teilung des körperlichen Schadens unter die beteiligten Halter.
Wie es sich verhalten würde, falls augenscheinlich die Betriebsgefahr des
einen Fahrzeuges gegenüber der des andern eine ganz überwiegende Bedeutung
gehabt haben sollte, kann, weil dieser Tatbestand hier nicht zutrifft,
dahingestellt bleiben.
Vgl. auch Nr. 74. - Voir aussi no 74.