S. 237 / Nr. 41 Motorfahrzeugverkehr (d)

BGE 64 II 237

41. Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. Juli 1938 i. S. «Zürich» Allgemeine
Unfall- und Haftpflichtversicherung A.-G. gegen Fischer.


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Regeste:
Zusammenstoss zwischen Auto und Fahrrad.
Begriff des durch den Betrieb eines Motorfahrzeugs herbeigeführten Unfalls,
Art. 37 Abs. 1 MFG.
Verschuldensfrage; schweres Verschulden des Radfahrers, leichtes Verschulden
des Automobilisten, Art. 37 Abs. 3 MFG.
Beweislastverteilung: Nach der Regel des Art. 37 MFG hat der
Motorfahrzeughalter zu beweisen, dass er den automatischen Richtungszeiger
nicht zu früh hinausgestellt hat.

A. - Der Gatte und Vater der Kläger, Josef Fischer, Fabrikarbeiter und
Landwirt, fiel am 9. Mai 1936 um 14.40 Uhr einem Verkehrsunfall zum Opfer, der
sich unter den folgenden Umständen zutrug: Fischer fuhr auf seinem Fahrrad in
rascher Fahrt die ziemlich abschüssige Dorfstrasse in Hägglingen (Aargau)
hinunter. Die Dorfstrasse mündet in der Weise in die Strasse
Dottikon-Hägglingen ein, dass die erstere den rechten Arm einer Gabelung
darstellt, deren linken Arm und Gabelstiel die Strasse Dottikon-Hägglingen
bildet. Auf der letzteren kam gleichzeitig von Dottikon her, also vom
Radfahrer aus gesehen von links, Gustav Zeiler in seinem mit drei Personen
besetzten Auto mit einer Geschwindigkeit von ca. 40 km. Er hatte die Absicht,
auf dem linken Arm der Gabelung in der Richtung Hägglingen weiter zu fahren
und verlangsamte daher seine Geschwindigkeit etwas. Als er den daherkommenden
Radfahrer erblickte, stoppte er sofort, so dass sein Wagen beim Beginn der
Gabelung, wo die Strasse sich zufolge der Einmündung der Dorfstrasse, sowie
der an

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dieser Stelle ebenfalls von rechts einmündenden untern Friedhofstrasse
verbreitert, zum Stehen kam... Fischer fuhr mit grosser Wucht vorn links auf
den stillstehenden Wagen Zeilers auf. Er schlug mit dem Kopf auf den Kühler
auf und stürzte über diesen hinweg auf die Strasse, wo er schwer verletzt
liegen blieb. Sein Fahrrad wurde 6,40 m zurückgeschleudert und gänzlich
demoliert. Das Auto wurde durch den Anprall ca. 20 cm zurückgeschoben. Fischer
erlag seinen Verletzungen in der folgenden Nacht.
Ein gegen Zeiler angehobenes Strafverfahren wurde mangels Verschuldens
eingestellt.
B. - Die Witwe und die sechs unmündigen Kinder des getöteten Fischer erhoben
gegen die «Zürich» Allgemeine Unfall- und Haftpflichtversicherungs A.-G., bei
der Zeiler für seine Halterhaftpflicht versichert ist, Klage auf Bezahlung von
Schadenersatz- und Genugtuungssummen im Gesamtbetrage von Fr. 18000.- nebst 5%
Zins seit 15. September 1936.
Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage, da der Unfall nicht während des
Betriebes des Motorfahrzeuges erfolgt sei und zudem auf das ausschliessliche
grobe Verschulden des Radfahrers zurückgeführt werden müsse.
C. - Das Bezirksgericht Bremgarten kam zum Schlusse, es liege ein
Betriebsunfall vor; an diesem treffe den Verunfallten wegen seiner übersetzten
Geschwindigkeit ein ziemlich schweres Verschulden, aber auch der Autolenker
sei nicht schuldlos, weil er zu wenig weit rechts gefahren sei und weil er den
automatischen Richtungszeiger zu früh hinausgestellt habe, so dass er im
kritischen Augenblick bereits wieder zurückgefallen gewesen sei und der
Radfahrer nicht habe ersehen können, nach welcher Seite er ausweichen müsse.
Das Bezirksgericht erklärte daher die Versicherungsgesellschaft grundsätzlich
als ersatzpflichtig und setzte den an die Kläger zu leistenden Betrag ex aequo
et bono auf Fr. 5000.- nebst 5% Zins seit 15. September 1936 fest.
D. - Das Obergericht des Kantons Aargau, an welches

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beide Parteien appellierten, ging ebenfalls davon aus, dass der Unfall mit dem
Betrieb des Autos im Zusammenhang stehe und daher das MFG anwendbar sei. In
der Verschuldensfrage nahm das Gericht an, dass die übersetzte Geschwindigkeit
des Radfahrers nur ein leichtes Verschulden darstelle; denn er habe vor
Ansichtigwerden des Autos nur mit einer relativ entfernten Unfallmöglichkeit
rechnen müssen, ein grobes Verschulden wäre aber nur anzunehmen, wenn er trotz
hoher Unfallwahrscheinlichkeit so rasch gefahren wäre. Ein Verschulden des
Automobilisten verneinte das Gericht. Zeiler sei nach den von der Polizei
aufgenommenen Lichtbildern und Feststellungen am Augenschein eindeutig auf der
rechten Strassenhälfte gefahren. Weiter nach rechts zu fahren, sei er nicht
verpflichtet gewesen, da er dann Gebiet in Anspruch hätte nehmen müssen, das
bereits zu der Dorfstrasse und der untern Friedhofstrasse gehöre. Auch
hinsichtlich der Signalisierung liege kein Verschulden Zeilers vor, da der
Nachweis dafür fehle, dass der von Zeiler hinausgestellte Richtungszeiger zu
frühzeitig wieder zurückgefallen sei. Auf Grund dieser Erwägungen
verpflichtete das Obergericht in Anwendung von Art. 37 Abs. 2 MFG die
Versicherungsgesellschaft des Motorfahrzeughalters, den Klägern 70% ihres
gesamten, durch die Leistungen der SUVA zuzüglich des von dieser gemachten
Abzuges wegen Selbstverschuldens des Verunfallten nicht gedeckten Schadens von
Fr. 10850.-, d. h. Fr. 7600.- nebst 5% Zins seit 15. September 1936, zu
ersetzen.
E. - Gegen das Urteil des Obergerichts vom 13. Mai 1938 hat die Beklagte die
Berufung an das Bundesgericht ergriffen mit dem erneuten Antrag auf Abweisung
der Klage.
Die Kläger haben die Anschlussberufung erklärt und um Gutheissung der Klage im
Betrage von Fr. 10000.- ersucht. Sie fechten die Feststellung der Vorinstanz,
dass sich Zeiler eindeutig auf der rechten Strassenhälfte befunden habe, als
aktenwidrig an, da sie mit der als

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zutreffend anerkannten Polizeiskizze im Widerspruch stehe.
F. - An der heutigen Hauptverhandlung haben die Kläger ihre Anschlussberufung
zurückgezogen und auf Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen
Entscheides angetragen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Die Ansicht der Beklagten, die Anwendbarkeit des MFG und damit der
Grundsatz der Kausalhaft sei zum vorneherein deshalb zu verneinen, weil das
Auto Zeilers im Moment des Unfalles stillstand und der Motor abgestellt war,
ist von der Vorinstanz mit Recht abgelehnt worden. Gewiss befand sich nach dem
sogenannten maschinentechnischen Betriebsbegriff, dem sich auch das
Bundesgericht in seiner Rechtsprechung angeschlossen hat, das Auto Zeilers im
Momente des Zusammenstosses nicht mehr im Betrieb, da die maschinellen
Einrichtungen, welche die dem Motorfahrzeugverkehr eigentümliche
Gefahrenquelle darstellen, also namentlich Motor und Scheinwerfer, nicht mehr
im Gang waren (BGE 63 II S. 269, S. 342; STREBEL, Anm. 7 ff. zu Art. 37 MFG).
Allein das ist nicht entscheidend, sondern massgebend ist, ob das
Unfallereignis in seiner Gesamtheit betrachtet auf den Betrieb des
Motorfahrzeuges zurückzuführen ist, und das ist hier ohne Zweifel der Fall:
Der Zusammenstoss ereignete sich, weil das Auto Zeilers auf die
Strassengabelung zufuhr, während gleichzeitig von der andern Seite der
Radfahrer daherkam. Der Zusammenstoss war also eine Verwirklichung der
besondern, durch den Betrieb eines Motorfahrzeuges geschaffenen Unfallgefahr,
um derentwillen in erster Linie die Einführung eines vom gemeinen Recht
abweichenden strengeren Haftungsprinzips als notwendig erachtet wurde.
2.- Für den Fall der Anwendbarkeit der Haftungsgrundsätze des MFG nimmt die
Beklagte den Standpunkt ein, dass ihre Haftpflicht wegen groben Verschuldens
des

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Getöteten dahinfalle, da den Automobilisten kein Verschulden treffe.
Im Verhalten des Getöteten muss nun allerdings eine sehr schwere
Fahrlässigkeit erblickt werden. Die von der Vorinstanz geäusserte gegenteilige
Auffassung ist völlig unhaltbar. Fischer fuhr mit weitübersetzter
Geschwindigkeit - nach den Akten muss sie über 30 km betragen haben - die
ziemlich abschüssige Dorfstrasse hinab gegen die Gabelung zu, die nach den bei
den Akten liegenden Photographien zu schliessen, nicht völlig übersichtlich
ist. Er musste also damit rechnen, dass auf der Strasse von Dottikon her
plötzlich ein Auto oder ein sonstiges Hindernis auftauchen könnte, in welchem
Falle ein Zusammenstoss sozusagen unvermeidlich war; denn wie der nachher
eingetretene Unfall zeigt, war die Geschwindigkeit des Radfahrers derart
gross, dass er die Herrschaft über sein Rad völlig verloren hatte. Er war bei
Ansichtigwerden des Autos weder im Stande, anzuhalten, noch auszuweichen,
sondern fuhr geradewegs in das Auto hinein. Wer unter Umständen wie den
vorliegenden mit derart übersetzter Geschwindigkeit fährt, verletzt eine
elementare Vorsichtspflicht, deren Beachtung jedem verständigen Menschen in
gleicher Lage hätte einleuchten müssen, und handelt darum grob fahrlässig (BGE
54 II S. 403; 62 II S. 317; vgl. auch STREBEL, Anm. 105 zu Art. 37 MFG).
Trotz dem groben Verschulden des Getöteten kommt jedoch eine völlige Befreiung
des Halters von seiner Haftpflicht nicht in Frage, sondern nur eine
Herabsetzung derselben, weil - wiederum entgegen der Ansicht der Vorinstanz -
ein wenn auch nicht sehr erhebliches Verschulden des Autolenkers Zeiler
anzunehmen ist.
Wie die Vorinstanz auf Grund des von ihr vorgenommenen Augenscheins
festgestellt hat, befand sich das Auto Zeilers im Moment des Zusammenstosses
allerdings auf der rechten Strassenhälfte. Die Kläger haben diese Feststellung
zwar als aktenwidrig angefochten. Da sie die Anschlussberufung zurückgezogen
haben, könnte sich fragen,

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Ob damit nicht auch die Aktenwidrigkeitsrüge dahinfalle. Diese Frage ist zu
verneinen, wenn man, wie wohl richtig sein wird, auch dem Berufungsbeklagten
das Recht zur Erhebung von Aktenwidrigkeitsrügen zubilligt (wie WEISS,
Berufung S. 270 Ziffer 3 und der dort erwähnte Entscheid BGE 25 II S. 594 ohne
weiteres als gegeben anzunehmen scheinen). Die Frage kann indessen im
vorliegenden Falle unentschieden bleiben, da die Aktenwidrigkeitsrüge sich
ohnehin als unbegründet erweist (was näher ausgeführt wird).
Allein es kann der Vorinstanz nicht beigepflichtet werden, wenn sie gestützt
hierauf ein Verschulden des Zeiler ohne weiteres verneint. Es wäre vielmehr
ein Gebot der Vorsicht gewesen, wenn Zeiler im Hinblick auf die Möglichkeit
des Auftauchens irgend eines andern Fahrzeuges aus der untern Friedhof- oder
der Dorfstrasse, statt hart an der linken Grenze seiner Fahrtahn zu fahren,
etwas weiter nach rechts gehalten hätte. Dies wäre ihm ohne weiteres möglich
gewesen, ohne dass er die Achse seiner Strasse hätte verlassen und Gebiet
befahren müssen, das bereits zu den beiden Strasseneinmündungen gehört; denn
da sein Wagen nur 1.30 m breit ist, betrug sein Abstand von dem parallel zur
Strassenachse verlaufend gedachten Strassenrand immer noch 1.80 m. Wäre er
etwas weiter rechts gefahren, so wäre zum mindesten die Unfallgefahr bedeutend
geringer gewesen, wenn der Unfall nicht überhaupt hätte vermieden werden
können. Die Ausserachtlassung dieser Vorsichtsmassnahme ist dem Autolenker zum
Verschulden anzurechnen.
Überdies muss die Frage der Signalisierung entgegen der Meinung der Vorinstanz
zu Ungunsten des Autolenkers entschieden werden. Wenn die Vorinstanz nämlich
erklärt, es sei nicht bewiesen, dass Zeiler den Richtungszeiger zu früh
hinausgestellt habe und deswegen ein Verschulden nach dieser Richtung
verneint, so geht sie von einer unrichtigen Verteilung der Beweislast aus. Der
grundsätzlich kausal haftende Automobilist hat nicht nur

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zu beweisen, dass er den Richtungszeiger hinausgestellt habe, sondern auch,
dass dieser im kritischen Moment, als der Radfahrer das Auto erblickte und
sich über das einzuschlagende Verhalten schlüssig werden musste, noch
hinausgestellt war. Das Risiko des vorzeitigen Zurückfallens des Zeigers geht
also zu Lasten des Automobilisten. Eine Vermutung für die Rechtzeitigkeit der
erfolgten Signalisierung aufzustellen und gestützt hierauf die Beweislast
umzukehren, wie die Vorinstanz dies getan hat, verstösst gegen das
Grundprinzip der Kausalhaft.
Diesen Teil des ihr obliegenden Entlastungsbeweises hat die Beklagte nicht zu
erbringen vermocht, so dass zu ihren Ungunsten angenommen werden muss, Zeiler
habe nicht vorschriftsgemäss signalisiert.
Kein Verschulden des Zeiler liegt dagegen im Anhalten, als er den Radfahrer
erblickte. Dieses Verhalten entsprach vielmehr genau der Vorschrift des Art.
25 MFG, und wenn es trotzdem zum Zusammenstoss gekommen ist, so lag der Grund
hiefür vor allem in der fehlerhaften Fahrweise des Radfahrers, der wegen
seiner übersetzten Geschwindigkeit von dem ihm gewährten Vortrittsrecht nicht
mehr Gebrauch machen konnte.
Verglichen mit dem Verschulden des Radfahrers erweist sich somit dasjenige des
Automobilisten als geringfügig.
3.- Trifft den Verunfallten ein grobes Verschulden, den Automobilisten dagegen
nur ein leichtes, so ist die Ersatzpflicht der Beklagten zu ermässigen, wobei
nach Art. 37 Abs. 3 MFG die gesamten Umstände, darunter auch die soziale
Stellung und die finanziellen Verhältnisse der Beteiligten, mit in
Berücksichtigung zu ziehen sind (STREBEL, Anm. 160 zu Art. 37 MFG). Danach
darf, insbesondere im Hinblick auf die prekäre Lage der Erstklägerin mit ihren
sechs unmündigen Kindern, die durch den Unfall des Ernährers beraubt worden
sind, der von der Vorinstanz vorgenommene Abzug von 30% trotz der abweichenden
Beurteilung der Verschuldensfrage als ausreichend betrachtet werden. Dies
führt, da die Schadenshöhe als

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solche nicht mehr streitig ist, zur Bestätigung des angefochtenen Urteils.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Hauptberufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 13. Mai 1938 wird bestätigt.