S. 181 / Nr. 39 Prozessrecht (d)

BGE 63 II 181

39. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 18. Mai 1937 i. S. Usego "
Union " Schweiz. Einkaufsgenossenschaft, Olten, und Brandenberger gegen Migros
A.-G. Zürich.


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Regeste:
Das " neue Recht " der solothurnischen ZPO u. die Berufung ans Bundesgericht.
1. Der Entscheid über das Neurechtstegehren als solches ist kein Haupturteil
im Sinne von Art. 58 OG.
2. Berücksichtigung der mit dem Neurechtsbegehren vorgebrachten neuen
Tatsachen u. Beweismittel durch das Bundesgericht.

A. - Das Obergericht des Kantons Solothurn verurteilte die Beklagten durch
Urteil vom 27. Juli 1935 zur Bezahlung eines Betrages von Fr. 12000 an die
Klägerin u. ordnete die Publikation des Urteils in zwei Tagesblättern an.
B. - Gegen dieses Urteil erklärten die Beklagten die Berufung an das
Bundesgericht, wobei sie verschiedene Aktenwidrigkeitsrügen erhoben.
Gleichzeitig reichten die Beklagten beim Obergericht ein Neurechtsbegehren
ein, das in der Folge durch obergerichtliches Urteil vom 24. November 1936
abgewiesen wurde.
Darauf ergriffen die Beklagten auch gegen dieses zweite Urteil die Berufung an
das Bundesgericht.
Aus den Erwägungen:
Es erhebt sich in erster Linie die formellrechtliche Frage, ob die Berufung
gegen das zweite obergerichtliche Urteil zulässig sei.
«Das neue Recht» des solothurnischen Prozessrechtes ist ein Rechtsmittel. Es
findet sich unter dem fünften Hauptstück der Zivilprozessordnung «Von den

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Rechtsmitteln», an zweiter Stelle, nach der Appellation. § 223 bestimmt:
«Gegen ein... rechtskräftiges Urteil kann ein neues Recht verlangt werden, um
vermittelst neuer erheblicher Tatsachen und Beweismittel, in Verbindung mit
den bei den frühern Verhandlungen bereits gebrauchten, eine Abänderung des
Urteils zu bewirken.»
Das Obergericht hat das Neurechtsbegehren der Beklagten einlässlich geprüft.
Es hatte dabei zunächst zu untersuchen, welche neuen oder im ersten Urteil
nicht beachteten Beweismittel grundsätzlich noch berücksichtigt werden
dürften. Dabei war ausschliesslich kantonales Prozessrecht anzuwenden. Ferner
erstreckte sich die Prüfung darauf, ob die neuen Beweismittel, soweit sie
grundsätzlich zugelassen wurden, geeignet seien, am ersten Urteil etwas zu
ändern, ob ihnen also das Erfordernis der Erheblichkeit zukomme. Bei dieser
Prüfung hatte das Gericht die neu angebotenen Beweismittel mit dem Sachverhalt
des frühern Urteils in Beziehung zu bringen und insofern in eine materielle
Prüfung einzutreten.
Dennoch hat aber bei Prüfung der Begründetheit des Neurechtsbegehrens das
Obergericht ausschliesslich als Rechtsmittelinstanz geamtet. Es führt denn
auch als Ergebnis seiner Untersuchung an:
«Das neue Recht kann nicht bewilligt werden», m.a.W. das Neurechtsbegehren sei
abgewiesen. Die Prüfung des Obergerichtes beschränkte sich also nach der
formellen wie nach der materiellen Seite (Frage der Zulässigkeit und der
Erheblichkeit der Beweismittel) auf die Frage der Begründetheit des
Rechtsmittels, und da diese verneint wurde, fand eine Entscheidung in der
Sache selbst nicht statt, sondern der Entscheid ging lediglich auf Abweisung
des Neurechtsbegehrens, indem das Erkenntnis gemäss § 231 der
Zivilprozessordnung dahin gefasst wurde:
«Es sind nicht genugsam neue Grunde ins Recht gebracht worden, um das Urteil
des Obergerichtes vom 27. Juli 1935 zu Gunsten der Neurechtskläger
abzuändern.»

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Dieses Erkenntnis enthält keine Entscheidung in der Sache selbst, sondern
erklärt lediglich das erste Urteil als durch das Neurechtsbegehren nicht
anfechtbar. Nur wenn das Obergericht gefunden hätte, die neuen zulässigen
Beweismittel seien erheblich, hätte es darauf eintreten und in Aufhebung des
ersten Urteils ein völlig anderes oder teilweise abgeändertes Urteil zur Sache
fällen müssen. Mit der Abweisung des Rechtsmittels blieb es beim ersten Urteil
als Haupturteil, d. h. bei einem Urteil, das über den eingeklagten Anspruch
materiell endgültig entschied. In diesem durch Art. 58 OG geforderten Sinne
ist das zweite Urteil kein Haupturteil. Zum Vergleich sind heranzuziehen BGE
28 II 174 ff und 54 II 472, sowie das nicht publizierte Urteil vom 7. Mai 1936
i. S. von Arx gegen Solothurnische Handelsbank, Erw. 1.
Auf Grund dieser Rechtslage kann die Ansicht der Beklagten nicht geteilt
werden, wonach es sich beim Urteil über das Neurechtsbegehren um ein
vollständiges, zweites Urteil in der Sache selbst handeln soll, welches
«parallel neben dem ersten Urteil stehe und mit ihm ein Ganzes bilde».
Ebensowenig steht das zweite Urteil zum ersten in der Beziehung eines
Haupturteils zu einem Vorentscheid, da ja das erste Urteil nicht einzelne
Fragen vorweg entschieden, sondern das ganze Streitverhältnis materiell
erledigt hat.
Die Berufung gegen das zweite Urteil des Obergerichtes ist deshalb als
unzulässig zu erklären, und die Prüfung des Falles hat sich zu beschränken auf
das erste und einzige Haupturteil und die beiden dagegen eingelegten
Berufungen.
Ob damit auch ohne weiteres die Akten des Neurechtsverfahrens der
bundesgerichtlichen Kognition entzogen sind, kann fraglich erscheinen.
Jedenfalls trifft das aber zu inbezug auf die Beweismittel, welche die
Vorinstanz aus prozessualen Gründen, wegen Verspätung, zurückgewiesen hat. Was
die übrigen, im Neurechtsverfahren

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zugelassenen Akten betrifft, so hat sich das Bundesgericht in dem schon
erwähnten Urteil vom 7. Mai 1936 i. S. von Arx gegen Solothurner Handelsbank
auf den Standpunkt gestellt, dass bei Abweisung des Neurechtsgesuches die
damit vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel für das Berufungsverfahren im
Sinne von Art. 80 OG als neu zu betrachten und demgemäss nicht zu
berücksichtigen seien. Ob an dieser Auffassung grundsätzlich festzuhalten oder
ob nicht vielmehr diejenigen Akten, welche die kantonale Instanz im
Neurechtsverfahren zugelassen und auf ihre Erheblichkeit für die materielle
Entscheidung geprüft hat, als Bestandteil des kantonalen Prozesstoffes zu
behandeln wären, kann dahingestellt bleiben. Denn die Vorinstanz ist bei
dieser Prüfung zum Schlusse gekommen, dass die neuen Beweismittel an dem im
ersten Urteil festgestellten Beweisergebnis nichts zu ändern vermögen (was
denn auch zur Abweisung des Neurechtsgesuches geführt hat). Das ist
Beweiswürdigung, die das Bundesgericht bindet und gegen die die Beklagten auch
mit Aktenwidrigkeitsrügen nicht aufkommen können. Damit sind die neuen
Beweismittel, auch wenn ihrer Berücksichtigung Art. 80 OG nicht
entgegenstünde, für das Bundesgericht erledigt.