S. 314 / Nr. 79 Motorfahrzeugverkehr (d)

BGE 62 II 314

79. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. November 1936 i. S.
«LA Préservatrice» gegen Blum.

Regeste:
Höhe des Schadenersatzes: Kürzung des Ersatzanspruches des Verletzten bei
beiderseitigem Verschulden, Art. 37 Abs. 3 MFG.

Aus dem Tatbestand:
Am 28. August 1933 gegen 5 Uhr abends wurde der Kläger, der damals 12 Jahre
alt war, auf der Kantonsstrasse Schötz-Nebikon (Luzern) vom Motorrad des
Beklagten Kron angefahren; er erlitt ausser einigen Schürfungen an Kopf und
Armen eine Verletzung des rechten Knies, die eine viermonatige
Spitalbehandlung nötig machte und eine bleibende Invalidität von 35%
hinterliess.
Der Unfall trug sich unter den folgenden Umständen zu: Der Kläger schritt
hinter dem von seinem älteren Bruder geführten Emdfuder her, um herabfallendes
Emd und Geräte zusammenzulesen und den Lenker auf von hinten kommende Gefahren
aufmerksam zu machen. Kurz bevor das Fuhrwerk nach links in ein
Seitensträsschen

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abzuschwenken hatte, gewahrte der Kläger, dass von hinten ein Lastauto
herannahte. Im Bestreben, seinen Bruder noch vor dem Abschwenken auf die
Gefahr aufmerksam zu machen, wollte er sich rasch nach vorn begeben und trat,
ohne sich vorerst zu vergewissern, ob aus der entgegengesetzten Richtung nicht
etwa ein Fahrzeug herannahe, links hinter dem Emdfuder hervor. Der Beklagte
Kron, der mit seinem Motorrad dem Emdfuder entgegenzufahren kam, war im selben
Augenblick im Begriffe, mit diesem zu kreuzen. Die Fahrbahn, die ihm für die
Durchfahrt zur Verfügung stand, betrug 1,70 m. Ein Signal hatte er unmittelbar
vor dem Kreuzen nicht mehr gegeben, dagegen seine Geschwindigkeit auf 20-25 km
herabgesetzt. Als der Kläger hinter dem Emdfuder hervortrat, befand sich Kron
bereits auf gleicher Höhe mit dem Fuder. Er stoppte sofort, konnte aber die
Kollision nicht mehr vermeiden. Die Bremsspur seines Motorrades betrug ca. 2
m.
Auf Klage des Verunfallten verurteilte das Amtsgericht Willisau die
Haftpflichtversicherungsgesellschaft des Motorradfahrers zum Ersatz von 70%
des Schadens, während die restlichen 30% wegen seines eigenen Verschuldens vom
Kläger selber zu tragen seien. Das Obergericht Luzern setzte den Abzug wegen
Mitverschuldens auf 10-15% herab. Auf die Berufung der
Versicherungsgesellschaft stellt das Bundesgericht das Urteil der ersten
Instanz wieder her.
Aus dem Erwägungen:
2. ­ Da den Kläger offenbar ein Verschulden am Unfall trifft, so frägt es
sich, ob eine gänzliche Befreiung des Motorradfahrers Kron ­ und damit auch
der Versicherungsgesellschaft ­ gemäss Art. 37 Abs. 2 MFG oder nur eine
teilweise Befreiung nach Art. 37 Abs. 3 MFG einzutreten hat. Voraussetzung für
eine gänzliche Befreiung wäre indes, dass Kron von jedem Verschulden frei
wäre. Nun fällt ihm aber ein gewisses Verschulden

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zur Last, weil er es unterliess, unmittelbar vor dem Kreuzen mit dem Fuhrwerk
ein Signal zu geben. Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, musste er damit
rechnen, dass sich hinter dem Fuhrwerk möglicherweise ein Begleiter befinde,
der wegen des Ratterns des Fuhrwerkes das Geräusch des Motorrades nicht hören
könnte. Nicht beigepflichtet werden kann dagegen der Auffassung der
Vorinstanz, dass die Geschwindigkeit Krons von 20-25 km den örtlichen
Verhältnissen nicht genügend angepasst gewesen sei. Da die 1,70 m breite
Fahrbahn, die ihm zur Verfügung stand, völlig übersichtlich und frei war, so
durfte er ohne Bedenken mit seinem verhältnismässig schmalen Fahrzeug mit
einer Geschwindigkeit von nur 20-25 km an dem Emdfuder vorbeifahren. Die
eingehaltene Geschwindigkeit erlaubte ihm auch die vollständige Beherrschung
seines Fahrzeuges, wie der Umstand zeigt, dass er auf die kurze Distanz von 2
m anzuhalten vermochte.
3. ­ Trifft den Motorradfahrer Kron ein Verschulden, so kommt nur noch eine
teilweise Befreiung gemäss Art. 37 Abs. 3 in Frage, deren Umfang der Richter
unter Würdigung der sämtlichen Umstände, insbesondere des Verschuldens beider
Teile, zu bestimmen hat. Hier steht nun dem geringen Verschulden Krons ein
ganz erheblich schwereres Verschulden des Klägers gegenüber, der unter
Ausserachtlassung der elementarsten Vorsicht hinter dem Emdfuder unvermittelt
in die Fahrbahn des Motorrades getreten ist. Zu Unrecht glaubt sein Vertreter
den Standpunkt einnehmen zu können, dass ihm die für die Erkennung der Gefahr
erforderliche Urteilsfähigkeit gefehlt habe, was ein Verschulden überhaupt
ausschliesse. Wenn nämlich der Kläger auch erst 12 Jahre alt war, so war er
doch mit den Gefahren des modernen Strassenverkehrs einigermassen vertraut, da
er, wie den Akten zu entnehmen ist, an einer ziemlich verkehrsreichen
Kantonsstrasse wohnte. Die Schwere seines Verschuldens wird allerdings etwas
gemildert durch seine Jugend sowie durch die

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Umstände, unter deren Einfluss er sich derart unvorsichtig verhielt: Er wollte
seinen Bruder so rasch als möglich auf das Herannahen eines Lastautos
aufmerksam machen, damit nicht etwa durch das nahe bevorstehende Abschwenken
des Fuhrwerkes nach links eine gefährliche Situation entstehe, und im
Bestreben, die eine Gefahr zu verhüten. lief er in die andere hinein. Wenn die
Vorinstanz mit Rücksicht hierauf eine Kürzung des Ersatzanspruches um nur
10-15% als ausreichend erachtet, so beurteilt sie jedoch das Verschulden des
Klägers allzu milde. Es darf immerhin nicht völlig ausser acht gelassen
werden, dass die Verletzung einer derart elementaren Vorsichtspflicht im
allgemeinen ein sehr schweres Verschulden darstellt, das unter den
Voraussetzungen von Art. 37 Abs. 2 MFG die vollständige und nach Abs. 3 eine
weitgehende Aufhebung der Ersatzpflicht nach sich ziehen könnte; im
vorliegenden Fall ist es hauptsächlich die Jugend des Klägers, die sein
Versagen in der gefährlichen Situation als einigermassen entschuldbar
erscheinen lässt. Es rechtfertigt sich daher, eine Herabsetzung um 30%
eintreten zu lassen, wie die erste Instanz dies getan hatte.