S. 97 / Nr. 13 Gleichheit vor dem Gesetz (Rechtsverweigerung) (d)

BGE 61 I 97

13. Urteil vom 4. April 1935 i.S. Bachmann gegen Walliserwein-Kellerei A.-G.

Regeste:
Eine kantonale Bestimmung, wonach der Kläger im Zivilprozess auch bei
Erteilung des Armenrechts die Kosten der Gegenpartei ohne Rücksicht auf seine
Leistungsfähigkeit sicherzustellen hat, verstösst gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV.


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A. - Die Zivilprozessordnung des Kantons Solothurn vom 5. Juli 1891/4.
November 1900 schreibt in § 12 vor:
(Abs. 1:) «Wenn der Kläger nicht in unserem Gebiete wohnt oder während des
Prozesses aus dem Kanton wegzieht, so ist der Beklagte befugt, Sicherheit für
die Prozesskosten zu fordern. Gleiches Recht hat der Beklagte auch gegen jeden
fruchtlos gepfändeten oder in Konkurs geratenen Kläger.»
(Abs. 3:) «Würde die Sicherheit nicht sogleich nach Eröffnung der Klage
gefordert, so kann es später nicht mehr geschehen.»
(Abs. 4:) «Bis sie geleistet ist, kann der Beklagte jede Einlassung
verweigern.»
Im «Gebührentarif» des solothurnischen Regierungsrates vom 25. November/3.
Dezember 1920 sind über das Armenrecht der unbemittelten Zivilprozesspartei
folgende Vorschriften enthalten:
Ǥ 12. Diejenige Prozesspartei, welcher der unentgeltliche Rechtsbeistand
gewährt worden ist, hat die von ihr verursachten Gebühren und Auslagen nicht
zu bezahlen und demzufolge auch keine Vorschüsse zu leisten.
Ausnahmsweise, wenn besondere Umstände es rechtfertigen, kann die Partei bloss
von der Entrichtung der Gebühren entbunden werden.»
«§ 13. Über die Gewährung oder Entziehung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes
entscheidet bis zum Schlusse der Prozesseinleitung der Instruktionsrichter,
nachher das zuständige Gericht. ...»
Ǥ 14. Der unentgeltliche Rechtsbeistand ist zu bewilligen, wenn durch
Ausweise dargetan wird, dass die gesuchstellende Partei vermögenslos ist oder
dass sie mit ihrem Einkommen nicht in der Lage ist, nebst den Bedürfnissen für
sich und Familie die Kosten für einen Prozess aufzubringen, und wenn die
vorläufige Prüfung der Streitsache ergibt, dass nicht grundlos Prozess geführt
wird....»
B. - Heinrich Bachmann reichte beim Richteramt

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Dorneck-Thierstein gegen die Walliserwein-Kellerei A.-G. Klage auf Änderung
des Lastenverzeichnisses in einer Grundpfandverwertung ein. Gleichzeitig
stellte er das Gesuch um Bewilligung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands.
Der Amtsgerichtspräsident erliess auf Ersuchen der Beklagten folgende
Verfügung «1. Die Klagpartei wird aufgefordert, bis 15. August 1934 gemäss §
12 ZPO eine Kostenversicherung für die Beklagtschaft von 700 Fr. und für
Gerichtskosten von 300 Fr... zu leisten, mit der Androhung, dass im
Nichtleistungsfalle die Klage aus dem Recht gewiesen wird. 2. Über die
Erteilung des Armenrechts an die Klagpartei und Fristansetzung zur Einreichung
der Klage wird erst nach Erledigung von Verfügung sub Ziff. 1 verfügt.»
Gegen diese Verfügung beschwerte sich Bachmann beim solothurnischen
Obergericht mit den Anträgen, sie sei aufzuheben und der Instruktionsrichter
anzuweisen, «a) vorerst über die Bewilligung des unentgeltlichen
Rechtsbeistands zu entscheiden, b) im Falle der Bewilligung desselben das
Kostensicherheitsbegehren der Beklagten abzuweisen». Der Rekurrent gab zu,
dass gegen ihn provisorische Verlustscheine bestünden und dass er daher zu den
«fruchtlos gepfändeten Schuldnern» im Sinne von § 12 Abs. 1 Satz 2 ZPO gehöre.
Auch sei ihm bekannt, dass nach der Praxis des solothurnischen Obergerichts
die Bewilligung des unentgeltlichen Rechtsbeistands nicht von der Pflicht zur
Sicherstellung der gegnerischen Prozesskosten befreie, wenn im übrigen die
Voraussetzungen von § 12 ZPO gegeben seien. Diese Praxis und die darauf
gestützte angefochtene Verfügung bedeuteten aber eine bundesrechtswidrige
Rechtsverweigerung. Der unbemittelten Partei werde dadurch, wenn gegen sie
auch nur provisorische Verlustscheine vorhanden seien, der Rechtsweg
kurzerhand abgeschnitten; es werde ihr das rechtliche Gehör verweigert bloss
deswegen, weil sie infolge ihrer Mittellosigkeit nicht in der Lage sei, die
Kosten der Gegenpartei sicherzustellen.

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Das solothurnische Obergericht erkannte: «1. Die Beschwerde ist, soweit sie
sich gegen die Sicherheitsleistung für die Gerichtskosten wendet,
gutgeheissen, im übrigen aber als unbegründet abgewiesen; 2. Von der
Festsetzung einer Gerichtsgebühr ist Umgang zu nehmen.» Die Begründung des
Entscheides verweist in bezug auf die Vorschussleistung für die gegnerischen
Kosten auf die vom Beschwerdeführer selber erwähnte Praxis des Obergerichts,
wonach die Bewilligung des Armenrechts nicht von der Versicherung dieser
Kosten befreit. Die Kritik, die der Beschwerdeführer hieran übe, sei nicht
berechtigt. «Die Vorschrift des § 12» (offenbar Abs. 1 Satz 2) «käme gar nie
mehr zur Anwendung, wenn seine Wirkung bei der Gewährung des Armenrechts
ausgeschaltet würde; denn der zahlungsunfähige Schuldner wird fast ausnahmslos
für die Prozessführung das Armenrecht nachsuchen.» Dagegen sei die Beschwerde,
soweit sie sich gegen die verlangte Gerichtskostenversicherung wende,
gutzuheissen, da der Instruktionsrichter nur die Sicherstellung der Kosten
verlangen könne, die der Kläger allenfalls der Beklagten zahlen müsse.
C. - Mit der vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerde beantragt Bachmann die
Aufhebung des obergerichtlichen Entscheides wegen Verletzung von Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV
(rechtsungleiche Behandlung und Rechtsverweigerung). Zur Begründung wiederholt
er im wesentlichen die Ausführungen seiner kantonalen Beschwerde und verweist
noch besonders auf die bundesgerichtliche Praxis: BGE 57 I S. 343 ff. und 60 I
S. 182 ff. Nach den vom Bundesgericht aufgestellten Grundsätzen müsse die
Pflicht des zahlungsunfähigen Klägers zur Sicherstellung der gegnerischen
Parteikosten weichen, sobald bei ihm die Voraussetzungen für die Bewilligung
des Armenrechts erfüllt seien. Das Obergericht hätte daher seinen Entscheid
über die streitige Verfügung nicht treffen dürfen, bevor das Armenrechtsgesuch
des Rekurrenten materiell behandelt war.
D. - Das solothurnische Obergericht und die

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Rekursbeklagte Walliserwein-Kellerei A.-G. beantragen die Abweisung der
Beschwerde. Aus der Vernehmlassung des Obergerichts ist hervorzuheben: Die
Gegenpartei eines zahlungsunfähigen Klägers habe einen Anspruch auf
Sicherstellung. «Es könnte z. B. sonst ein zahlungsunfähiger Kläger auf ein
absolut vermeintliches Recht klagen und zwar schon von vornherein mit der
Absicht, der Beklagtschaft Schaden zuzufügen, und mit der Berechnung, dass von
ihm sowieso nichts zu holen sei. Solchem Unfug vorzubeugen besteht die
berechtigte Vorschrift des § 12 ZPO.»
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
Nach feststehender Rechtsprechung des Bundesgerichts ergibt sich schon aus
Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV, dem hier jedem Bürger gewährleisteten staatlichen Rechtsschutz,
dass der Richter sein Tätigwerden nicht von der vorhergehenden Erlegung der
Prozesskosten abhängig machen darf, wenn diese Kosten von der Partei, die
einen begründeten oder doch wenigstens nicht aussichtslosen privatrechtlichen
Anspruch verfolgen will, wegen nachgewiesener Armut nicht aufgebracht werden
können (BGE 57 I S. 343 ff; 58 I S. 288 ff; 60 I S. 182 ff.). Das gilt für die
richterlichen Gebühren und Auslagen (BGE 57 I 343: Kosten des
Beweisverfahrens; 58 I 288: Gerichtskosten; 60 I 182: erstinstanzliche
Gerichtskosten bei Anrufung der Appellationsinstanz), nicht weniger aber für
die der Gegenpartei daneben entstehenden (aussergerichtlichen) Prozesskosten;
denn die Erwägungen, die zur Ausbildung der genannten bundesgerichtlichen
Praxis geführt haben, treffen für beide Fälle gleich zu (so umfasste im
Entscheide Bd. 58 I 288 die aufgehobene Kautionsauflage nach § 59 zürch. ZPO
ausser den Gerichtskosten auch die allfällige «Prozessentschädigung» an die
Gegenpartei). Ein Kläger, dem trotz seiner Mittellosigkeit die Sicherstellung
der gegnerischen Parteikosten auferlegt wird, verliert hiedurch genau so wie
bei Auflage einer

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Gerichtskostensicherheit den ihm zustehenden Rechtsschutz und wird damit in
verfassungswidriger Weise schlechter gestellt als der Begüterte. Offenbar um
diese Folge zu vermeiden, sehen denn auch eine Reihe kantonaler
Prozessordnungen die Befreiung des Armenrechtsklägers von jeder
Vorschussleistung, betreffe sie Gerichtskosten oder Parteikosten, ausdrücklich
vor (s. § 82 zürch. ZPO, Art. 81
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 81 Grundsätze - 1 Die streitverkündende Partei kann ihre Ansprüche, die sie im Falle des Unterliegens gegen die streitberufene Person zu haben glaubt, beim Gericht, das mit der Hauptklage befasst ist, geltend machen.
1    Die streitverkündende Partei kann ihre Ansprüche, die sie im Falle des Unterliegens gegen die streitberufene Person zu haben glaubt, beim Gericht, das mit der Hauptklage befasst ist, geltend machen.
2    Die streitberufene Person kann keine weitere Streitverkündungsklage erheben.
3    Im vereinfachten und im summarischen Verfahren ist die Streitverkündungsklage unzulässig.
bern. ZPO, § 174 baselst. ZPO, Art. 104
SR 272 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO) - Gerichtsstandsgesetz
ZPO Art. 104 Entscheid über die Prozesskosten - 1 Das Gericht entscheidet über die Prozesskosten in der Regel im Endentscheid.
1    Das Gericht entscheidet über die Prozesskosten in der Regel im Endentscheid.
2    Bei einem Zwischenentscheid (Art. 237) können die bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen Prozesskosten verteilt werden.
3    Über die Prozesskosten vorsorglicher Massnahmen kann zusammen mit der Hauptsache entschieden werden.
4    In einem Rückweisungsentscheid kann die obere Instanz die Verteilung der Prozesskosten des Rechtsmittelverfahrens der Vorinstanz überlassen.
st.
gall. ZPO; ebenso das deutsche Zivilprozessrecht: ROSENBERG, Lehrbuch, 3.
Aufl. § 82 III 1 b und § 81 I 2 a b). Wenn demgegenüber § 12 Abs. 1 Satz 2 der
soloth. ZPO gemäss der obergerichtlichen Auslegung unabhängig von einer
allfälligen Erteilung des Armenrechts gelten soll, so liegt hierin nach dem
Gesagten ein Verstoss gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV; zulässig wäre vor dieser
Verfassungsbestimmung die Anwendung von § 12 Abs. 1 Satz 2 auf einen armen
Kläger nur dann, wenn nach dessen finanzieller Lage ihm zwar nicht die
Sicherstellung der gesamten Prozesskosten, wohl aber wenigstens die Leistung
eines Vorschusses für die gegnerischen Parteikosten zugemutet werden könnte
(BGE 57 I S. 349; 60 I S. 186/87; ROSENBERG, 1. c. § 82 II 1). Die Befürchtung
des Obergerichts, dass bei Ausdehnung des Armenrechts auf die
Parteikostenversicherung der missbräuchlichen Prozessführung durch
unbemittelte Kläger Vorschub geleistet würde, ist unbegründet, da der Anspruch
auf Befreiung von der Vorschusspflicht nur für Klagen gilt, die nicht als
aussichtslos erscheinen (vgl. die erwähnten bundesgerichtlichen Urteile und
ähnlich § 14 des solothurnischen Gebührentarifs). Aus dem gleichen Grunde ist
es übrigens von vornherein unzutreffend, dass bei der fraglichen Ausdehnung
des Armenrechts die Bestimmung von § 12 Abs. 1 Satz 2 ZPO bedeutungslos würde;
sie wird auf jeden Fall dann nach wie vor angerufen werden können, wenn ein
zahlungsunfähiger Kläger einen aussichtslosen Prozess durchführen will.
Da die angefochtene Entscheidung den § 12 Abs. 1

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Satz 2 in dem als verfassungswidrig erkannten weiten Sinne anwendet, ist sie
im streitigen Umfang aufzuheben, und es sind die kantonalen Behörden
anzuweisen, vor der Beschlussfassung über die verlangte Parteikostensicherung
das Armenrechtsgesuch des Rekurrenten materiell zu behandeln (s. BGE vom 25.
Januar 1935 i. S. Dresel).
Demnach erkennt das Bundesgericht: Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen
gutgeheissen.