S. 407 / Nr. 62 Bundesstrafrecht (d)
BGE 61 I 407
62. Urteil des Kassationshofes vom 18. November 1935 i. S. Zumbach gegen Bern,
Staatsanwaltschaft.
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Regeste:
Gefährdung des Eisenbahnverkehrs (revidierter Art. 67 BStrR).
Bei einer Strassenbahn, deren Geleise über öffentliche Verkehrstrassen führen,
soll die Fahrgeschwindigkeit soweit ermässigt werden, dass der Wagen auf
Sichtweite zum Stehen gebracht werden kann.
Am 11. Oktober 1933, kurz nach 19 Uhr, bei Nacht und Regenwetter, fuhr ein
Tramwagen der Städtischen Strassenbahnen Biel an der Dufourstrasse ein mit
einigen Personen besetztes Break (Bockwägeli), das sich auf der rechten
Strassenseite in der gleichen Richtung bewegte, von hinten an. Beide Fahrzeuge
wurden beschädigt und mehrere Personen verletzt.
Der vom Gerichtspräsidenten I von Biel freigesprochene Tramführer Zumbach
wurde von der I. Strafkammer des Obergerichts gleich dem Führer des Breaks
wegen fahrlässiger Gefährdung der Sicherheit des Strassenbahnverkehrs in
Anwendung des revidierten Art. 67 des Bundesstrafrechts mit 30 Fr. gebüsst.
Mit der vorliegenden Nichtigkeitsbeschwerde verlangt er Aufhebung des gegen
ihn ergangenen Urteils und Freispruch, eventuell Rückweisung der Sache an das
Obergericht zu neuer Beurteilung.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Dass die Sicherheit des Strassenbahnverkehrs durch den Zusammenstoss erheblich
gefährdet worden ist, steht ausser Zweifel. Es fragt sich nur, ob dem
Nichtigkeitskläger ein fahrlässiges Verhalten zur Last falle. Nach den
Feststellungen der Vorinstanz war die Sicht - namentlich auch wegen des
Fehlens eines Scheibenwischers an der mit Regentropfen behafteten Scheibe des
Führerstandes - so schlecht, dass Zumbach das Fuhrwerk erst auf 3 bis 4 Meter
erblicken konnte. Auf diese Strecke anzuhalten, war ihm bei dem (an und für
sich erlaubten) Fahrtempo von 18 km/Stunde unmöglich. Die Vorinstanz sieht
aber ein Verschulden des Tramführers eben darin, dass er den schlechten
Sichtverhältnissen nicht durch entsprechendes Verlangsamen der Fahrt Rechnung
getragen hat, um sich instand zu setzen, beim Auftauchen eines Hindernisses
den Tramwagen innerhalb der übersehbaren Strecke zu stellen.
Dieser Auffassung ist beizupflichten. Freilich wird die Anwendung solcher
Vorsicht mitunter beträchtliche Verzögerungen und damit Störungen des
Betriebes mit sich bringen. Allein die Sorge für die Sicherheit des
Bahnverkehrs verdient den Vorrang vor der Sorge für die Einhaltung des
Fahrplans. Ist das Wetter so unsichtig, dass bei normalem Fahrtempo den
Gefahren, mit denen zu rechnen ist, nicht begegnet werden könnte, so liegt es
daher dem Tramführer ob, die Geschwindigkeit entsprechend herabzusetzen, wobei
ihm natürlich wegen der dadurch bedingten Betriebsstörung kein Vorwurf gemacht
werden darf. Die Wahrung der Betriebssicherheit liegt ja vornehmlich im
Interesse der Strassenbahnunternehmung selbst und ihrer Fahrgäste, deren
Schutz gerade auch die angewendete Strafbestimmung Nachachtung verschaffen
will. Nun ist im Betrieb einer Strassenbahn, deren Geleise über öffentliche
Verkehrstrassen führen, im Unterschied zu andern Bahnen, deren Fahrbahn dem
allgemeinen Verkehr nicht offen steht, immer mit Hindernissen zu rechnen.
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Daran ändert auch das einer Strassenbahn eingeräumte Vortrittsrecht nichts,
das wohl gewisse Pflichten anderer Strassenbenützer gegenüber der Strassenbahn
begründet, aber nicht ausschliesst, dass deren Fahrbahn bisweilen, erlaubter-
oder unerlaubterweise, gesperrt ist. Um solchenfalls die Gefahr eines
Zusammenstosses verhüten zu können, ist es in der Tat geboten, die
Fahrgeschwindigkeit des Tramwagens soweit zu ermässigen, dass der Wagen auf
Sichtweite zum Stehen gebracht werden kann. Dieser Pflicht ist hier nicht
genügt worden; den Nichtigkeitskläger trifft daher an der Verkehrsgefährdung
ein, wenn auch nicht schweres, so doch rechtserhebliches Verschulden.
Demnach erkennt der Kassationshof: Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.