S. 218 / Nr. 31 Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr (d)

BGE 61 I 218

31. Urteil des Kassationshofs vom 15. Juli 1935 i. S. Schnell gegen
Statthalteramt Sursee.


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Regeste:
Art. 25 MFG: Schreibt nicht vor, dass die Geschwindigkeit vor jeder Kurve
herabgesetzt werden muss; sie muss nur den Sichtverhältnissen angepasst sein.
Art. 26 MFG: Ausweichen nach links ist dann nicht unerlaubt, wenn es nur zur
Vermeidung oder Abschwächung eines Zusammenstosses erfolgt.

A. - Karl Schnell stiess am Nachmittag des 22. Juli 1934 mit seinem Auto auf
der Strasse von Neuenkirch nach Nottwil (Luzern) mit dem aus der
entgegengesetzten Richtung kommenden Motorradfahrer Schmidlin zusammen, wobei
beide Fahrer verletzt und beide Fahrzeuge beschädigt wurden.
Schnell, der an seinem Wagen die Nummernschilder eines andern Wagens hatte,
wurde deswegen, sowie wegen Übertretung der Art. 25 und 26 MFG, und wegen
fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Sachbeschädigung vom
Amtsgericht Sursee mit Urteil vom 14. März 1935 zu insgesamt 50 Fr. Busse
verurteilt. Schmidlin wurde in gleicher Höhe gebüsst.
Über den Unfallhergang enthält das Urteil des Amtsgerichtes Sursee die
folgende Schilderung: «... Die Strasse ist an der Unfallstelle 6,3 m breit und
beschreibt in Richtung Nottwil-Neuenkirch eine Rechtskurve. In der Kurve
stationierte am rechten Strassenrand ein Auto (Limousine) oder ein Breack.
Schmidlin kam mit seinem Motorrad von Nottwil; er hätte daher die Rechtskurve
kurz nehmen müssen. Da er das parkierte Fahrzeug überholen musste, begab er
sich auf die linke Hälfte der Fahrbahn und wurde infolge der ziemlich grossen
Geschwindigkeit noch mehr nach links abgetrieben. Er tendierte wieder auf die
rechte Strassenhälfte zurück. Von der entgegengesetzten Richtung
(Neuenkirch-Nottwil) kam in diesem Moment der Beklagte Schnell mit einem
niedrigen offenen Sportwagen. Er hatte kurz vorher ein mit 70km/St fahrendes
Auto

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überholt. Er sah nun, dass der ihm entgegenfahrende Schmidlin das parkierte
Fahrzeug überholt hatte und daher in seine Fahrbahn geraten war. Er lenkte das
Fahrzeug nach links, bremste, kollidierte mit dem Motorrad des Schmidlin und
wurde am linken Strassenrand an einen Wehrstein geschleudert, der durch den
Anprall umgestürzt wurde...»
Die Verurteilung Schnells wegen Verletzung der Art. 25 und 26 MFG wird in
folgender Weise begründet: «... Wenn auch nicht genau feststeht, wie lange vor
der Kollision Schnell einem andern Wagen vorgefahren war, so ist doch
eindeutig nachgewiesen, dass er mit sehr grosser Geschwindigkeit auf die Kurve
losfuhr und vorschriftswidrig nach links auswich, als er seine rechte Fahrbahn
besetzt sah. Dies und der Umstand, dass sein Fahrzeug mit solcher Wucht an
einen Wehrstein am linken Strassenrand anprallte, dass der massive Wehrstein
umgeworfen wurde, weist deutlich darauf hin, dass seine Fahrweise unbeherrscht
und den gegebenen Verhältnissen nicht angepasst war ...»
B. - Gegen das Urteil des Amtsgerichtes hat Schnell, soweit ihm darin eine
Übertretung von Art. 25 und 26 MFG zur Last gelegt wird, die
Kassationsbeschwerde ans Bundesgericht ergriffen. Er beantragt, er sei in
Aufhebung des amtsgerichtlichen Urteils von dieser Übertretung freizusprechen
und es sei demgemäss die ausgesprochene Strafe auf dasjenige Mass
herabzusetzen, welches der Unterlassung der Nummernschilderumschreibung
entspreche.
Zur Begründung führt er aus, es sei durch nichts erwiesen und eine
aktenwidrige Annahme, dass er mit sehr grosser Geschwindigkeit auf die Kurve
zugefahren sei. Aktenwidrig sei auch die Behauptung, er habe kurz vor dem
Zusammenstoss ein mit ca. 70km/St fahrendes Auto überholt. Nach der Aussage
des von ihm überholten Automobilisten Knopf habe die Überholung etwa 500 m
vorher stattgefunden, wie denn auch im Urteil zugegeben werde, es stehe nicht
genau fest, wie lange vor dem

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Zusammenstoss er dem andern Wagen vorgefahren sei. Dass er im allerletzten
Moment seinen Wagen nach links gerissen habe, um die schwere Kollision
womöglich doch noch zu vermeiden, könne ihm nicht zum Verschulden angerechnet
werden, da diese Massnahme zur Verhütung noch grösseren Unheils geboten
gewesen sei.
C. - Das Statthalteramt hat keine Vernehmlassung eingereicht.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- Die tatsächliche Feststellung des angefochtenen Urteils, dass der
Kassationskläger mit sehr grosser Geschwindigkeit auf die Kurve losgefahren
sei, ist entgegen den Ausführungen in der Beschwerdeschrift nicht aktenwidrig;
denn der Annahme sehr grosser Geschwindigkeit im massgebenden Zeitpunkt
widerspricht es nicht, das der Kassationskläger den Wagen des Zeugen Knopf
etwa 500 m vor der Unfallstelle überholt hat. Wenn ihm der Wagen des Zeugen
Knopf so kurz vor dem Zusammenstoss bei 70 km Geschwindigkeit zu langsam fuhr,
so dass er ihn überholte, so darf angenommen werden, dass er auch 500 m weiter
noch mit grosser Schnelligkeit gefahren sei. Jedenfalls könnte diese
Schlussfolgerung nur dann als aktenwidrig betrachtet werden, wenn sie mit
einem bestimmten Aktenstück im Widerspruch stünde, was nicht der Fall ist; das
Protokoll über die Aussage des Zeugen Knopf widerspricht der Schlussfolgerung
des Gerichtes nicht, sondern unterstützt sie.
2.- Wenn nun aber die Vorinstanz aus der Geschwindigkeit von über 70 km, mit
der der Kassationskläger auf die Kurve zufuhr, ohne weiteres den Rechtsschluss
auf eine Übertretung des Art. 25 MFG zieht, so kann ihr nicht beigepflichtet
werden. Auch vor einer Kurve kann eine solche Geschwindigkeit noch den
Strassen- und Verkehrsverhältnissen angepasst sein, und dann ist sie erlaubt.
Ganz allgemein den Grundsatz aufzustellen, der Fahrzeuglenker müsse vor jeder
Kurve langsam fahren, wäre mit

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der gesetzlichen Regelung in Art. 25 MFG unvereinbar. Ist z. B. eine Kurve
übersichtlich und die Beschaffenheit der Strasse derart, dass der Wagen nicht
Gefahr läuft, auch bei grosser Geschwindigkeit aus seiner Fahrbahn
herauszukommen, so besteht für den Führer kein Anlass, seine Fahrt zu
verlangsamen. Unerlaubt wird eine solche Geschwindigkeit erst, wenn die Kurve
als Hindernis wirkt und zu einer besondern Gefahrenquelle wird, z. B. wenn sie
dem Führer die Sicht nimmt; dann hat der Führer gemäss dem allgemeinen
Grundsatz seine Geschwindigkeit so zu vermindern, dass er beim Auftauchen
eines Hindernisses am Ende der Strecke, die er zu überblicken vermag, noch
anhalten kann.
3.- Wie es sich mit den Sichtverhältnissen im vorliegenden Fall verhielt, geht
weder aus dem angefochtenen Entscheid, noch aus den Akten mit genügender
Deutlichkeit hervor, wie überhaupt die Tatbestandsfeststellung mangelhaft ist:
Die im Urteil enthaltene Darstellung des Unfallhergangs erweckt den Eindruck,
der Unfall habe sich in der Kurve selbst zugetragen; aus der Planskizze aber
ist zu schliessen, dass er gegen 20 m vor Beginn der Kurve, in der
Fahrrichtung des Kassationsklägers gesprochen, erfolgte. Ferner ist weder aus
dem Entscheid noch aus der Planskizze der genaue Standort des am Strassenrand
aufgestellten Fahrzeuges (Auto oder Break) ersichtlich, während doch dieser
Umstand von erheblicher Bedeutung ist. Was schliesslich die ausschlaggebende
Frage der Übersichtlichkeit der Kurve anbelangt, so wird diese bald als
übersichtlich, bald als unübersichtlich bezeichnet: der Zeuge Knopf spricht zu
Beginn seiner Aussage von einer «unübersichtlichen Linkskurve»; im weiteren
Verlauf erklärt er dann aber, die Kurve sei für den Autofahrer übersichtlich,
für den Motorradfahrer unübersichtlich gewesen; im Antrag des Statthalteramtes
ist von einer «ziemlich unübersichtlichen Kurve» die Rede, und der
angefochtene Entscheid schweigt sich über die Frage völlig aus.

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Hatte der Kassationskläger trotz der Kurve eine ausreichende Sicht, so bestand
für ihn selbst dann keine Verpflichtung, seine Fahrt zu verlangsamen, wenn er
von der andern Seite den Motorradfahrer herannahen sah; denn er durfte
annehmen, dass dieser ihn ebenfalls sehe und deshalb nicht versuchen werde,
noch um das in seiner Fahrbahn aufgestellte Fuhrwerk herumzufahren, wozu er
die Fahrbahn des Kassationsklägers in Anspruch nehmen musste. Ein solches
Verhalten des Motorradfahrers wäre verkehrswidrig gewesen, und damit hätte der
Kassationskläger nicht rechnen müssen, da er hätte annehmen dürfen, der
entgegenkommende Motorradfahrer werde den geltenden Verkehrsvorschriften
entsprechend fahren. War hingegen die Kurve für den Kassationskläger
unübersichtlich, so erscheint die Angelegenheit in einem wesentlich andern
Licht: Dann musste der Kassationskläger damit rechnen, dass von der andern
Seite ein Fahrzeug kommen könnte, das beim Umfahren des dort aufgestellten
Fuhrwerkes oder Autos in seine Fahrbahn gerate, und dann war er verpflichtet,
seine Fahrgeschwindigkeit entsprechend herabzusetzen. Der Kassationskläger
könnte sich nicht etwa darauf berufen, dass das bei oder in der Kurve
stationierte Fahrzeug links der Strasse gestanden habe und dass seine Fahrbahn
also frei gewesen sei. Nicht das Fahrzeug als solches wäre das Hindernis, das
ihn dann zu erhöhter Vorsicht hätte veranlassen müssen, sondern die gesamte,
durch die Kurve in Verbindung mit der Aufstellung des Fahrzeuges geschaffene
Situation.
Da ohne Abklärung der Frage der Sichtverhältnisse nicht nachgeprüft werden
kann, ob die Vorinstanz Art. 25 MFG richtig angewendet hat, ist der Entscheid
aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zur Ergänzung des Tatbestandes und
neuen Entscheidung zurückzuweisen (Art. 277 BStP).
4.- Selbst wenn die Geschwindigkeit des Kassationsklägers mangels genügender
Sicht übersetzt war und deshalb gegen Art. 25 MFG verstiess, so lässt sich
doch auf keinen Fall die von der Vorinstanz weiter angenommene

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Übertretung des Art. 26 MFG aufrechterhalten. Die Vorinstanz begründet ihren
Entscheid in diesem Punkte damit, dass der Kassationskläger in
vorschriftswidriger Weise nach links ausgewichen sei. Wie der Kassationskläger
jedoch mit Recht bemerkt, gilt das Gebot des Art. 26 MFG, nach rechts
auszuweichen, nicht ausnahmslos. In zwingenden Fällen, insbesondere, um einen
Zusammenstoss zu vermeiden oder abzuschwächen, darf davon abgewichen werden
(vgl. BGE 38 II 487 f.). Der Kassationskläger hat im Strafverfahren behauptet,
aus diesem Grunde nach links ausgewichen zu sein und die Zeugen Knopf und
Gilbert bestätigen diese Darstellung. Im Urteil fehlen darüber Feststellungen,
so dass die Annahme, der Kassationskläger sei «vorschriftswidrig» nach links
ausgewichen, jedenfalls als nicht genügend begründet erscheint. Von der
Anklage der Übertretung des Art. 26 MFG ist der Kassationskläger daher unter
allen Umständen freizusprechen.
Demnach erkennt der Kassationshof: Die Kassationsbeschwerde wird im Sinne der
Erwägungen gutgeheissen.