S. 423 / Nr. 64 Prozessrecht (d)

BGE 57 II 423

64. Urteil der I. Zivilabteilung vom 8. September 1931 i. S. S. gegen C.


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Regeste:
Eine in Abweichung von der Vorschrift des Art. 67 Abs. 1 OG direkt beim
Bundesgericht eingereichte Berufungserklärung ist rechtsunwirksam.

A. - Unter teilweiser Gutheissung der von C. gegen S. gerichteten Klage hat
das Handelsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 5. Mai 1931 - den
Parteien zugestellt am 11. Juni 1931 - erkannt, «dass die vom Beklagten der
Klägerin im Conto ordinario belasteten Beträge von zusammen 80801 Fr., nebst
den für diese Beträge berechneten Zinsen, Kommissionen und Spesen zu
stornieren sind».
B. - Hiegegen hat die Vertreterin des Beklagten am 1. Juli 1931 die Berufung
an das Bundesgericht eingelegt, mit dem Begehren um Abweisung der Klage;
eventuell seien die Akten zur Vervollständigung und neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Die Berufungserklärung wurde von der Vertreterin
des Beklagten direkt dem Bundesgericht zugestellt, wo sie am 2. Juli 1931,
vormittags, einlangte. Sofort nach Eingang machte die Kanzlei des
Bundesgerichtes die Absenderin telephonisch darauf aufmerksam, dass die
Berufungserklärung gemäss Art. 67 Abs. 1 OG beim Handelsgericht des Kantons
Zürich hätte eingereicht werden sollen, auf welche Mitteilung hin noch
gleichen Tages die Einreichung bei dieser Instanz erfolgte.

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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. - Gemäss Art. 65 OG ist die Berufung binnen 20 Tagen von der schriftlichen
Mitteilung des Urteils an (Art. 63 Ziff. 4) gerechnet zu erklären. Diese Frist
ist im vorliegenden Falle, da die Zustellung an die Parteien am 11. Juni 1931
erfolgte, am 1. Juli 1931 abgelaufen. Die erst am 2. Juli beim Handelsgericht
des Kantons Zürich eingereichte Berufung ist daher verspätet. Dagegen ist die
von der Vertreterin des Beklagten dem Bundesgericht direkt zugestellte
Berufung an sich rechtzeitig anhängig gemacht worden. Dieser Erklärung kommt
jedoch keine Rechtswirksamkeit zu, weil nach Art. 67 Abs. 1 OG die Berufung
«durch Einreichung einer schriftlichen Erklärung bei dem Gerichte, welches das
Urteil erlassen», zu erfolgen hat. Das Bundesgericht ist daher in ständiger
Rechtsprechung auf derartige, direkt bei ihm eingereichte Berufungen nicht
eingetreten (vgl. statt vieler BGE 23 S. 612/13; 44 III S. 13; 51 II S. 346;
FAVEY, Les conditions du recours de droit civil au Tribunal fédéral, S. 8;
WEISS, Die Berufung an das Bundesgericht in Zivilsachen, S. 100). Die
Vertreterin des Beklagten glaubt nun aber, gestützt auf ein ihr von Prof.
Fritzsche in Zürich erstattetes Rechtsgutachten diese Praxis als irrtümlich
anfechten zu können, mit der Begründung, dass die Bestimmung des Art. 67 Abs.
1 OG eine blosse Ordnungsvorschrift darstelle. Dieser Auffassung kann nicht
beigetreten werden. Jedes Prozessverfahren ist an ganz bestimmte Formen
geknüpft, die im Interesse eines geordneten Rechtsganges strikte eingehalten
werden müssen. Das kann aber wirksam nur dann erreicht werden, wenn den
bezüglichen Vorschriften ein zwingender Charakter beigemessen wird, d. h.,
wenn den in Abweichung hievon getroffenen Vorkehren jede Rechtswirkung versagt
wird. Nun ist allerdings richtig, dass die Praxis bei Bestimmungen völlig
untergeordneter Natur Ausnahmen von diesem Grundsatze anerkennt und zulässt,
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gewisse Mängel nachgeholt, bezw. richtiggestellt werden. Allein hievon kann
bei den Vorschriften, die das Gefüge des gesamten Verfahrens bilden, nicht die
Rede sein. Zu diesen sind aber zweifellos in erster Linie diejenigen
Bestimmungen zu zählen, die die Zuständigkeit der einzelnen Instanzen regeln.
Wenn daher das Organisationsgesetz in Art. 67 Abs. 1 das Gericht, welches das
betreffende Urteil erlassen hat, als die zur Entgegennahme der
Berufungserklärung zuständige Instanz bezeichnet, so ist es nicht angängig,
dass eine Partei ihre Berufung direkt bei der Berufungsinstanz einlegt, zumal
nicht, da das betreffende kantonale Gericht auf Grund und im Anschluss an
diese Eingabe von sich aus verschiedene Vorkehren zu treffen hat (Art. 68 OG:
Bekanntgabe der Berufung an die Gegenpartei; Übersendung einer
Urteilsabschrift samt den Akten an das Bundesgericht). Würde auch eine bei der
Berufungsinstanz direkt eingereichte Berufung, trotz mangels einer
ausdrücklichen bezüglichen Vorschrift, als rechtsgültig anerkannt, so wäre die
betreffende kantonale Instanz nicht in der Lage, unmittelbar nach Ablauf der
Berufungsfrist der bei ihr obsiegenden Partei (worauf diese einen Anspruch
besitzt) die für die Vollstreckbarkeit des betreffenden Urteils notwendige
Rechtskraftbescheinigung auszustellen, da sie gewärtigen müsste, dass die
Berufung allenfalls beim Bundesgericht anhängig gemacht worden ist. Es trifft
daher nicht zu, dass ein derartiges Versehen ohne jede praktische Bedeutung
sei. Nun ist zwar richtig, dass bei der anlässlich des Erlasses des
eidgenössischen Verwaltungs- und Disziplinarrechtspflegegesetzes erfolgten
Teilrevision des Organisationsgesetzes in Art. 194 Abs. 3 mit Bezug auf die
Staatsrechtspflege die Vorschrift aufgestellt wurde, dass, soweit eine dem
Bundesgericht eingereichte Beschwerde in die Zuständigkeit des Bundesrates
fällt oder umgekehrt, sie von Amtes wegen an die zuständige Bundesbehörde
abzugeben sei und dass, wenn in diesem Falle die Beschwerde bei der
unzuständigen Behörde rechtzeitig

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eingereicht worden sei, die Beschwerdefrist als eingehalten gelte. Allein
daraus kann nicht hergeleitet werden, dass dasselbe auch für die Einreichung
der Berufung gelte. Die Einführung der Vorschrift des Art. 194 Abs. 3 OG
erfolgte im Hinblick auf die Schwierigkeiten, die die Abgrenzung der
Zuständigkeit des Bundesrates einerseits und des Bundesgerichtes andererseits
zur Beurteilung staats- bezw. verwaltungsrechtlicher Beschwerden oft bieten,
ein Motiv, das für die Einreichung der Berufung nicht in Frage kommt. Hätte
der Gesetzgeber die bisherige Praxis des Bundesgerichtes bezüglich Art. 67
Abs. 1 OG verpönt, so wäre nicht verständlich, warum er den in Art. 194 Abs. 3
OG neu aufgestellten Grundsatz nicht ganz allgemein ausgesprochen hat. Solange
dieser aber nicht ausdrücklich im Gesetz zum allgemeinen Prinzip erhoben ist
(über dessen Wünschbarkeit hier nicht zu entscheiden ist), muss an der
bisherigen Praxis festgehalten werden.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Auf die Berufung wird nicht eingetreten.