S. 96 / Nr. 16 Obligationenrecht (d)

BGE 56 II 96

16. Urteil der I. Zivilabteilung vom 4. März 1930 i S. Ziegler gegen
Schweizerische Genossenschaftsbank und Dr. X Litisdenunziat.

Regeste:
Irrtum des Bürgen darüber, dass an den für die Schuld verpfändeten Waren
Retentionsrechte Dritter haften: Unwesentlichkeit des Irrtums. wenn der
Sachverhalt, aus Indizien

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zu schliessen, für den Bürgen, unwesentlich war und wenn er damit rechnen
musste, dass Retentionsrechte noch entstehen konnten. OR Art. 24 Ziff. 4.
Vertretung des Bürgen beim Vertragsschluss durch den Anwalt, des Schuldners:
Die Kenntnis des wahren Sachverhaltes durch den Vertreter muss der Bürge gegen
sich gelten lassen.

A. - Albert Moser in St. Gallen strebte im Jahre 1926 einen Nachlassvertrag
an. Bei den erforderlichen Unterhandlungen liess er sich durch Dr. X.,
Advokat, vertreten und verbeiständen. Für das Zustandekommen des
Nachlassvertrages bedurfte er erheblicher Mittel. Laut Kreditvertrag vom 7.
Oktober 1926 gewährte ihm die Beklagte ein Darlehen von 75000 Fr. gegen
Sicherstellung und Übergabe von 10000 Fr. Anteilscheinen der Schweizerischen
Genossenschaftsbank und gegen Solidarbürgschaft seines Bruders und des
Klägers. Die Bürgschaftsurkunde trägt das Datum des 8. Oktober 1926. Sie soll
von Adolf Moser am 7. Oktober in Gossau und vom Kläger am 8. Oktober in St.
Gallen, auf dem Bureau des Litisdenunziaten, unterzeichnet worden sein. Sie
wurde aber, wie auch der Kreditvertrag, der Beklagten nicht sofort
ausgehändigt, sondern von Dr. X. einstweilen zurückbehalten. Am 1. Dezember
1926 schrieb dieser der Beklagten:
«Wie mir Herr Albert Moser mitteilt, kann nunmehr die Auslösung der Gläubiger
in die Wege geleitet werden. 13m nun den Bürgschaftskonto von 75000 Fr. zu
bereinigen und Ihnen den Bürgschein zustellen zu können, möchte ich Sie
ersuchen, die besprochene Sicherstellung durch Pfänder mit Herrn Moser zu
ordnen und mir unter Angabe der Sicherheiten den Vollzug zu berichten, damit
ich dann mit Zustimmung der Bürgen den Bürgschein übermitteln und über das
Geld disponieren kann.»
Am 2. Dezember übermittelte Dr. X. den Kreditvertrag und die
Bürgschaftsurkunde der Beklagten mit folgendem Begleitschreiben:
«Ihrem Wunsche gemäss übermittle ich Ihnen anmit den von Albert Moser
unterzeichneten Kreditvertrag über

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75000 Fr. und die Solidarbürgschaft- und Selbstzahlerschaftverpflichtung der
Herren Adolf Moser und Adolf Ziegler. Die Rechtswirksamkeit der Unterschrift
der Bürgen ist. wie seinerzeit besprochen, davon abhängig, dass der Kredit
Albert Mosers durch Realsicherheiten so gedeckt werde, wie das in Aussicht
genommen worden ist. Bevor daher auf Grund der Bürgenunterschriften die
Auszahlung erfolgen kann, sollte ich von Ihnen noch das bereinigte Verzeichnis
dieser Sicherheiten erhalten. Ich werde alsdann die Bürgen davon in Kenntnis
setzen, dass die Voraussetzung zur Kreditaufnahme auf Grund des Bürgscheines
nunmehr erfüllt sei und Ihnen das dann bestätigen.»
Am 3. Dezember 1926 antwortete die Bank an Dr. X., der Bürgschaftsvertrag sei
rechtsmässig, d. h. ohne einen Vorbehalt des Bürgen unterzeichnet worden. Als
Mehrsicherheiten habe ihr der Schuldner 10000 Fr. Anteilscheine ihrer Bank,
die bei den überseeischen Vertretern liegenden Waren oder die sich daraus
ergebenden Restforderungen und die bei C. Wider, Widnau, Goth & Cie St. Gallen
und Altherr & Guex in Flawil liegenden Posten Mousseline verpfändet. Der
Ordnung halber betone sie ausdrücklich, dass sie Nebenbedingungen der Bürgen
in keiner Weise anerkennen könne. Dr. X. schrieb am 3. Dezember den beiden
Bürgen, dass die Abmachungen perfekt seien. Nach ihrer schriftlichen
Bestätigung habe sich der Beklagte 10000 Fr. ihrer Anteilscheine, die bei
sechs überseeischen Vertretern liegenden Waren oder die entsprechenden
Restforderungen und die bei den drei st. gallischen Firmen befindlichen Posten
Mousseline, die in dem Brief einzeln aufgeführt werden, verpfänden lassen. Am
7. Dezember 1926 kam die Beklagte auf ihren Brief vom 3. Dezember zurück und
berichtete an Dr. X., dass nicht der volle Gegenwert der bei Wider, Goth & Cie
und Altherr & Guex liegenden Waren als verpfändet zu gelten habe, sondern nur
der Betrag, der die Guthaben der drei Firmen übersteige. Sie bat um
Bestätigung dieser Mitteilung.

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Am 7. Dezember 1926 bestätigte Dr. X. der Bank die Übergabe des Bürgscheines
und die Echtheit der Unterschriften, erklärte den Schuld- und
Bürgschaftsvertrag gemäss Bürgschein und separatem Pfandbestellungsakt und
ohne weitere Bedingungen als in Kraft getreten und fügte in einem Nachtrag
bei, er habe davon Kenntnis genommen, dass die bei Wider, Goth & Cie und
Altherr & Guex liegenden Waren nur unter Vorbehalt der Vorpfandrechte
verpfändet seien. Den Bürgen hat er diesen Vorbehalt nicht mitgeteilt.
Als Albert Moser in der Folge in Konkurs fiel, meldeten die drei Firmen C.
Wider, Goth & Cie und Altherr & Guex an den bei ihnen liegenden, durch den
Gemeinschuldner verpfändeten Waren Retentionsrechte für Forderungen von über
20000 Pr. an.
Die Beklagte machte unter Vorbehalt der Mehrforderung die Solidarbürgschaft
gegen den Kläger zunächst im Betrage von 20770 Fr. 75 Cts. geltend und leitete
am 19. Mai 1928 für diese Summe Betreibung ein. Der Kläger schlug Recht vor.
Durch Entscheid vom 11. Juni 1928 hiess das Bezirksgerichtspräsidium von St.
Gallen als Einzelrichter in Betreibungssachen das Gesuch der Beklagten um
Erteilung der provisorischen Rechtsöffnung gut.
B. - Am 23. Juni 1928 hat der Kläger beim Handelsgericht des Kantons St.
Gallen die vorliegende Klage anhängig gemacht und das Rechtsbegehren gestellt:
«Ist nicht gerichtlich zu erkennen, die gemäss Rechtsöffnungsentscheid des
Bezirksgerichtspräsidium St. Gallen vom 6./14. Juni 1928 mit provisorischer
Rechtsöffnung geschützte Forderung der Beklagten im Betrage von 20770 Fr. 75
Cts. zuzüglich Zinsen, Kommission und Kosten sei gerichtlich abzuerkennen und
die vom Kläger eingegangene Bürgschaft vom Oktober und Dezember 1926 als für
ihn unverbindlich zu erklären?»
C. - Durch Zwischenurteil vom 20. November 1928 und Endurteil vom 1. Oktober
1929 hat das Handelsgericht des Kantons St.Gallen die Klage abgewiesen.

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Dr. X., dem durch den Kläger der Streit verkündet werden war, hatte erklärt,
am Prozess nicht teilzunehmen.
D. - Gegen das Urteil des Handelsgerichtes hat der Kläger rechtzeitig die
Berufung an das Bundesgericht ergriffen.
E. -
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Der Kläger ficht den Bürgschaftsvertrag als für ihn unverbindlich an, da
er sich beim Abschluss in einem wesentlichen Irrtum befunden habe. Es sei ihm
von Dr. X. und von der Beklagten ausdrücklich zugesichert worden, und es sei
eine entscheidende Voraussetzung für die Eingehung der Verpflichtung gewesen,
dass die bei den drei st. gallischen Häusern liegenden Waren mit ihrem vollen
Wert und ohne Belastung mit dinglichen Rechten Dritter für die Schuld Albert
Mosers haften würden.
Die vom Kläger behauptete Zusicherung der Beklagten und des Litisdenunziaten,
dass die Waren unbelastet seien, ist jedoch nicht bewiesen worden. Es kann
deshalb nicht angenommen werden, die Beklagte selbst oder ein Vertreter habe
ihm dies erklärt. Die Berufung auf eine Zusicherung der Beklagten verträgt
sich auch nicht mit der Geltendmachung eines Irrtums. Durch eine solche
Zusicherung wäre nämlich entweder eine Verpflichtung der Beklagten begründet
worden, dafür zu sorgen, dass die Waren nicht belastet werden, oder es wäre
damit eine Bedingung aufgestellt worden, von deren Eintreffen die
Verpflichtung des Bürgen abhängig sein sollte. Der Kläger hätte sich also gar
nicht geirrt, sondern entweder hätte die Beklagte den Vertrag nicht erfüllt,
oder es wäre eine Bedingung seiner Verbindlichkeit nicht eingetroffen (vgl.
VON TUHR, OR I S. 259. Derselbe, Ztschr. f. Schw. Recht n. F. 15 S. 307 Anm.
3). Es ist jedoch nicht zu untersuchen, welche dieser beiden Möglichkeiten im
vorliegenden Fall zutreffen würde, da wie gesagt eine Zusicherung der
Beklagten nicht nachgewiesen werden ist,

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2.- Um festzustellen, ob der Kläger trotz Schweigens des Vertrages die
Nichtbelastung der durch den Schuldner verpfändeten Waren mit Rechten Dritter
vorausgesetzt hat, ist zunächst zu prüfen, wann und mit welchem Inhalt der
Bürgschaftsvertrag geschlossen worden ist. Die am 8. Oktober 1926 vom Kläger
unterzeichnete Bürgschaftsurkunde enthält überhaupt keine Bestimmungen über
die Verpfändung von Waren. Sie nimmt Bezug auf den Kreditvertrag vom gleichen
Tag, in dem jedoch nur von der Verpfändung von Anteilscheinen durch den
Schuldner gesprochen wird. Wenn die Bürgschaftsverpflichtung durch die
Unterzeichnung und Übergabe der Urkunde am 8. Oktober 1926 gültig zustande
gekommen wäre, hätte Dr. X. durch die nachträgliche und einseitige Anbringung
von Vorbehalten in Bezug auf die Verpfändung von Waren am Vertragsinhalt
nichts mehr ändern können, und die Beklagte hätte sich in ihrem Brief vom 3.
Dezember 1926 mit mehr Recht darauf berufen, dass die Bürgschaft ohne solche
Vorbehalte rechtswirksam geworden sei. Die Willenserklärung, durch die sich
der Bürge zur Übernahme der Bürgschaft verpflichtet, wird jedoch erst mit dem
Empfang durch den Gläubiger gültig. Es frägt sich daher weiter, ob der
Litisdenunziat, wie der Kläger selbst behauptet, Vertreter der Beklagten
gewesen und die Übergabe der Urkunde an ihn am 8. Oktober 1926 als Empfang
durch die Beklagte aufzufassen sei.
Dr. X. war zunächst Anwalt und Vertreter des Schuldners Albert Moser. Allein
so gut wie ein Schuldner bei Eingehung der Bürgschaft den Bürgen vertreten
kann (vgl. BGE 33 II S. 402 und 45 II S. 172), so kann auch der Vertreter des
Schuldners zugleich den Bürgen vertreten. Der Litisdenunziat muss in der Tat
auch Vertreter entweder der Beklagten oder des Klägers gewesen sein, und zwar
müsste er das auch dann, wenn nachgewiesen wäre, dass er als Anwalt weder von
der Beklagten, noch vom Kläger einen entgeltlichen Auftrag erhalten hat.

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Die Bürgschaft als Vertrag zwischen Gläubiger und Bürge konnte nur zwischen
der Beklagten und dem Kläger zustande gekommen sein. Da die beiden nicht
unmittelbar miteinander darüber unterhandelt haben, konnte der Vertragsschluss
nur durch eine Handlung des Litisdenunziaten als Vertreter geschehen sein. Aus
den in den ersten Dezembertagen 1926 zwischen ihm und der Beklagten
gewechselten Briefen ergibt sich nun, dass er bei den zwischen der Beklagten
und dem Kläger noch bestehenden Interessengegensätzen das Interesse des
Klägers gegenüber der Beklagten, nicht das der Beklagten gegenüber dem Kläger
vertreten hat. Er machte Vorbehalte zugunsten des Klägers und erklärte die
Bürgschaft als vollständig, als er annahm, die vom Kläger aufgestellten
Voraussetzungen seien erfüllt. Der Kläger war damit einverstanden, dass er in
dieser Weise als sein Vertreter gegenüber der Beklagten handelte; denn er
hatte ihm den Bürgschein mit seiner Unterschrift übergeben, bevor er
verpflichtet sein wollte, und indem er es ihm überliess, sich an seiner Stelle
mit der Beklagten über die noch fehlenden Punkte auseinanderzusetzen und zu
einigen. Dr. X. war daher bei Vertragsschluss Vertreter des Klägers. Mit der
Übergabe des Bürgscheines durch den Kläger an ihn wurde der Bürgschaftsvertrag
noch nicht rechtswirksam, es stand dem Kläger auch nach dem 8. Oktober frei,
weitere Vorbehalte zu machen, und die in seinem Namen durch den
Litisdenunziaten an die Beklagte gerichteten Briefe vom 1., 2. und 7. Dezember
1926 sind von Bedeutung für die Frage, ob der Kläger die Nichtbelastung der
Waren vorausgesetzt und sich darüber geirrt hat.
3.- Der Irrtum, den der Kläger geltend macht, kann nach seiner Darstellung und
nach der Aktenlage kein Erklärungsirrtum sein, sondern nur ein Irrtum über
einen Sachverhalt, der nach Treu und Glauben im Verkehr als notwendige
Grundlage des Vertrages zu betrachten ist (OR Art. 24 Ziff. 43. Im allgemeinen
kann bei der Bürgschaft

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weder die Leistung von Pfändern für die verbürgte Forderung, noch die Freiheit
solcher Pfänder von vorgehenden Pfand- und Retentionsrechten als notwendige
Vertragsgrundlage angesehen werden. Vielmehr kommt es auf den einzelnen Fall
an. Aus den Briefen Dr. X's an die Beklagte vom 1. und 2. Dezember 1926 geht
hervor, dass im vorliegenden Fall vor der Verpflichtung des Bürgen
Sicherheiten durch Verpfändung von Waren geleistet werden sollten. Dennoch
konnte der Kläger nicht im Zweifel darüber sein, dass die Pfänder nicht
ausreichten, um den Kredit zu decken. Wie die Vorinstanz ausgeführt hat,
handelte es sich darum, die Vermögenslage eines notleidenden Schuldners zu
sanieren; ein solcher Schuldner ist aber regelmässig nicht in der Lage, einen
Kredit vollständig durch Pfänder zu sichern, sondern er steuert zur
Sicherstellung nach Massgabe seiner Mittel bei. Zudem hatte der Kläger ein
persönliches Interesse daran, dass dem Schuldner, der sein guter Kunde war,
geholfen wurde. Es ist auch aus diesem Grunde anzunehmen, er sei darüber
unterrichtet gewesen, dass die Pfänder zur Deckung nicht ausreichten und dass
sein persönliches Eintreten die Sicherheit erst vervollständigte.
Es ist dem Kläger freilich zuzugeben, dass die Frage, ob die Pfänder
ausreichten und ob er darüber unterrichtet war, dass sie nicht ausreichten,
nicht zusammenfällt mit der Frage, ob die verpfändeten Waren in einem vordern
Rang noch für Rechte Dritter hafteten, und ob er das wusste. Allein das
Handelsgericht hat das nicht übersehen, wie der Kläger behauptet. Es hat auf
die nur teilweise Deckung durch die Pfänder und auf die Kenntnis dieses
Umstandes durch den Kläger verwiesen, um darzutun, dass der Kläger zum
Vornherein mit der Inanspruchnahme der Bürgschaft rechnete und rechnen musste.
Im übrigen ist es auch auf die Frage eingetreten, ob der Kläger etwas vom
Bestehen der Retentionsrechte wusste, und es hat angenommen, dass er davon
nicht unterrichtet war und sich in der Tat darüber irrte. Ein Irrtum über

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den Sachverhalt nach Art. 24 Ziff. 4
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 24 - 1 Der Irrtum ist namentlich in folgenden Fällen ein wesentlicher:
1    Der Irrtum ist namentlich in folgenden Fällen ein wesentlicher:
1  wenn der Irrende einen andern Vertrag eingehen wollte als denjenigen, für den er seine Zustimmung erklärt hat;
2  wenn der Wille des Irrenden auf eine andere Sache oder, wo der Vertrag mit Rücksicht auf eine bestimmte Person abgeschlossen wurde, auf eine andere Person gerichtet war, als er erklärt hat;
3  wenn der Irrende eine Leistung von erheblich grösserem Umfange versprochen hat oder eine Gegenleistung von erheblich geringerem Umfange sich hat versprechen lassen, als es sein Wille war;
4  wenn der Irrtum einen bestimmten Sachverhalt betraf, der vom Irrenden nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr als eine notwendige Grundlage des Vertrages betrachtet wurde.
2    Bezieht sich dagegen der Irrtum nur auf den Beweggrund zum Vertragsabschlusse, so ist er nicht wesentlich.
3    Blosse Rechnungsfehler hindern die Verbindlichkeit des Vertrages nicht, sind aber zu berichtigen.
OR ist jedoch nur wesentlich und
berechtigt nur zur Anfechtung des Rechtsgeschäftes, wenn der Sachverhalt nicht
nur objektiv, nach Treu und Glauben, als notwendige Vertragsgrundlage
anzusehen ist, sondern wenn er auch subjektiv, durch den Irrenden selbst als
solche aufgefasst wurde (OSER, Kommentar, 2. Aufl. Note 44 zu OR Art. 24; VON
TUHR, OR I S. 257). Das Handelsgericht hat nun verneint, dass die Freiheit der
Pfänder von Retentionsrechten durch den Kläger als wesentlich betrachtet
worden sei; es hat im Gegenteil angenommen, dass er die Bürgschaft auch bei
Kenntnis des wahren Sachverhaltes eingegangen wäre. Diesen Schluss hat es, da
ein strikter Beweis nicht geleistet werden konnte, daraus gezogen, dass der
Kläger ohnehin gewusst habe, es werde durch den Schuldner nicht volle
Sicherheit durch Pfänder geboten. Diese Folgerung einer Tatsache auf dem Wege
nicht der juristischen Interpretation, sondern des Indizienbeweises, nämlich
der innern psychologischen Tatsache, dass der Kläger selbst die Nichtbelastung
mit Rechten Dritter nicht als wesentlich angesehen habe, ist für das
Bundesgericht verbindlich, wie eine tatsächliche Feststellung der kantonalen
Instanz, da sie nicht von aktenwidrigen Annahmen ausgeht (vgl. BGE 45 II S.
437
; TH. WEISS, Berufung S. 177).
Die Unwesentlichkeit des Irrtums des Klägers ergibt sich jedoch noch bei einer
andern Überlegung. Der Kläger wusste jedenfalls, in welcher Eigenschaft die
drei Firmen die verpfändeten Waren in ihrem Besitze hatten. Als
Stickereifachmann musste ihm insbesondere auch bekannt sein, dass die Bleicher
und Lagerhalter für ihre Ansprüche aus der Veredelung oder Aufbewahrung der
Waren ein Zurückbehaltungsrecht ausüben können und regelmässig ausüben. Wenn
er auch darüber im Irrtum sein mochte, dass die drei Firmen im Zeitpunkte des
Vertragsschlusses bereits Forderungen gegen den Schuldner besassen, so durfte
er doch nicht daran zweifeln, dass solche mit Retentionsrechten versehene
Ansprüche in der

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Zukunft noch entstehen konnten. Schloss er trotz dieser ihm bekannten Gefahr
den Vertrag ab, so kann er sich nicht nachträglich auf einen Irrtum berufen,
denn durch Kenntnis der Gefahr bei Vertragsschluss nahm er sie als für sich
unwesentlich in Kauf.
Selbst wenn der Kläger trotz seiner geschäftlichen Erfahrung nicht gewusst
hätte, dass die Besitzer der Waren nach Gesetz daran Retentionsrechte für ihre
Forderungen ausüben dürfen, wurde sein Irrtum nicht als wesentlich in Betracht
fallen. Es wäre ein Irrtum nicht über einen Tatbestand, sondern über
Rechtsfolgen gewesen. Ein solcher Rechtsirrtum hätte als blosser Irrtum im
Beweggrund die Gültigkeit des Bürgschaftsvertrages nicht zu beeinträchtigen
vermocht, wie das Bundesgericht schon in seinem Urteil vom 26. September 1922
i. S. Spar- und Leihkasse Bern gegen Ursenbacher (BGE 48 II S. 380) erkannt
hat (vgl. VON TUHR, Mängel des Vertragsschlusses, Ztschr. f. schw. Recht n. F.
15 S. 307; HANS TOBLER, Der Schutz des Bürgen gegenüber dem Gläubiger, S.
134).
4.- Wie die Vorinstanz mit Recht ausgeführt hat, kann der Kläger der Beklagten
einen Irrtum auch deshalb nicht entgegenhalten, weil er die Kenntnis des
wahren Sachverhaltes durch Dr. X. gegen sich gelten lassen muss. Wie schon
begründet wurde, war Dr. X. sein Vertreter beim Vertragsschluss. Die Beklagte
hat den Litisdenunziaten am 7. Dezember 1926 darüber aufgeklärt, dass
Retentionsrechte an den Waren bestanden und dass diese nur mit dem diese
Rechte übersteigenden Betrag für den verbürgten Bankkredit haften würden. Dr.
X. hat von dieser Aufklärung ausdrücklich Kenntnis genommen und der Beklagten
trotzdem mitgeteilt, dass der Bürgschaftsvertrag rechtsgültig zustande
gekommen sei. Dabei braucht nicht untersucht zu werden, ob der Irrtum Dr. X's
vor oder nach dem Vertragsschluss beseitigt worden, in welchem Zeitpunkt also
der Vertrag zustande gekommen ist; denn wenn die Aufklärung durch die Beklagte
erst erfolgt wäre, nachdem der Vertrag bereits

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rechtswirksam abgeschlossen war, müsste die Antwort des Litisdenunziaten vom
7. Dezember 1926 an die Beklagte als Genehmigung des anfänglich auch auf
seiner Seite unter Irrtum zustande gekommenen Vertrages aufgefasst werden, die
auch für den Kläger verbindlich wäre.
Der Litisdenunziat hat sich in einem Briefe an die Beklagte vom 7. Mai 1928
kurz vor dem Beginn des Prozesses darauf berufen, dass er Anwalt Albert Mosers
und nicht des Klägers gewesen sei, und dass er aus diesem Grunde die beiden
Bürgen von der Berichtigung der Beklagten vom 7. Dezember 1926 nicht
unterrichtet habe. Allein- an diese Auffassung des Litisdenunziaten ist das
Bundesgericht und war die Vorinstanz nicht gebunden; denn ob Dr. X. den Kläger
vertreten hat, hängt von der rechtlichen Würdigung von Tatsachen ab. Er konnte
nicht nur Anwalt des Schuldners sein, sondern der Bürgschaftsvertrag als
Rechtsgeschäft zwischen Gläubiger und Bürge musste notwendig durch seine
Vertretung, und zwar des Bürgen, abgeschlossen worden sein, da die
Vertragsparteien nicht unmittelbar miteinander verkehrten. Dr. X. gibt denn
auch in dem erwähnten Brief vom 7. Mai 1928 noch einen weitern Grund dafür an,
dass er den Kläger von den Retentionsrechten nicht unterrichtete, nachdem er
selbst davon Kenntnis erhielt: Der Kläger selbst sei darüber von Anfang an
nicht im Irrtum gewesen, indem ihm schon im Oktober die Retentionsforderungen
bekannt gegeben worden seien. Ob dies stimmt, braucht jedoch nicht mehr
untersucht zu werden, nachdem sich der behauptete Irrtum ohnehin als
unwesentlich und zudem als durch den Kläger genehmigt herausgestellt hat.
5.- Der Kläger hat sich ausser auf seinen Irrtum auch auf die Art. 505 und 509
berufen und unter Hinweis auf das zitierte bundesgerichtliche Urteil i. S.
Spar- und Leihkasse Bern gegen Ursenbacher geltend gemacht, die Beklagte habe
sich ihm gegenüber dadurch verantwortlich gemacht, dass sie die angegebenen
Sicherheiten nicht zur

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Verfügung gestellt habe; er könne daher eventuell verlangen, dass seine
Bürgschaftsschuld wie in dem zitierten Urteil um den Betrag herabgesetzt
werde, um den die Gläubiger bei Nichtbestand der Retentionsrechte aus den
Pfändern gedeckt worden wäre. Allein abgesehen davon, dass Bestand und Vorrang
der Retentionsrechte durch den Vertreter des Klägers genehmigt worden sind,
können die Art. 605 über den Übergang der Pfandrechte auf den Bürgen, soweit
er den Gläubiger befriedigt hat, und 609 über die Verantwortlichkeit des
Gläubigers für Verminderung der Sicherheiten auf den vorliegenden Fall
überhaupt nicht angewendet werden. Der Tatbestand des erwähnten Urteils weicht
vom vorliegenden Tatbestand erheblich ab. Dort hatte es die Gläubigerin selbst
unterlassen, für die Begründung der Sicherheit zu sorgen, indem sie sich die
Faustpfänder nicht übergeben liess, und dafür wurde sie haftbar gemacht. Hier
hat die Beklagte alles getan, was für die Entstehung der Pfandrechte notwendig
war. Diese sind denn auch rechtsgültig begründet worden, und ihre
nachträgliche Beeinträchtigung durch vorgehende Retentionsrechte ist nicht auf
eine Handlung oder Unterlassung der Beklagten zurückzuführen, sondern auf
Verhältnisse des Schuldners mit Dritten, mit denen der Kläger von Anfang an
rechnen musste. Auch der Hinweis des Klägers auf die Entscheidung des
Bundesgerichtes i. S. Schweizerische Volksbank gegen Gygax und Hohlmann vom 9.
März 1918 (BGE 44 II S. 63) ist unbehelflich, weil dort die Rückbürgschaft als
Voraussetzung der Gültigkeit der Bürgschaft von beiden Parteien ausdrücklich,
wenn auch formlos, zu einer Bedingung des Rechtsgeschäftes gemacht wurde.
6.- Quantitativ.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Handelsgerichtes des Kantons
St. Gallen vom 1. Oktober 1929 bestätigt.