S. 283 / Nr. 47 Obligationenrecht (d)

BGE 56 II 283

47. Urteil der I. Zivilabteilung vom 17. September 1930 i. S. Fischer gegen
Sauter.

Regeste:
Haftung des Geschäftsherrn nach OR Art. 55. Voraussetzung ist weder ein
Verschulden des Angestellten, noch des Dienstherrn, aber die Verursachung
eines Schadens durch jenen bei Ausübung einer dienstlichen Verrichtung. (Erw.
1.)
Natur des Entlastungsbeweises und Anforderungen an diesen bei Haftung für
einen Chauffeur. (Erw. 2.)

A. - Karl Fischer erlitt am 4. Dezember 1925 durch einen Unfall einen
bleibenden Nachteil und eine dauernde

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Beeinträchtigung seiner Arbeitsfähigkeit, wegen der ihm die SUVAL eine Rente
ausrichtet.
Am 17. Februar 1927 ging er mit einem mit Eisenstangen beladenen Handwagen die
Rieterstrasse aufwärts und kam dabei mit einem vorfahrenden, F. Sauter-Troxler
gehörenden, durch Heinrich Oury gesteuerten Lastautomobil in Berührung.
B. - Wegen dieses zweiten Unfalles hat Karl Fischer am 3. Juli 1928 gegen F.
Sauter-Troxler Klage auf Bezahlung von 5000 Fr. und 5% Zins davon seit 17.
Februar 1927 erhoben. Zur Begründung des Anspruches hat er geltend gemacht, er
habe auf der Rieterstrasse mit seinem Wagen nicht zu äusserst rechts schreiten
können, da am Strassenrand grosse Schneehaufen gelegen hätten. Oury habe ihm
rechts vorfahren wollen und ihn dabei gestreift. sodass er umgeworfen worden,
mit dem Knie auf den gefrorenen Boden aufgeschlagen und durch einige fallende
Eisenstangen am Bein getroffen worden sei. Die Folge des Zusammenstosses sei
eine Versteifung des Beines. Seine Invalidität infolge des Unfalles betrage
80%. Die bei einem Jahreseinkommen von 4260 Fr. geschuldete Abfindungssumme
von 45000 Fr. sei in der Klage freiwillig auf 5000 Fr. herabgesetzt worden.
C. - Der Beklagte hat gegenüber der Forderung zuerst die Einrede der
Verjährung erhoben, im zweiten Vortrag vor Bezirksgericht aber wieder fallen
gelassen. Er hat ausserdem die gesamte Darstellung des Sachverhaltes durch den
Kläger als unrichtig bestritten und insbesondere die Grösse der Invalidität,
die Verursachung durch die behauptete Kollision, ein Verschulden Oury's und
die behauptete Höhe des Jahreseinkommens in Abrede gestellt. Auch hat er den
Beweis angetragen, dass er alle durch die Umstände gebotene Sorgfalt
angewendet habe, um einen Schaden dieser Art zu verhüten.
D. - Das Bezirksgericht Zürich hat die Klage durch Urteil vom 2. Juli 1929
abgewiesen.
E. - Auf Berufung des Klägers hat das Obergericht

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des Kantons Zürich die Klage am 8. April 1930 ebenfalls abgewiesen.
F. - Gegen diesen Entscheid hat der Kläger rechtzeitig und in der gesetzlichen
Form die Berufung an das Bundesgericht ergriffen und den Antrag gestellt, die
Klage sei gutzuheissen, eventuell sei der Fall zur Abnahme der angebotenen
Beweise über den Grad der Invalidität des Klägers an das Obergericht
zurückzuweisen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Über den Hergang des Zusammenstosses hat das durchgeführte Beweisverfahren
keine genauen Anhaltspunkte gegeben. Das Bezirksgericht musste sich deshalb
auf die tatsächliche Feststellung beschränken, dass sich der Unfall vom 17.
Februar 1927 ungefähr so zugetragen haben müsse, wie der Kläger ihn darstelle,
dass der bekannte Tatbestand aber nicht genüge, um sich ein Urteil über die
Frage des Verschuldens zu bilden. Diese Ausführung ist nicht ganz ohne
Widerspruch, denn wenn sich der Vorfall wirklich zugetragen hätte, wie ihn der
Kläger schildert, wenn also Oury rechts hätte vorfahren wollen, würde ihn auch
ein ausschliessliches oder ein Mitverschulden an dem angeblichen Schaden
treffen.
Der Beklagte wird jedoch gestützt auf Art. 55
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 55 - 1 Der Geschäftsherr haftet für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden dieser Art zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.30
1    Der Geschäftsherr haftet für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden dieser Art zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.30
2    Der Geschäftsherr kann auf denjenigen, der den Schaden gestiftet hat, insoweit Rückgriff nehmen, als dieser selbst schadenersatzpflichtig ist.
OR als Geschäftsherr für den von
seinem Angestellten Oury in Ausübung dienstlicher Verrichtungen angeblich
angerichteten Schaden haftbar gemacht. Nach Art. 55 genügt für die Haftung des
Geschäftsherrn, dass sein Angestellter oder Arbeiter den Schaden verursacht
hat; es ist nicht erforderlich, dass ihn ausserdem ein Verschulden treffe.
Umgekehrt vermag ihn ein Verschulden des Täters von der Haftung nicht zu
befreien, selbst wenn es in Arglist oder grober Fahrlässigkeit besteht. Diese
dem Wortlaut und Sinn der Vorschrift entsprechende Auffassung ist durch das
Bundesgericht wiederholt vertreten worden (vgl. BGE 50 II S. 494 und aus der
neuesten Rechtsprechung

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die beiden Urteile i. S. Clerc gegen Senfter und Anthamatten vom 17. Juni 1930
und i. S. Dornbierer-Spring gegen Meyer und Guttmann & Gacon vom 10. September
1930); sie herrscht auch im Schrifttum vor (vgl. VON TUHR, OR I S. 352; OSER,
Kommentar 2. Aufl. Note 18 zu Art. 55
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 55 - 1 Der Geschäftsherr haftet für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden dieser Art zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.30
1    Der Geschäftsherr haftet für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden dieser Art zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.30
2    Der Geschäftsherr kann auf denjenigen, der den Schaden gestiftet hat, insoweit Rückgriff nehmen, als dieser selbst schadenersatzpflichtig ist.
OR; BECKER, Kommentar, Note 5 zu Art.
55; CHAMOREL, La responsabilité de l'employeur pour le fait de ses employés en
matière extra-contractuelle, p. 31; VON WATTENWYL, Ausserkontraktliche Haftung
des Aufsichtspflichtigen, S. 100 ff.). In diesem Fall ist daran festzuhalten.
Da ein Verschulden Oury's also nicht Voraussetzung der Haftung des Beklagten
ist, kommt dem vorliegenden Beweisnotstand und der Lückenhaftigkeit der
Beweise insoweit keine Bedeutung zu, als die nach der Annahme der kantonalen
Instanzen nicht erwiesenen Tatsachen für die Frage des Verschuldens des
Chauffeurs hätten massgebend sein sollen.
Tatsächliche Voraussetzungen der Haftung des Geschäftsherrn nach Art. 55 sind
dagegen, dass ein Schaden entstanden und dass er durch das Verhalten des
Angestellten anlässlich der dienstlichen Verrichtung verursacht worden ist.
Beide Tatsachen sind im vorliegenden Fall durch den Beklagten bestritten
worden. Beweispflichtig war der Kläger; doch hat das Beweisverfahren auch
darüber keine schlüssigen Ergebnisse zu Tage gefördert. Der Zeuge Annaheim sah
wohl, dass der Kläger bei seinem Eintreffen auf der Unfallstelle hinkte; ob
die Verletzung aber auch die Wirkung des Unfalles war, konnte er nicht sagen.
Aus dem Zeugnis des behandelnden Arztes, Dr. Paul Schäppi geht sogar hervor,
dass der Kläger am 17. Februar zwar verletzt worden ist und sich während fünf
Wochen behandeln liess, dass diese Verletzungen aber ausgeheilt sind und dass
der vorhandene bleibende Schaden nicht auf den Zusammenstoss vom 17. Februar
1927 zurückgeführt werden kann; dass die Folgen des frühern Unfalles durch das
Ereignis vom 17. Februar 1927 wieder ausgelöst worden seien, hält der Arzt für
möglich;

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er hat aber nach dieser Richtung keine positiven Feststellungen machen können.
Angesichts dieser Umstände und des Fehlens jedes Augenzeugen hat es schon das
Bezirksgericht als recht zweifelhaft bezeichnen müssen, ob der Kläger durch
eine nachträgliche Expertise den ihm obliegenden Beweis des Zusammenhanges
seiner Gebrechen mit dem Unfall vom 17. Februar leisten könne. Aus
prozessökonomischen Gründen hat es und mit ihm das Obergericht davon
abgesehen, eine solche langdauernde und kostspielige Expertise zu
veranstalten. Dagegen haben die kantonalen Instanzen geprüft, ob dem Beklagten
der ihm durch Art. 55 eröffnete Entlastungsbeweis gelungen sei. Auf diese
Frage hat auch das Bundesgericht noch einzutreten.
2.- Die Haftung des Geschäftsherrn gemäss Art. 55
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 55 - 1 Der Geschäftsherr haftet für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden dieser Art zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.30
1    Der Geschäftsherr haftet für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, wenn er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden dieser Art zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.30
2    Der Geschäftsherr kann auf denjenigen, der den Schaden gestiftet hat, insoweit Rückgriff nehmen, als dieser selbst schadenersatzpflichtig ist.
OR ist keine
Verschuldenshaftung. Er hat einmal einzustehen, auch wenn den Angestellten
kein Verschulden trifft, aber auch, wenn ihm selbst keines zur Last fällt. Der
ihm durch das Gesetz eingeräumte Beweis, dass er alle durch die Umstände
gebotene Sorgfalt angewendet habe, um einen solchen Schaden zu vermeiden, ist
daher nach der ständigen neuern Rechtsprechung des Bundesgerichtes (vgl. BGE
45 II S. 86, 647; 47 II S. 412 49; II S. 94 und die schon genannten
Entscheidungen) kein Exkulpations- sondern ein bestimmt umschriebener
Entlastungsbeweis; er ist erbracht, wenn die erforderlichen
Vorsichtsmassregeln erfüllt worden sind, ohne Rücksicht darauf, ob bei
Unterbleiben dieser Hassregeln den Geschäftsherrn ein Verschulden getroffen
hätte oder nicht (VON TUHR, OR I S. 353). Die Sorgfalt im Sinne des Art. 55
besteht daher nicht einfach in einer pflichtgemässen Handlungsweise, sondern
einer Summe objektiv gebotener Massnahmen. Welche Vorkehren aber geboten sind,
kann nur im einzelnen Fall unter Berücksichtigung der konkreten Umstände
gesagt werden.
In casu ist in tatsächlicher Beziehung durch die Vorinstanzen für das
Bundesgericht verbindlich festgestellt,

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dass Oury nach seinen Zeugnissen als ein äusserst zuverlässiger Chauffeur
gelten konnte, der während der zehn Jahre seiner Tätigkeit nie wegen
Übertretung der Fahrvorschriften polizeilich gebüsst worden war. Der Beklagte
hat demgemäss bei der Auswahl und Anstellung Oury's alle erdenkliche Sorgfalt
angewendet. Aber auch zu seiner Instruktion hat er das Gebotene getan, denn es
steht fest, dass er Oury wie auch den andern Chauffeuren wiederholt
eingeschärft hatte, langsam und vorsichtig zu fahren. Ferner hat er ihm nicht
zu viel Arbeit aufgebürdet, sodass der Chauffeur auch nicht tatsächlich,
entgegen der Instruktion, genötigt war, rasch und unvorsichtig zu fahren oder
sich zu ermüden. Unter diesen Umständen ist gar nicht ersichtlich, welche
erforderlichen Vorsichtsmassregeln der Beklagte überhaupt unterlassen hat.
Einzig eine ständige Überwachung fehlte. Eine solche aber war weder
zweckmässig - da bei der Lenkung eines Kraftwagens grundsätzlich der
Steuermann allein disponieren und ihm keiner dreinreden soll - noch zuzumuten
und geboten.
Der Entlastungsbeweis ist dem Beklagten daher gelungen, und die Klage ist in
Übereinstimmung mit den kantonalen Instanzen abzuweisen. Auf die Frage der
Verursachung und der Verschuldung des angeblichen Schadens durch Oury braucht
nicht eingetreten zu werden, da weder Oury eingeklagt, noch seine
Regresspflicht streitig ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes des Kantons
Zürich vom 8. April 1930 wird bestätigt.