S. 191 / Nr. 33 Bundesrechtliche Abgaben (d)

BGE 56 I 191

33. Auszug aus dem Urteil vom 12. Juni 1930 i. S. W. S. gegen Basel-Stadt.


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Regeste:
Militärpflichtersatz.
1. Unrichtige Verfügungen dürfen, weil materiell rechtswidrig, von der
Behörde, die sie erlassen hat, zurückgenommen und durch materiell richtige
ersetzt werden, sofern nicht Gründe der Rechtssicherheit einer Zurücknahme
entgegenstehen.
2. Dies gilt besonders bei einem Ausspruch über eine Ersatzbefreiung, durch
die die Verhältnisse eines Pflichtigen für eine Reihe von Jahren, nicht, wie
die einzelne Veranlagung, nur für ein Jahr geregelt werden.

A. - Der 1906 geborene W. S., stud. ing., wurde bei der Rekrutierung 1925 für
ein Jahr und 1926 für ein weiteres Jahr zurückgestellt. 1927 wurde er als
diensttauglich erklärt, nachdem sein Brustumfang seit 1925 um 3 cm zugenommen
hatte, und bei den schweren Motorkanonen eingeteilt. S. machte die
Rekrutenschule vom 3. Februar bis
19. April 1928. In der 3. oder 4. Woche der Schule
erkrankte er an Bronchitis mit Fieber und befand sich
während 5 Tagen im Krankenzimmer. Unmittelbar nach

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der Entlassung liess sich S. durch Dr. P. in Basel untersuchen und behandeln.
In den Berichten dieses Arztes zuhanden der Militärversicherung lautete die
Diagnose zuerst auf Bronchitis und Laryngitis acuta, Angina follicularis (20.
April), dann Bronchitis und Laryngitis subaouta (24. April) und schliesslich
auf Lungentuberkulose. Der Zusammenhang mit dem Dienst wurde als sicher
bezeichnet. Vom 16. Mai bis 23. Juni 1928 befand sich S. als Militärpatient in
der Rekonvaleszentenstation Novaggio, von wo er als wiederhergestellt und voll
arbeitsfähig nach Hause entlassen wurde («kein Lungenbefund, vordienstlicher
Zustand wiederhergestellt»; die Krankengeschichte erwähnt eine
Röntgenaufnahme). Der Anstaltsarzt beantragte die Ausmusterung des S. Am 18.
September 1928 wurde S. von der sanitarischen Untersuchungskommission auf
Grund von § 112 Ziff. 97 IBW (allgemein schwächliche Konstitution;
phthisischer Habitus; allgemeine Muskelschwäche; chronischer Anaemie) unter
die Hilfsdienstpflichtigen versetzt.
B. - S. stellte beim Kreiskommando Basel ein Gesuch um Steuerbefreiung nach
Art. 2 b MStG. Die Militärversicherung beantragte am 27. Dezember 1928 die
Ablehnung des Gesuches, da der Ausmusterungsgrund mit dem Dienst nicht in
Zusammenhang stehe. Am 29. Dezember 1928 schrieb das Kreiskommando dem S.:
«Auf Grund eines Berichtes vom 27. Dezember 1928 der eidgenössischen
Militärversicherung hat die hiesige Militärdirektion Sie im Sinne von Art. 2 b
des Bundesgesetzes betreffend den Militärpflichtersatz vom 28. Juni 1878 von
der Militärsteuer enthoben.
In Ihrem anbei zurückfolgenden Dienstbüchlein finden Sie dies auf den Seiten
20/21 vorgemerkt.
Der Kreiskommandant:
Oberstlt. Stingelin.»
C. - Am 21. Mai 1929 sodann teilte das Kreiskommando dem S. mit, dass sein
Gesuch um Militärsteuerbefreiung nach Antrag der Militärversicherung
abgewiesen werde.

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Die Ausmusterung sei wegen allgemein schwächlicher Konstitution vorgenommen
worden. Diese könne ursächlich nicht auf die Militärdienstleistung
zurückgeführt werden. Es wurde ihm mündlich eröffnet, die Verfügung vom 29.
Dezember 1928 sei irrtümlich gewesen.
Gegen den Entscheid vom 21. Mai hat S. an den Regierungsrat von Basel- Stadt
rekurriert, indem er geltend machte, der erste Entscheid des Kreiskommandos
sei rechtskräftig geworden und habe nicht mehr zurückgenommen werden dürfen;
eventuell sei er dienstuntauglich geworden infolge einer Erkrankung und
daherigen Schwächung des Organismus, die auf den Dienst zurückgehen.
Der Rekurs wurde vom Regierungsrat am 17. September 1929 abgewiesen. Die
Verfügung der kantonalen Militärdirektion vom 29. Dezember 1928 sei inhaltlich
gesetzwidrig und deshalb nichtig gewesen; sie hätte auch ohne dies als
offensichtlich irrtümlich von der Behörde, die sie erlassen hatte,
zurückgenommen werden können. Der Rekurrent sei nicht wegen der im Dienste
ausgebrochenen oder der späteren, nachdienstlichen Bronchitis ausgemustert
worden, sondern wegen seiner schwächlichen Konstitution; diese sei nicht im
Dienste erworben worden.
Von der nachdienstlichen Bronchitis sei der Rekurrent auf Bundeskosten
vollständig geheilt worden.
D. - Gegen diesen Entscheid hat S. rechtzeitig die verwaltungsrechtliche
Beschwerde ergriffen mit dem Antrag auf Befreiung von der Militärsteuer. Die
Beschwerde stützt sich auf dasselbe formelle und materielle Motiv wie der
Rekurs an den Regierungsrat.
(es folgen Erörterungen über die Natur der Erkrankung). Der Regierungsrat von
Basel-Stadt und die eidgenössische Steuerverwaltung haben die Abweisung des
Rekurses beantragt.
Aus den Erwägungen:
1.- Mit Verfügung vom 29. Dezember 1928 hat das Kreiskommando Basel den
Rekurrenten im Sinne von

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Art. 2 b MStG von der Militärsteuer enthoben «auf Grund eines Berichtes vom
27. Dezember der eidgenössischen Militärversicherung». Dieser Bericht der
Militärversicherung, auf den sich die Verfügung stützt, lautet aber auf
Abweisung des Steuerbefreiungsgesuches des Rekurrenten, da der
Kausalzusammenhang zwischen dem Untauglichkeitsgrund und dem Dienst nicht
gegeben sei. Die Verfügung muss daher auf einem Irrtum oder Versehen des
Kreiskommandos beruhen. Sie leidet insofern geradezu an einem Willensmangel,
als das Kreiskommando, wie sich aus der Verfügung ergibt, in Übereinstimmung
mit der Auffassung der Militärversicherung entscheiden wollte.
Diese Verfügung durfte das Kreiskommando zurücknehmen. Es entspricht dem
zwingenden Charakter des öffentlichen Rechts und der Natur der öffentlichen
Interessen, dass ein Verwaltungsakt, der dem Gesetze nicht oder nicht mehr
entspricht, nicht unabänderlich ist. Auf der andern Seite kann es ein Gebot
der Rechtssicherheit sein, dass ein administrativer Entscheid, der eine
Rechtslage festgestellt oder begründet hat, nicht nachträglich wieder in Frage
gestellt werde. Ob eine Verfügung von der Behörde, weil materiell
rechtswidrig, zurückgenommen oder abgeändert werden kann, hängt daher, soweit
nicht positive gesetzliche Bestimmungen vorliegen, was hier nicht der Fall
ist, von einer Abwägung jener beiden sich gegenüberstehenden Gesichtspunkte
ab, dem Postulat der richtigen Durchführung des objektiven Rechts auf der
einen und den Anforderungen der Rechtssicherheit auf der andern Seite
(BURCKHARDT, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, S. 61 ff.; FLEINER,
Institution des Verwaltungsrechts, 8. Auflage, S. 199 ff.). Darnach bestimmt
es sich, sei es für ganze Kategorien von Verwaltungsakten. sei es für einzelne
Akte, ob ein Zurückkommen seitens der Behörde zulässig ist.
Im vorliegenden Fall handelt es sich nicht um eine formell rechtskräftige
Steuerveranlagung, d. h. die Feststellung einer einmaligen Steuerleistung an
das Gemeinwesen,

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wobei eine nicht im Gesetz vorgesehene nachträgliche Verschärfung kaum
angängig wäre (BURCKHARDT a.a.O. S. 63; FLEINER a.a.O. S. 201). Man hat es
vielmehr zu tun mit einem Ausspruch über eine Steuerbefreiung, durch den ein
dauerndes Verhältnis festgestellt wird (der Rekurrent ist 24 Jahre alt; der
Militärsteuer ist man bis zum 40sten Altersjahr unterworfen). Dass eine solche
dauernde Steuerbefreiung im Widerspruch zum Gesetze bestehe, widerstreitet den
öffentlichen Interessen in viel höherem Masse als eine zu niedere
Steuerveranlagung für ein einzelnes Jahr. Auf der andern Seite ist nicht
ersichtlich, dass besondere persönliche Interessen des Rekurrenten, abgesehen
natürlich vom materiellen Interesse in der Sache selber, durch den Widerruf
der Verfügung verletzt würden. Der Widerruf ist verhältnismässig rasch
erfolgt, im Mai des ersten in Betracht kommenden Steuerjahres. Es kommen auch
keinerlei Veranstaltungen in Betracht, die der Rekurrent etwa im Vertrauen auf
den definitiven Charakter der Verfügung unternommen hätte. Spezielle Gründe,
weshalb die Rechtssicherheit die Aufrechterhaltung der Verfügung heischen
würde, bestehen daher nicht. Gegen die Zulässigkeit des Widerrufes können
Bedenken umsoweniger erhoben werden, als, wie ausgeführt, die Verfügung auf
einem offenbaren Versehen beruhte.
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