S. 146 / Nr. 27 Eisenbahnhaftpflicht (d)

BGE 55 II 146

27. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 16. Mai 1929 i. S. Erben
Kälin gegen Schweizerische Südostbahngesellschaft.

Regeste:
Eisenbahnhaftpflicht. Bei der Ausrichtung der Witwenrente ist auf die
Lebenserwartung des ältern der beiden Ehegatten, sowie auf die mutmassliche
Dauer der Erwerbsfähigkeit des Verunfallten abzustellen. EHG Art. 2.

Der Streit drehte sich u. a. um die Frage, ob die Witwenrente ohne Rücksicht
auf das Alter und die mutmassliche Dauer des Erwerbsfähigkeit des verunfallten
Ehemannes auf Lebenszeit der Witwe zuzusprechen sei.

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Erwägungen:
Die Vorinstanz hat die Witwenrente ohne Rücksicht auf das Alter des
verunfallten Ehemannes auf Lebenszeit der Witwe zugesprochen. Soweit geht
jedoch die Verpflichtung der Beklagten gemäss Art. 2 EHG nicht. Ein
Versorgerschaden ist nur solange vorhanden, als der Verunfallte mutmasslich
hätte für seine Familie sorgen können und die Klägerin dies erlebt hätte. Es
ist daher auf die Lebenserwartung des ältern der beiden Ehegatten abzustellen,
wie das Bundesgericht, entgegen einer Bemerkung im angefochtenen Urteil, in
ständiger Rechtsprechung erkannt hat (vgl. BGE 15 S. 252; 20 S. 419; 35 II S.
28) Kälin war im Moment des Unfalls 44½ Jahre alt, 14 Jahre älter als seine
Frau. Nach Tafel 1 der «Lebenserwartungs-, Barwert- und Rententafeln» von
Piccard (2. Auflage) betrug seine mittlere weitere Lebenserwartung noch ca. 24
Jahre. Die Witwenrente kann daher für höchstens 24 Jahre zugesprochen werden.
Anderseits ist an sich richtig, dass bei der Rentenfestsetzung Rücksicht
darauf genommen werden muss, ob der Verunfallte zeitlebens voll erwerbsfähig
geblieben wäre oder nicht. So hat das Bundesgericht in BGE 52 II S. 101 nur
eine reduzierte Rente zugesprochen mit der Begründung, die Erwerbsfähigkeit
des Verunglückten hätte mit vorgerücktem Alter voraussichtlich abgenommen (es
handelte sich dort um einen Arbeiter). Damit aber eine solche vorzeitige
Abnahme der Erwerbsfähigkeit angenommen werden kann, müssen bestimmte Gründe
in der Person des Verunfallten selbst vorliegen, die vom Richter nach freiem
Ermessen zu würdigen sind, solange nicht brauchbare
Wahrscheinlichkeitsberechnungen auch auf diesem Gebiet zur Verfügung stehen.
Die von der Beklagten produzierten Tabellen können nicht als taugliche
Grundlage für den Entscheid verwendet werden, weil sie sich nur auf die
Erwerbsfähigkeit der Beamten und Arbeiter des Bundes beziehen, während man es
im vorliegenden Fall

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mit einem selbständigen Inhaber eines Holzhandelgeschäftes, d. h. weder mit
einem Beamten noch mit einem Arbeiter zu tun hat, und der von der Beklagten
gemachte Vorschlag, das Mittel zwischen den für Beamte und für Arbeiter
gefundenen Werten zu nehmen, jeder objektiven Fundierung entbehrt. Hievon
abgesehen hat die Beklagte keinerlei Momente, welche eine vorzeitige
Herabsetzung der Erwerbsfähigkeit Kälins erwarten lassen könnten, nachgewiesen
noch auch nur behauptet. Die Erfahrungen des Lebens sprechen im Gegenteil eher
gegen den Standpunkt der Beklagten. Die blosse (kaufmännische und technische)
Leitung dieses Geschäftes hätte Kälin allein oder doch mit Hilfe seiner
Familie aller Voraussicht nach noch im vorgerückten Alter besorgen können, da
es sich ja dann um einen bereits eingeführten Betrieb gehandelt hätte, dessen
Aufrechterhaltung nicht mehr so grosse Anforderungen an den Inhaber gestellt
hätte wie die Gründung und die ersten Geschäftsjahre. Schliesslich ist auch
noch darauf hinzuweisen, dass Kälin zweifellos in der Lage gewesen wäre, einen
allfälligen Ausfall in den spätern Jahren durch die nicht unbeträchtlichen
Ersparnisse auszugleichen, die er bis dahin hätte machen können: Es steht
fest, dass er von seinen 17000 Fr. Jahreseinkommen höchstens 5000 Fr. für
seine Familie verwendet hat; auch wenn man die Aufwendungen für seine eigene
Person hoch veranschlagt, so bleiben doch immer noch 5-7000 Fr., die er
jährlich hätte zurücklegen können.
Es besteht daher kein Grund, die Renten aus diesem Gesichtspunkt heraus
zeitlich zu beschränken.