o

326 ' Staatsrecht.

Der angefochtene Entscheid ist kein Haupturteil im Sinne des Art. 58
OG und war daher nicht selbständig mit der Berufung ankechthar. VVOhl
aber ist er als letztinstanzlicher Entscheid in einer Zivilsache
nach Art. 87 O_G anzusehen. Allerdings wird darin nicht über eine
privatrechtliche,sondern lediglich über die prozessund betreibungsL
rechtliche Frage der Einhaltung'der Klagefrist entschieden ; es handelt
sich aber um eine aan kantonalem Boden endgültige Entscheidung über den
Bestand einer Prozessvoranssetznng in einem Zivilreehtsstreit. lm Urteil
i. S. Lörtsch gegen Obrist vom 1-1. Juli 1914 (AS 40 I S. 433EUR.) hat
sich das Bundesgericht bereits auf den Standpunkt gestellt., dass
ein letztinstanzlieher, endgültiger kantonaler Entscheid über die
prozessualische Zulässigkeit. der Beurteilung einer ZivilsacheGegenstand
der zivilrechtlichen Beschwerde bilden könne. Schon Vor dem Inkrafttreten
des revidierten Organisai'ionsgesetzes hat. es die AuffasL sung vertreten,
dass ein in einem Zivilxirozesse von der letzten kantonalen Instanz
erlasse-ver Entscheid, wodurch das Klagerechl in. Beziehung auf ein
Betreibung'soder Konkursw'erfahren infolge von Fristablauf als verwirkt
erklärt wird. wegen Anwendung kantonalen statt eidgenössischen Rechtes
nicht mit dem staatsrechtlichen Reknrse, sondern nur mit der Berufung
oder der Kassationsbeschwerde angefochten werden könne (vergl. AS 33
II S. 454, 35 ll S. 104 und Urteil i. S. Aebi & Cie gegen Kenknrsmasse
Leutenegger vom 10. März 1909 im Gegensatz zu den früheren Entscheidungen
AS 25 I S. 183 und 26 I S. 303 t.), während allerdings im umgekehrten
Falle, wo es sich um einen Ver-entscheid handeit, der das Bestehen
des prozessualischen Klage-rechts endgültig anerkennt-, die Berufung
oder Kassationsbesehwerde nie als zulässig erklärt wurde, dies wohl
deshalb. weil ein solcher Entscheid si sich nicht als Haupturteil
darstellt (vergl. AS 25 I s. 325). Da nun aber das neu eingeführte
Rechtsmittel der zivilrechtlichen Beschwerde im Gegen-satz zur frühem
Kassationsbeschwerde nicht nur gegen

Organisation der Bundesrechtspflege. N° 115. 327

Haupturteile zulässig und ausserdem dazu bestimmt ist, in (( Zivilsaehen
im Sinne des Art. 87 OG den staats- rechtlichen Rechirs wegen Verletzung
des Grundsatzes der derogatorischen Kraft des Bundesrechts gegenüber
dem kantonalen Rechte auszuschalten, so rechtfertigt es sich nicht mehr,
für die auf diesen Bedehwerdegrund gestützte Anfechtung von kantonalen
Entscheiden über die Ver-'; Wirkung des Klagereehts in Zivilprozessen
neben der Anmssfung der Zjvilabteilungen des Bundesgerichtes noch
diejenige des Staatsgeriehtshofs alternativ zuzulassen.

Auf die vorliegende Beschwerde ist daher nicht einzustreten.

Demnach erkennt das Bundesgericht :

Aus den Rekurs wird nicht eingetreten.

45. Urteil vom 18. Oktober 1919 i. S. Kuhn & schürt-h gegen Regierungsrat
Bern.

Art.17SZiff.3OG:LaufderRekursfristbeiDappelbesteuerungsheschwerden.

'A. Die Rekurrentin, eine Kollektivgesellsehait der Teilhaber Ernst Kuhn
in Biel und B. J. Schüreh in Zürich, betreibt unter der Firma Kuhn &
Schiirch, vorm. E. Kuhn, Nachfolger von J. Müller-Baumann mit Sitz in
Zürich die Bahnhofbuchhandlungen des SBB-Kreises III. Daneben ist der
Gesellschafter Kuhn noch Inhaber der Einzelfirma Ernst Kuhn. Buchhandlung
und Antiquariat, in Biel. '

Da das Steuerbureau Biel'anfangs IRS in Erfahrung brachte, das in den
Lager-räumen des Bieter Geschäftes von Ernst Kuhn auch Bücher der Firma
Kuhn & Schüreh aufbewahrt würden, stellte es dieser Firma ein Formular
Steuer-Erklärung zu. Und als die Firma dieses.

328 staatsrecht-

Formular unausgel'üllt mit dem Bemerken zurücksanclte, dass sie in Biel
kein Steuerdornizil habe, schätzte die Gemeindesteuerkommission Biel sie
,mit 40,000 Fr. Einkommen I. Klasse ein. Die Firma unterliess es. innert
der öffentlich bekannt gegebenen, allgemeinen Einsprachefrist hiegegen
aufzutreten, weil sie von der Einschätzung. welche die Steuerkornmission
ihr durch Zirkular noch besonders mitgeteilt haben will, nach ihrer
Angabe keine Kenntnis erhielt. Erst als ihr in der Folge, am 2. September
1918, der entsprechende Steuerzettcl mit den Beträgen der Gemeindeund
Staatssteuer zuging, stellte sie mit Eingabe ihres Anwalts vom 23. Oktober
1918 bei der Finanzdircktion des Kantons Bern unter Hinweis darauf, dass
ihre Besteuerung in Biel eine unzulässige Doppelbesteuerung bedeute,
das Gesuch :

Es sei mit Rücksicht auf das irrtümliche Vorgehen der Steucrhehörde von
Biel der Gesuchstellerin die Einrichtung obgenannter Steuer zu erlassen.

Hierüber traf der Regierungsrat des Kantons Bern am 5. Februar 1919
folgenden Entscheid:

Stcuernachlassgesuch. Die Firma v Kuhn & Schüreh, Bahnhofbuchhaudlungen,
Rathaus quai 12, in Zürich, wurde ss-sson den Steuerbehörden für
ihr steuerpflichtiges Einkommen I. Klasse pro 1916 in Biel auf 40,000
Fr. eingeschätzt. Sie reicht nun ein Gesuch um Erlass dieser Steuer
ein. Nach eingeholtem Gutachten der Steuerbehörden wird in Erwägung
gezogen: Nach den eigenen Angaben be sitzt die Gesuchstellerin in Biel
ein Kontrollbureau der Zweiggesehäkte und ein Lager zur Bedienung dieser
Filialen. Sie ist daher prinzipiell in Biel steuer pflichtig. Ueber die
Geschäftsergebnisse liegen keine Angaben und Ausweise vor; es kann daher
nicht geprüft werden, oh die T axation zu hoch ist oder nicht. Aus
diesen Gründen wird verfügt: Das Ge such ist abgewiesen- '-..W-...__

Organisation der Bundesrechtspflege. N° 45. 329

B. _ Gegenüber dieser; ihr am 27. Februar zugestellten Verfügung hat die
Firma Kuhn & Schürch mit Eingabe ihres Anwalt-s vom 23. April 1919 den
staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht, wegen verfassungswidrig-er
Doppelbesteuerung-. ergriffen und beantragt : '

1. In Abänderung der angefochtenen Verfügung des bernischen
Regierungsrates sei festzustellen, dass die Rekurrentin grundsätzlich
weder gegenüber dem Staate Bern, noch gegenüber der Gemeinde Biel
steuerpflichtig sei.

2. Demgemass sei zu erkennen, dass sie die in Biel von ihr geforderten
Steuerbeträge von insgesamt

· 2098 Fr. 80 Cts. für das Steuerjahr 1918 nicht schulde.

C. In seiner Vernehmlassung hat der Regierungsrat des Kantons Bern in
erster Linie die Einrede der Ver-' spatung des Rekurses erhoben. Er macht
geltend, die Rekurrentin habe von den streitigen Steueranspi'iichen schon
durch die öffentliche Auflage des Bieler Steuerregisters, im Mai 1918,
und jedenfalls durch die Zu-stellung des Stcuerzettels vom 2. September
1918 Kenntnis erhalten; die Frist zur Einreichung des staatsrechtlichen
Rekurses sei daher am 23. April 1919 längst abgelaufen gewesen; an
dieser Tatsache ändere die Einreichung des Steuernachlassgesnches nichts,
da der Regierungsrat in EinkOmmenssteuerangelegenheiten nicht mehr als
Rekursbehörde zu funktionieren habe, also keine Einkemmenssteueltaxation
treffen, aufheben oder abi-indem könne. -

Das Bundesgericht zieht in Erwägung :_

Die Rekurrentin hätte zur Geltendmachung ihres Standpunktes, dass sie nach
.der bundesgerichtlichen Praxis zum Doppelbestcuerungsverbot des Art. 46
Abs. 2
SR 101 Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999
Cst. Art. 46 Mise en oeuvre du droit fédéral - 1 Les cantons mettent en oeuvre le droit fédéral conformément à la Constitution et à la loi.
1    Les cantons mettent en oeuvre le droit fédéral conformément à la Constitution et à la loi.
2    La Confédération et les cantons peuvent convenir d'objectifs que les cantons réalisent lors de la mise en oeuvre du droit fédéral; à cette fin, ils mettent en place des programmes soutenus financièrement par la Confédération.10
3    La Confédération laisse aux cantons une marge de manoeuvre aussi large que possible en tenant compte de leurs particularités.11
BV in Biel nicht steuerpflichtig sei, gegenüber ihrer Einschätzung
durch die dortige steuer-behörde für das Jahr 1918 entweder'direkt im
Wege des staats-

rechtlichen Rekurses das Bundesgericht anrufen oder

330 Staats-echt-

vorerst das kantonale steuerbeschwerdeverkahren durchführen sollen. sie
hat aber weder das eine, noch das andere getan. Nach dem einschlägigen
bernischen Gesetz über die Einkommenssteuer vom 18. März 1865 ging die
kantonale Steuerbeschwerde zunächst an dieBezirkssteuerkommission (§ 18)
und sodann, je nach dem streitigen Steuerhetrag, weiter an die kantonale
Finanzdirektion oder an den Regierungsrat, denen derendgültige Entscheid
zustand (EUR 25).Diese letztere Kompetenzbestimmung ist jedoch durch
das kantonale Ge-setz betreffend die Verwaltungsrechtspflege vom 31-

Oktober 1909 dahin abgeändert worden, dass die Ent ss _

scheidnngen der Bezirkssteuerkommissionen an eine kantonale
Rekurskommission weiterzuziehen sind (Art.. 42), und dass gegen deren
Entscheidungen als letzte Instanz das Verwaltungsgericht angerufen
werden kann (Art. 11, Ziff. 6). Die Rekurrentin hätte somit jeden-'
falls nach Empfang des Steuerzettels vom 2. September 1918 (wenn
anzunehmen Wäre, dass sie zufolge ihrer grundsätzlichen Bestreitung
der Steuerpflicht in Biel; Anspruch auf eine besondere Mitteilung
ihrer Einschätzung gehabt habe, dass ihr eine solche aber nicht,
schon früher zugekommen sei) entweder den kantonalen Instanzenweg bis
zum Verwaltungsgericht durchlaufen, oder aber unmittelbar innert der
60tägigen Frist des Art. 178 Ziff. 3
SR 101 Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999
Cst. Art. 46 Mise en oeuvre du droit fédéral - 1 Les cantons mettent en oeuvre le droit fédéral conformément à la Constitution et à la loi.
1    Les cantons mettent en oeuvre le droit fédéral conformément à la Constitution et à la loi.
2    La Confédération et les cantons peuvent convenir d'objectifs que les cantons réalisent lors de la mise en oeuvre du droit fédéral; à cette fin, ils mettent en place des programmes soutenus financièrement par la Confédération.10
3    La Confédération laisse aux cantons une marge de manoeuvre aussi large que possible en tenant compte de leurs particularités.11
· OG an das Bundesgericht gelangen
Sollen. Ihre Eingabe an die kantonale Finanzdirektion vom 23. Oktober 1918
vermochte diese Rekursfrist nicht zu unterbrechen, da Finanzdirektion
und Regierungsrat seit der Einführung des Verwaltungs gerichts in der
Tat nicht mehr über Steuerbeschwerden zu entscheiden haben, wie sich
denn jene Eingabe auch gar nicht als förmliche steuer-b e s c h w e
r d e, sondem als hlosses Steuern a c h l a s s g es n c h (das als
solches die'bereits'reChtskräftige Feststellung der Steuer-f-ordernng.
voraussetZt) darstellt und vom Regierungs-; rate auch. in diesem Sinne
behandelt worden ist. 'Die;

js-1i)rik·eesetz. N413. '....1

Verspätungseinrede des Regierungsrates erweist sich demnach als begründet.

Demnach erkennt das Bundesgericht: Auf den Rekorswird nicht eingetreten.

Vgl. auch Nr. 42. Voir aussi n° 42.

B. ST KÄFER-Chlqu DHOlT PÉNAL

I. FABRIKGESETZ

LOI SUR LES FABRIQUES

46. Urteil des Kassationshofes vom 7. Juli 1919 ' 1.3.Schuhfabrik Baden
A. -G-. 11. Guggenheim gegen Rolle.

Das Fiskalstrafverfahren (BG vom 30. Juni 1849) findet bei Uebertretnngen
des Fabrikgesetzes (FG) nicht Anwendung. -Auch diekahrlässigeUebertretung
des Art. 2 Abs. 3 11. 4 F G ist strafbar. Eine solche liegt vor bei
einem offenkundigeu Mangel gebotener Schutzvorkehren. Strafbar--

'keit der Aktiengesellschaft als solcher für Uebertretungen

des Fabrikgesetzes.

A. _ Am 31.0ktobe1 1911 verunfallte die Kassationsbeklagte Emma Rolle
als Arbeiterin der Schuhiabrik Baden A -G. in der Weise, dass sie
mit der rechten Hand zwischen die 7 ahnrader der von ihr bedienten
sog. Egalisiermaschine geriet, wobei ihr sämtliche Finger dieser '
Hand abgequetscht wurden. Eine an der Maschine normalerWeise vorhandene
Schutzx' orriehtnng, die den Unfall ausgeschlossen hätte, War zum Zwecke
ihrer Reparatur entfernt Werden und fehlte am Uniaiistage seit mehreren
Wochen. Auf Veranlassung der Vernniallten leitete die aar--