52 Staatsreeht.

noch weiter zu erleichtern, hat sich das Bundesgericht nicht zu
befassen. Es genügt, festzustellen, dass ein Ver'stoss gegen Bundesoder
kantonales Verfassungsrecht, wie er im Falle Schlumpf gegen Baselland (AS
40 I N° 41} gegeben war und zur Gutheissung der Beschwerde nach Art. 180
Ziff. 5 OG erforderlich wäre, nicht vorliegt. (Gestützt auf diese
Erwägungen ist der Antrag auf Kassation der Abstimmung abgewisen worden.)

8. Urteil vom 9. März 1916 i. S. Wiedemeier und Mitbeteiligte gegen
Aargau.

Die Durchführung eines offenbar gesetzwidrigen Wahlveriahrens verstösst
gegen die Garantie des Art; 4 BV.

A. Das Revidierte allgemeine Wahlgesetz des Kantons Aargau vom 22. März
1871 unterscheidet (§ 1) zwei Arten von 'Wahlverhandlungen; die Wahlen
werden ent-' weder in Wahlversammlungen oder vermittelst der Wahlumen
vorgenommen. Die Wahlversammlung besteht in der Einwohnergemeinde aus
den stimmbereehtigten Einwohnern der Gemeinde; sie nimmt nach erfolgter
Konstituierung die ihr obliegenden Wahlen mit gleichzeitiger Stimmabgabe
aller Teilnehmer geheim oder offen vor. Bei den Wahlen vermittelst der
Wah'furnen dagegen übt jeder Stimmberechtigte einzeln innerhalb der
hiefür angesetzten Zeit unter Aufsicht des Wahlbureaus durch Einlage
des Wahlzettels in die Urne sein Stimmrecht aus.

Das aarg. EG vom 17. März 1891 zum SchKG bezeichnet die Einwohnergemeinde
als Betreibungskreis und bestimmt in § 2 : Der Betreibungsbeamte und
sein Stellvertreter werden durch die Einwohnergemeindeversammlung in
geheimer Abstimmung gewählt.

B. Mit Verordnung vom 31. August 1915 hat der Regierungsrat des Kantons
Aargau die ,Gemeinden angewiesen, die Neuwahl der Betreibungsbeamten
und ihrer

Politisches Stimmund Wahlrecht. N° 8. s 53

Stellvertreter für die Amtsdauer vom 1. Januar 1916 bis 31. Dezember
1919 bis längstens den 30. November 1915 vorzunehmen, und dabei unter
Verweisung auf 52 EG zum SchKG ausdrücklich bemerkt (Ziff. 4): Die Wahl
hat in der Einwohnergemeindeversammlung mittelst geheimer Abstimmung zu
erfolgen, und es sind hiefür die Vorschriften des revidi'erten allgemeinen
aargauischen Wahlgesetzes vom 22. März 1871 . . . . massgebend.

Hierauf ist dieser Wahlakt in der Gemeinde Gebenstort' auf Sonntag den
26. September 1915 angesetzt, jedoch vermittelst der Wahlurne (die in
einem Teil der Gemeinde schon am Vortage aufgestellt wurde) vorgenommen
worden, gleichzeitig mit einer vom Bezirksamt angeordneten, gesetzesgemäss
durch Urnenabstimmung vorzunehmenden Wahl in die Kirchenpflege der
reformierten Kirchgemeinde Gebenstorf Birmenstorf Turgi,' und zwar mit
dem Ergebnis, dass als Betreibungsbeamter bei einem absoluten Mehr von
107 stimmen Blasius Buck mit 114 Stimmen gegenüber 89 Stimmen, die auf
den bisherigen Amtsinhaber Adolf Pabst entfielen gewählt wurde.

Wegen dieses Wahlverfahrens haben sechs Stimmherechtigte (Alb. Wiedemeier,
a. Wagenwärter; Lukas Killer, a. Gemeinderat; Hermann Küng, Landwirt;
Jos. Wiedemeier, Statthalter; Alb.Wiedemeier, Schlosser, und Robert
Wiedemeier, Sohn) beim Bezirksamt Baden zu Handen der kantonalen
Direktion des Innern Beschwerde erhoben und Aufhebung des ungesetzlich
durchgeführten Wahlaktes verlangt.

Die Direktion des Innern hat die Beschwerde, entgegen dem auf ihre
Gutheissung abzielenden Bericht des Bezirksamtes, mit der Begründung
abgewiesen, dass die allerdings zuzugebende Abweichung vom gesetzlich
vergesehriebenen Wahlverfahren hier deswegen keinen genügenden
Kassationsgrund bilde, weil keine Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass
dadurch das Wahlresultat Wirklich beeinflusst worden sei. Und mit B e
s c h l u s s v o m

54 ss Staatsrecht.

11. Dezember 1915 hat der Regierungsrat des Kantons Aargau diesen
Entscheid aus wesentlich folgenden Erwägungen bestätigt: Es sei zu
konstatieren, dass die allgemeine Tendenz bestehe, Wahlen, für welche noch
die Gemeindeversammlung vorgesehen sei wie für die der Betreibungsbeamten,
Rechnungsund Steuerkommissionen usw. , durch die Urne vorzunehmen, und
dass die Direktion des Innern dieser Tendenz nicht entgegengetreten
sei, während der Regierungsrat selbst noch nie in den Fall gekommen
sei, zu der Frage Stellung zu nehmen. So sei denn auch im Entwurfe
zu einem neuen Wahlgesetz vom Jahre 1907 für die Betreibungsbeamten
die Urnenwahl vorgesehen gewesen. Ferner sei zu konstatieren, dass in
Gebenstorf schon in den zwei frühem Amtsperioden der Betreibungsbeamte
durch die Urne gewählt worden sei, und zwar auf Betreiben von Lukas
Killer, dessen Beteiligung an der heutigen Beschwerde sich insofern
sonderbar ausnehme. Der Behauptung der Beschwerdeführer, dass es sich
bei dem verordnungswidrigen Vorgehen der Gemeinde-behörde um eine mit
Erfolgsidurchgefùhrte Ueberrumpelung der Wählerschaft handle, stehe
die aus dem Bericht des Gemeinderates hervorgehende Tatsache entgegen,
dass schon am Tage vor der Wahl für beide Kandidaten Wahlvorschläge
verteilt worden seien. Mit Rücksicht darauf, dass das Bezirksamt auf den
gleichen Tag Urnenwahl für ein Mitglied der reformierten Kirchenpflege
Gebenstorf-Turgi angesetzt gehabt habe, hätte gegen den Gemeinderat mit
Recht der Vorwurf gemacht werden können, er verfolge unlautere Absicht,
wenn er in Abweichung der in Gebenstorf bestehenden Praxis daneben für
die Betreibungsbeamtenwahl wieder Gemeindeversammlung angeordnet hätte .

C. Innert der gesetzlichen Frist von der Zustellung dieses
Regierungsratsbeschlusses an haben die sechs Beschwerdeführer den
staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen und beantragt,
es sei in Aufhebung der Verfügung der Direktion des Innern und des regie-

Politisches Stimmund Wahlrecht. N° 8. 55

rungsrätlichen Entscheides die Wahl des Betreibungsbeamten von
Gebenstorf vom 25.126. September 1915 als ungesetzlich und gegen
Art. 4
SR 101 Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999
Cst. Art. 4 Langues nationales - Les langues nationales sont l'allemand, le français, l'italien et le romanche.
BV verstossend aufzuheben und der Regierungsrat einzuladen, eine
Neuwahl gemäss ga aarg. EG zum SchKG anzuordnen. Zur Begründung wird
wesentlich geltend gemacht, die Behörden seien nicht berechtigt, eine
Gesetzesvorschrift, solange sie in Kraft stehe, einfach nicht anzuwenden;
dies bedeute Willkür und bilde ein Schulbeispiel der Verletzung des
Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetze , die nicht nur formelle,
sondern auch materielle Bedeutung habe, indem hier bei Durchführung der
gesetzlich vorgeschriebenen Wahl in der Gemeindeversammlung mit freier
Diskussion, statt der Urnenwahl mit der Agitation durch Wahlzettel,
die Beseitigung des bisherigen, rechtschafl'enen und verdienten
Betreibungsbeamten nicht möglich gewesen wäre.

D. Der Regierungsrat des Kantons Aargau hat Abweisung des Rekurses
beantragt und sich dabei auf die Bemerkung beschränkt, es wäre
unzutreffend, anzunehmen, dass die Wahl des Betreibungsbeamten durch die
Urne, statt durch die Einwohnergemeindeversammlung, nirgends anderswo,
als in Gebenstorf, vorgekommen sei und dass die Rekurrenten sich über
die bevorstehende Wahl nicht genügend hätten orientieren können.

Das Bundesgericht zieht i n E r w 'a' g n n g :

Es steht unbestrittenermassen fest, dass die Wahlen der aargauischen
Betreibungsbeamten und ihrer Stellvertreter nach der Vorschrift des
52 EG zum SehKG durch die Einwohnergemeindeversammlung das heisst
im wahlgesetzmässigen Verfahren in Wahlversammlungen , im Gegensatz
zum Verfahren vermittelst der Wahlurnen vorzunehmen sind. Der
angefochtene Wahlakt der Einwohnergemeinde Gebenstorf ist somit in
offenbar gesetzwidriger Weise als Urnenwahl durchgeführt

56 staatsrecht.

worden, und die kantonalen Aufsichtsbehörden (Direktion des
Innern und Regierungsrat) haben sich dieser Missachtung des klaren
Gesetzesrechtes durch die Ahweisung der sie rügenden Beschwerde der
Rekurrenten mitschuldig gemacht. Darin liegt nach ständiger Praxis
des Bundesgerichts eine Verletzung der Garantie des Art. 4
SR 101 Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999
Cst. Art. 4 Langues nationales - Les langues nationales sont l'allemand, le français, l'italien et le romanche.
BV. Die zur
Rechtfertigung des ungesetzlichen Wahlverfahrens vor-gebrachten Argumente
sind unheheiklich. Der allgemeinen Tendenz , das Urnenwahlsystem
an Stelle des Systems der Wahlversammlung zur Anwendung zu bringen,
dürfen die Verwaltungsbehörden als solche keine Rechnung tragen, solange
dieselbe nicht zur rechtmässigen Abänderung der ihr entgegenstehenden
gesetzlichen Ordnung geführt hat. Das gesetzliche Wahlverfahren konnte
durch blosse Zuwiderhandlungen, selbst wenn sie nicht nur vereinzelt
vorgekommen sein sollten, nicht rechtswirksarn beseitigt werden. Und
ebensowenig konnte hier der besondere Umstand, dass in Gebenstorf am
gleichen Tage eine andere Wahl gesetzesgemäss vermittelst der Wahlurne
zu treffen war, den Gemeinderat von der Pflicht enthinden, zur Wahl
des Betreihungsheamten und seines Stellvertreters die hiefür gesetzlich
vorgeschriebene Wahlversammlung einzuherufen. Unhalthar ist endlich auch
die vom Regierungsrat stillschweigend gebilligte Erwägung der Direktion
des Innern, von der Kassation des ungesetzlichen Wahlaktes könne hier
deswegen Umgang genommen werden, weil keine Anhaltspunkte dafür vorlägen,
dass das Wahlresultat durch die Abweichung vom gesetzlich vorgeschriebenen
Wahlverfahren wirklich beeinflusst worden sei. Diese Erwägung
könnte nur in Betracht fallen, wenn es sich um eine Beeinträchtigung
des individuellen Stimmoder Wahlrechts selbst, durch rechtswidrige
Verhinderung von Bürgern an der Stimmabgabe, handeln würde (vergl. BGE
40 I N° 41 Erw. 2 S. 364 und die dortigen Verweisungen). Dagegen muss die
Einhaltung des gesetzlich vorgeschriebenen Wahloder Abstimmungsverfahrens,
bei dem die Art und Weise

Politisches Stimmund Wahlrecht. N° 8. 57

der A u 5 ii b u n g des anerkannten Stimmoder Wahl-

' rechts in Frage steht, grundsätzlich als wesentliche Be-

dingung für das Zustandekommen einer gültigen Wahl oder Abstimmung
angesehen werden, da diese Formvorschriften ihrem Sinne und Zwecke nach
präsumtiv notwendig sindum die richtige Kundgebung des Willens-der
Stimmberechtigten zu gewährleisten. Anders zu entscheiden würde
sich jedenfalls nur dann rechtfertigen, wenn die Möglichkeit einer
Beeinflussung des Wahlresultates durch die Abweichung vom gesetzlich
vorgeschriebenen Wahiveriahren ganz und gar ausgeschlossen wäre (so
die Entscheidungen des Bundesrates : SALIS, Bundesrecht, III N°ii79
S. 319 und N°11'i'9 a S. 321 1322). Hievon kann aber vorliegend
nach dem Stimmenergehnis der streitigen Wahl doch wohl nicht die
Rede sein. Folglich ist der angefochtene Beschluss des aargauischen
Regierungsrates (der die vorgängige Verfügung der Direktion des Innern
ersetzt hat und daher für das staatsrechtliche Rekursverfahren allein
in Betracht fällt) im Sinne der Ungültigerklärung dieser Wahl aufzuheben.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Beschluss des
Regierungsrates des Kantons Aargau vom ll. Dezember 1915 aufgehoben und
die am 25. ]26. September 1915 in der Gemeinde Gebenstorf vorgenommene
Wahl des Betreibungsheamten und seines Stellvertreter-s für ungültig
erklärt wird.