354 Staatsrecht.

III. POLITISCHES STIMMUND WAHLRECHTDROIT ÉLECTORAL ET DROIT DE VOTE

41. Urteil vom 11. Dezember 1914 i. S. Schlumpf und Mitbeteiligte gegen
Basel-Landschaft.

Anfechtung kantonaler Wahlen. Voraussetzungen der
Beschwerdeführung. Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses der im
aktiven Militärdienst stehenden Stimmberechtigten, soweit Rücksichten
des Dienstbetriebes ihre Beteiligung an den Wahlen (im Dienste selbst)
nicht verunmöglichen, nach basellandschaftlichem Recht.

A. Laut Bekanntmachung im kantonalen Amtsblatt vom 30. Juli 1914 hatte
der Regierungsrat des Kantons Basel-Landsch aft die in sämtlichen
politischen Gemeinden des Kantons vorzunehmende Neuwahl folgender
Bezirksund Kreisbeamten : der Bezirksstatthalter und Bezirksschreiber,
der Präsidenten, der Mitglieder (je 6) und Ersatzmänner (je 2) und
der Gerichtsschreiber der Bezirksgerichte und der Friedensrichter
und ihrer Stellvertreter, für die Amtsdauer vom 1. Oktober 1914 bis
30. September 1917 auf Sonntag, den 30. August 19l4 angesetzt. Diesen
Wahltag verschob er dann, laut Bekanntmachung vom 22., "27. August,
im Hinblick auf den Umstand, dass sich am 30. August 1914 ein grosser
Teil der Stimmbereclitigten im aktiven Militärdienst befinden werde, auf
Sonntag, den 27. September, mit Nachwahlen am 4. Oktober 1914. Dagegen
lehnte er auf gestellte Anfrage durch Beschluss vom 23. September 1914
eine weitere Verschiebung der Wahlen wegen des mit dem 30. September
eintretenden Ablaufe der Amtsdauer der fraglichen Beamtungen ab und
liess dabei verkünden': Den im aktiven Militärdienst be kindlichen
Stimmberechtigten kann die Ausübung des Stimmrechte nicht ermöglicht
werden, da der Standort

TPolitisches Stimmund Wahlrecht. N° 41. 355

der verschiedenen Truppenteile nicht bekannt ist und überdies bei den
vielerlei Wahlen, die zu treffen sind, die Durchführung ganz erhebliche
Schwierigkeiten bieten Würde.

Mit Eingabe vom 29. September 1914 erhob Oberlieutenant Gustav Bovet,
Rechtsanwalt in Basel, namens

einer grösseren Anzahl Offiziere, Unteroffiziere und Sol-

daten des Landschäftler Füsilierbataillons 52, dem er selbst zugeteilt
ist, beim Regierungsrat gegen die am 27. September abgehaltenen'Wahlen
Einsprache und beantragte, es seien diese Wahlen nichtig zu erklären und
neue Wahlen anzuordnen, bei denen es den im aktiven Dienst stehenden
Stimmberechtigten möglich gemacht werde, von ihrem Wahlrecht Gebrauch
zu machen. Dieser Einsprache beschloss der Regierungsrat am 1. Oktober
1914 keine Folge zu geben. Er wies wiederum darauf hin, dass eine
weitere Hinausschiebung der Wahlen wegen des bevorstehenden Ablaufs der
verfassungsmässigen Amtsperioden nicht möglich gewesen wäre, und führte
anschliessend aus : Wenn die Einsprache sich darauf berufe, dass dem
Militär laut Vorschrift der Verfassung (Art. 3) und des Wahlreglements
(% 3) hätte Gelegenheit gegeben werden müssen, das Stimmrecht auszuüben,
so sei 'dem entgegenzuhalten, dass diese Vorschriften jedenfalls nur
für Rekrutenschulen und gewöhnliche W'iederholungskurse erlassen worden
seien, für den aktiven Militärdienst aber nicht in Frage kommen könnten.
Eine richtige Durchführung derselben wäre im gegenwärtigen Dienste
überhaupt nicht möglich gewesen und habe vernünftigerweise auch nicht
verlangt werden können. Denn es kämen nicht etwa nur einige mehr oder
weniger geschlossene Abteilungen in Frage, wo die Wahlverhandlungen,
wie z. B. in Wiederholungskursen, in aller Ordnung vorbereitet und
durchgeführt werden könnten, sondern die Stimmberechtigten lägen in
den verschiedensten Gemeinden und Ortschaften der ganzen Schweiz in
Kantonementen, wo ihnen vielfach die Bil-355 Staatsrecht.

dung eines ordentlichen Wahlvorstandes nicht möglich gewesen wäre oder
die zur Ausübung des Stimmrechtes erforderliche Zeit nicht. zur Verfügung
gestanden hätte. Nach einer Zusammenstellung des Kreiskommandos hätten
am 27. September die, Stimmberechtigten aus dem Kanton Basel-Landschaft
bei zirka 70 verschiedenen Einheiten in Dienst gestanden. Anderseits sei
zu berücksichtigen, dass es sich nicht nur etwa um die Wahl eines oder
mehrerer kantonaler Beamten, bei denen der gesamte Kanton einen Wahlkreis
bilde, gehandelt habe, sondern um die Wahl des Beamtenpersonals für die
vier Bezirke, von denen überdies zwei für bestimmte Beamte wieder in je
zwei Kreise zerfielen,(Bezirksschreibereikreise Arlesheim und Binningen;
Gerichtsbezirke Sissach und Gelterkinden), und der Friedensriehter nebst
ihren Stellvertretern für die 18 Friedensrichterkreise. Dass es bei diesen
verschiedenartigen und vielgestaltigen Wahlkreisen und hinwiederum bei den
zahlreichen und ver;schiedenen, dem Regierungsrate zudem nicht bekannten
Standorten der im Dienste stehenden Stimmberechtigten einfach ein Ding der
Unmöglichkeit gewesen wäre, eine ordnungsgemässe Teilnahme des Militärs
durchzuführen, bedürfe wohl keines weiteren Nachweises. Der Vorwurf der
Einsprache, es habe der Regierungsrat das Militär leichtfertig um seine
verfassungsmässigen politischen Rechte gebracht, müsse deshalb als ein
unverständlicher und unüberlegter allen Ernstes zurückgewiesen werden. Die
Einsprecher hätten übrigens ihr Wahlrecht in der Weise an ihrem Wohnort
ausüben können, dass sie zu diesem Zwecke Urlaub verlangt bezw. den ihnen
am Sonntag erteilten Urlaub zu diesem Geschäfte benützt hätten. Deundurch
die Verfassung und das szlahlkegleI ment sei nicht vorgeschrieben, dass
die im Militärdienst befindlichen Stimmberechtigten nicht. am Wohnorte
stimmen dürften, sondern-es sei nur gesagt, dass sie an ihren. Standorten
stimmen können, unter der selbstverständiichen-Voraussetzung dass die
Verhältnisse im YPolitisches Stimmund Wahlrecht. N° 41. 357

allgemeinen dies möglich machten, was diesmal eben nicht der Fall
gewesen sei.

B. Mit Eingabe vom 13./14. Oktober 1914 hat Oberlieutenant Bovet im
Namen und mit Vollmacht von 132 Offizieren, Unteroffizieren und Soldaten
des Füsilierbataillons 52 beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde
erhoben mit dem Antrag: 'Die oben erwähnten Beschlüsse des Regierungsrates
des Kantons Basel-Landschaft vom 23. September und 1. Oktober 1914
seien aufzuheben, die am 27. September und 4. Oktober 1914 im Kanten
Basel-Landschaft stattgehabten Wahlen der Bezirksund Kreisbeamten
seien als rechtsungültig Zu erklären und zu kassieren, und es sei der
Regierungsrat von Bundes wegen anzuhalien, neue Wahlen .anzuordnen,
wobei es den im aktiven Militärdienst stehenden Stimm-berechtigten des
Füsilierhataillons 52 ermöglicht werde, ihr Stimmrecht auszuüben.

Die Begründung des Rekurses stützt sich in rechtlicher Hinsicht auf Art. 3
der basellandschaftlichen stV vom 4. April 1892 in Verbindung mit §
3 des kant. Reglements betr. Wahlen und Abstimmungen vom 23. November
1896, wonach das im Dienste befindliche Militär das Stimmrecht in
kantonalen Angelegenheiten an dem Orte ausüben kann, wo'es am W'ahloder
Abstimmungstage im Dienst steht. Dieses verfassungsmässig garantierte
Stimmrecht der Rekurrenten habe der Regierungsrat ohne triftigen Grund
verletzt. Seine Annahme, dass die erwähnten Vorschriften nicht auch für
den aktiven Dienst gelten, sei willkürlich, und seine Einwendungen zum
Nachweise der Unmöglichkeit einer ordnungsgemässen

' Durchführung der Wahlen bei den Truppen beruhten, wie

näher ausgeführt wird, auf durchaus unrichtigen Voraussetzungen. Die
Regelung und Vornahme dieses Wahlgeschäftes hätte keineswegs
unüberwindliche Schwierigkeiten geboten, sondern lediglich eine gewisse
Mehrarbeit der Staatsverwaltung erfordert, die diese zu leisten
ver pflichtet gewesen sei. Der Regierungsrat habe sich mit der 358
staatsrecht-

Frage, wie den im Militärdienst stehenden Stimmberechtigten Gelegenheit
zur Teilnahme an den Wahlen geboten werden könnte, überhaupt nicht
ernstlich befasst; insbesondere hahe er jede Erörterung derselben mit
den miiltärischen Kommandostellen unterlassen. Auch seine Behauptung,
die Rekurrenten hätten ihr Wahlrecht ja an ihren Wohnorten ausüben
können, sei haltios; denn um das zu tun, hätten die Mannschaften der
basel-landschaftlichen Truppen bei ihrer damaligen Dislokation (im Kanton
Bern) und der Beschränkung ihres Ausgangsrechtes für den 27. September
eines besonderen Urlaubes bedurft, der allgemein überhaupt nicht hätte
bewilligt werden können und unzweifelhaft schon deswegen grundsätzlich
nicht bewilligt worden wäre, weil ja die Ver_ fassung von Basel Land die
Ausübung des Stimmrechtes am Standort der Truppen versehe. Dies werde
eine gerichtliche Anfrage beim Divisionskommando bestätigen.

C. Der Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft hat mit Vernehmlassung
vom 21. Oktober 1914 Abweisung des Rekurses beantragt.

Er führt in tatsächlicher Hinsicht aus: Von 16,750 Stimmberechtigten
hätten am 27. September 1914 im ganzen 3992 an den Wahlen teilgenommen;
4000 seien im aktiven Militärdienst gestanden und zwar bei rund 70
Einheiten, deren Standort dem Regierungsrat nicht bekannt gewesen sei. Für
die Wahlen seien 28 (recte: 29) verschiedene Wahlzeddel gedruckt werden
und zur Verteilung gelangt. Am 27. September seien alle Wahlen zustande
gekommen, mit Ausnahme derjenigen des Gerichtspräsidenten von Arlesheim
und des Friedensrichters des Sprengels Liestal ; der zweite Wahlgang
habe in Arlesheim am 7. (recte : 4.) und im Liestal am 11. Oktober
1914 stattgefunden. In der Folge hätten dann noch zwei Mitglieder des
Bezirksgerichtes Waldenburg Nichtannahme der Wahl erklärt, und es sei
die Ersatzwahl auf den 25. Oktober 1914 angesetzt worden· Gegen diese
Nachwahlen sei keine Einsprache

YPolitisches Stimmund Wahlrecht. N° 41. 359

erhoben worden. Die neu gewählten Beamten. seien nun alle in Funktion
und es würde deshalb im Falle einer Begründeterklärung des Rekurses
auch die Frage zu entscheiden sein, welche Bewandtnis es mit den seit
dem ]. Oktober vollgezogenen und bis zum Zustandekommen der neuenWahlen
noch zu vollziehenden Amtshandlungen haben solle.

Rechtlich hält der Regierungsrat an der Begründung der angefochtenen
Beschlüsse, von denen der erste, vom 23. September, hauptsächlich zur
Orientierung der gesamten Bevölkerung und der Wahlbehörden gefasst
und veröffentlicht worden sei, fest. Er weist den Vorwurf, sich über
die Frage der Ausübung des Wahlrechts durch das Militär leichthin
hinweggesetzt zu haben, neuerdings zurück und betont, wenn er sich
auch mit den Kommandanten der verschiedenen Einheiten, trotz ihres ihm
unbekannten Standortes, hätte in Verbindung setzen können, so wäre doch
als erste grosse Schwierigkeit die Frage aufgetaucht, wie die ,Verteilung
bezw. die Zustellung der verschiedenen amtlichen Stimmzeddel an die bei
den 70 Einheiten eingeteilten Stimmberechtigten zu erfolgen hätte. Auf
diese Frage eine befriedigende Antwort zu geben, sei der Verfasser des
Rekurses jedenfalls kaum im Falle. Er scheine die Auffassung zu haben,
dass doch wenigstens den beiden Auszügerbataillonen 52 und 53 hätte
Gelegenheit geboten werden sollen, das Wahlrecht, und zwar wenigstens
in Bezug auf die grössern Bezirksund Kreiswahlen, auszuüben. Allein es
wäre nicht zulässig gewesen, die Angehörigen der verschiedenen Einheiten
ungleich zu behandeln, und auch bezüglich der verschiedenen Wahlen hätte
kein Unterschied gemacht werden dürfen. Ferner hätte man das Militär,
wenn es bei den Hauptwahlen vom 27. September zugelassen werden wäre, dann
in gleicher Weise auch an den Nachwahlen teilnehmen lassen müssen. Was
aber die derart wiederholt begrüssten Einheitskomman-danten, sowie die
als Wahlvorstände in Anspruch ge-

360 Staatsrecht.

nommenen Offiziere und Soldaten gesagt hätten, brauche nicht näher
ausgeführt zu werden. Die Ausübung des Stimmund speziell des Wahlrechtes
werde, auch wenn sie durch eine kantonale Verfassung garantiert sein
sollte, im aktiven Dienst vielfach verunmöglicht, weil eben durch die
Kriegslage ausnahmsweise Verhältnisse geschafft-n würden. Wie schwierig
es sei, das Militär gegenwärtig an Wahlen teilnehmen zu lassen zeige
der Umstand, dass der Bundesrat nn Einvernehmen mit dem General es für
notwendig erachtet habe, in einem besonderen Besehlusse vom 23. September
1914 das Verfahren für die Beteiligung der Wehrmänner bei den National und
Ständeratswahlen zu regeln, obschon doch hier verhältnismässig einfache
Verhältnisse vorgelegen hätten. .

In einem Nachtrage vom 28. Oktober 1914 weist der Regierungsrat noch
darauf hin, dass der Bundesrat es für notwendig erachtet habe, für die
eidgenössisohe Abstimmungsund Wahlverhandlung vom 25. Oktober ausser
seinem Besehlusse vom 23. September noch eine besondere Instruktion
zu erlassen, worin den Einheitskommaudanten und den Mitgliedern der
Wahlbüreaus über das einzuhaltende Verfahren sehr ausführlicheWei-sungen
erteilt worden seien. Auch habe sich, wird beigefügt, am 25. Oktober
herausgestellt, dass die Wehrmänner von Baselland an 212 verschiedenen
Orten zu stimmen gehabt hätten. Von den in entsprechender Zahl
eingeschickten Abstimniungsbezw. Wahlprotokolien hätten verschiedene
Mängel und Fehler aufgewiesen, sodass sie alle an Hand der einzelnen
Stimmzeddel hätten nachkontrolliert werden müssen. Die Vornahme dieser
Kontrolle sei eine grosse Arbeit gewesen; das Personal der Landeskanzlei
habe volle drei Tage damit zu tun gehabt.

D. Das Kommando der 4. Armeedivision, der die hier In Betracht fallenden
Truppen des Kantons Baselland angehören, hat auf entsprechende Fragen
desPolitisches Stimmund Wahlrecht. N° 41. 361

Instruktionsrichters mit Schreiben vom 30. Oktober 1914 wesentlich
folgende Auskunft gegeben : Wenn auch das Divisionskommando die Anordnung
politischer-Wahlen und Abstimmungen während des aktiven Dienstes
durchaus nicht als wünschenswert erachte, so habe doch die Abhaltung
der eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen vom 24./25; Oktober 1914
den Nachweis erbracht, dass bei sehr sorgfältiger Vorbereitung und in
einem Zeitpunkte verhältnismässiger Ruhe im Grenzgebiet eine korrekte
Durchführung der Wahlverhandlungen durchaus möglich sei. Auch die Zahl
der vorliegend in Frage stehenden Wahlzeddel hätte keine unüberwindlichen
Schwierigkeiten geboten, da bei den eidgenössischen Wahlen einzelne
Bataillone 40 und mehr Wahlkreise zu bedienen gehabt hätten. Der Umstand,
dass der Standort der Truppen der Regierung nicht bekannt gewesen sei,
spiele keine Rolle, da die Adressierung der Wahllisten usw. durch die
Feldpost, der sämtliche Adressen bekannt seien, sicher hätte erfolgen
könnenDer Dienstbetrieb am 27. September hätte eine Durchführung der
Wahlen an den militärischen Standorten zweifellos gestattet, und ein
Gesuch der Regie-' rung von Baselland an ihre kantonalen Truppen, am
Sonntag, 252. September, zur Vornahme der Wahlen in ihre Heimatorte
zu gehen,. Wäre im Hinblick hierauf und auf die von den Rekurrenten
angeführten Gründe wahrscheinlich abschlägig beschieden werden-.

Ferner hat das Schweizerische Militärdepartement eine Anfrage des
Instruktionsrichters (über die Möglichkeit der Durchführung kantonaler
Wahlen oder Abstimmungen bei den im aktiven Dienste stehenden Truppen
vom militärischen Standpunkte aus) durch den Generalstabschef der Armee
wie folgt beantwortet: Der im Jahre 1888 revidierte Art. 4 des BG Vom
19. Juli 1872 beziehe sich nur auf eidgenössische Wahlen und Abstimmungen,
und es hätten bundesrechtlich die Kantone grundsätzlich keinen Anspruch
darauf, dass

352 Staatsrecht.

in der Armee eine Teilnahme kantonaler Stimmberechtigter an kantonalen
Wahlen und Abstimmungen angeordnet werde. In der Armee sei die
Organisation einer solchen Teilnahme Sache des Armeeund nicht eines
Dlvisionskommandos, auch dann, wenn die Stimmberechtigten meist einer
bestimmten Division angehörten. _Nun sei das Armeekommando grundsätzlich
gerne bereit, zur Teilnahme von Stimmherechtigten an solchen Wahlen
und Abstimmungen und zu entsprechender Organisation der Wahlund
Abstimmungsgeschäfte in der Armee Hand zu bieten. Allein es müssten hiebei
die militärischen Rücksichten vorbehalten werden, die z.B. möglicherweise
die Vornahme des betreffenden Wahloder Abstimmungsgeschäftes an dem Tage
verunmòghchen könnten, für welchen es im Kanton selbst angeordnet und in
der Armee auch vorgesehen und vorbereitet worden sei. In einem solchen
Falle müsste das Geschäft in der Armee sistiert werden oder man müsste auf
die Wahl oder Abstimmung verzichten. Unter Wahrung dieser Rücksichten und
der entsprechender Entschlussund Handlungsfreiheit des Armeekommando aber
sei die Möglichkeit der Durchführung kantonaler Wahlen oder Abstimmungen
im aktiven Dienst grundsätzlich zu bejahen. Die Schwierigkeit der
Oranisation der Wahlund Abstimmungsgeschäfte in der Armee sodann sei vor
allem aus eine örtliche, durch die mitunter zersplitterte Verteilung der
Stimmberechtigten unter den verschiedenen Truppenkörpern gegebene. In
den Einheiten, die nur eine ganz geringe Zahl solcher Stimmberechtigten
enthielten, müsse auf eine solche Organisation verzichtet werden, und
es bliebe dem Kanton nur die Möglichkeit dass die Stimmberechtigten die
Wahl-oder Abstimmungszeddel von den kanLonalen Behörden individuell
per Post erhielten und/ sie ebenso zurückschickten. Bei Wahlen und
Abstimmungen nach Kreisen steige naturgemäss die Zahl der Wehrmänner,
welche in die eben bezeichnete Lage kämen. Abgesehen

rPolitisches Stimmssund Wahlrecht. N° 41. 363

von diesemVorbehalt aber könnten die aus der Komplikation des Wahlund
Abstimmungsgeschäftes sich ergebenden Schwierigkeiten durch entsprechende
Verstärkung und Organisation der Ausschüsse überwunden und daher nicht
als absolutes Hindernis zur Vornahme des betreffenden Geschäfts angesehen
werden.

Das Bundesgericht zieht in E rwägung :

1. Die formellen Voraussetzungen der staatsrechtlichen Beschwerde sind
gegeben, und auch über die Zuständigkeit des Bundesgerichtsim Sinne des
Art. 180 Ziiî. 5 OG kann kein Zweifel obwalten, da kantonale Wahlen in
Frage stehen und die Verletzung kantonalen Verfassungsrechts behauptet
wird. Ebenso ist das für Rekurse solcher Art durch die bundesrätliche
Praxis (SALis, Bundesrecht, III Nr. 1110 und 1111) aufgestellte
Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges erfüllt; denn
nach § 53 in Verbindung mit § 59 des baseliandschaftlichen Reglements
betreffend Wahlen und Abstimmungen vom 23. November 1896 entscheidet
der Regierungsrat über die Gültigkeit von Bezirksund Kreiswahlcn in
einziger Instanz. Endlich muss auch die Legitimation der Rekurrenten zur
Anfechtung der streitigen Wahlen in ihrem ganzen Umfange bejaht werden,
da sie alle unbestrittenermassen stimmberechtigte Einwohner des Kantons
Basel Landschaft sind und sich tatsächlich auf sämtliche der in Betracht
fallenden Wahlkreise verteilen.

2. Der g 59 des bereits erwähnten Reglements bezeichnet Wahlen
und Abstimmungen als nichtig u. a. (Abs. I Ziff. 4), wenn die
gesetzlichen Vorschriften in einer Weise verletzt worden sind, dass
die Wahrhaftigkeit des Wahlergebnisses als des Ausdrucks der Mehrheit
der Stimmberechtigten angezweifelt werden muss. Nun steht fest, dass
bei den basellandschaftlichen Bezirksund Kreiswahlen vom 27. September
1914 beinahe ein

AS 40 l _ 1914 24

364 Staatsrecht.

Viertel aller Stimmbereehtigten (4000 von 16,740) deswegen von der
Ausübung des Wahlrechtes ausgeschlossen worden sind, weil sie sich am
Wahltage im aktiven Militärdienst befanden. Dabei hat der Regierungsrat
die schon vor ihm aufgestellte Behauptung derRekurreuten, dass im Falle
der Zulassung des Militärs zur ,Stimmabgabe das Ergebnis verschiedener
Wahien anders ausgefallen wäre, nicht bestritten. Es leuchtet denn auch
ohne weiteres ein, dass die unter Ausschluss von annähernd

einem Viertel der Stimmberechtigten erzielten Wahl'

resultate nicht als der wahrhaftige Ausdruck der Mehrheit der
Stimmberechtigten angesehen werden können. Unter diesen Umständen sind
(vergl. hierüber SALIS, a. a. O., III N° 1182, 1210 und 1220) die
angegekochtenen Wahlen nach dem Begehren der Rekurrenten als ungültig
aufzuheben, sofern der Standpunkt des Rekurses, dass der Ausschluss
der im aktiven Dienst stehenden Stimmberechtigten gegen das kantonale
Verfassungsrecht verstosse, sich als ,richtig erweist. Dass nicht alle
ausgeschlossenen Stimmberechtigten, sondern nur deren 132, Beschwerde
führen, ist unerheblich; denn nach ständiger Praxis der Bundesbehörden,
an welcher unbedenklich festzuhalten ist, geht das verfassungsmässige
Individualreeht des Stimmbereehtigten nicht nur auf die eigene Teilnahme,
sondern auf die rechtmässige Durchführung des Wahloder Abstimmungs-aktes
überhaupt, welche vorausgesetzt, dass sämtliche Stimmberechtigten zur
Ausübung ihres Rechtes zugelassen werden.

3. Die von den Rekurrenten angerufen-S Verfassungsbestimmu'ng (Art. 3
Ziff. 2 der stV des Kantons BaselLandschaft vom 4. April 1892)
lautet: Das Stimmrecht wird in der Wohngemeinde beziehungsweise im
Wahlkreise ausgeübt; eine. Ausnahme findet nur statt in Bezug auf das
im Dienst befindliche Militär. In Präzisierung dieser Ausnahme ist in
§ 3 des land-rätlichen Reglements betreffend Wahlen und Abstimmungen
vomPolitisches Stimmund Wahlrecht. N° 41. 365

23. November 1896 des nähern bestimmt, dass das im Dienst befindliche
Militär das Stimmrecht in kantonalen Angelegenheiten an dem Orte ausüben
kann, wo ,es am Wahloder Abstimmungstage im Dienst steht. Danach hat
der Kanton Basel-Landschaft den im Dienste stehenden Wehrmännern in der
Tat einen verf assu ng smässigen Anspruch auf Ausübung ihres kantonalen
Stimmrechts eingeräumt; denn in der erwähnten Bestimmung, die sich mit
dem Ort ihrer Stimmabgabe befasst, liegt impiiciie die Anerkennung ihrer
Stimmberechtigung auch während des Dienstes. Auf dem gleichen Boden
steht, übrigens das Bundesrecht, indem Art. 4 des BG betreffend die
eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen vom 19. Juni 1872/20. Dezember
1888 ausdrücklich vorschreibt, dass Stimmberechtigten, die sich bei
eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen irn Militärdienst befinden,
Gelegenheit gegeben werden soll, hieran teilzunehmen. Nun vertritt
allerdings der Regierungsrat den Standpunkt, dass die in Verfassung
und Reglement vorgesehene Beteiligung des Militärs an kantonalen
Wahlen. und Abstimmungen nur für den gewöhnlichen Instruktionsdienst
(Rekrutenschulen und Wiederholungskurse), nicht aber für den aktiven
Dienst gelte. Allein diese Unterscheidung ist schon mit dem Wortlaute
der erwähnten Bestimmungen, die von dem im Dien st befindlichen
Militär schlechthin sprechen, nicht ver einbar und lässt sich auch
sachlich im Grundsatzes nicht rechtfertigen. Freilich können sich die
Verhältnisse des aktiven Dienstes so gestalten, dass die Wehrpflichtigen
an der Ausübung des Stimmrechts tatsächlich verhindert werden; denn
es ist selbstverständlich, dass im aktiven Dienst bei einer Kollision
militärischer Anforderungen mit der Stirnmrechtsausübung die ersteren
vorgehen müssen. In diesen Fällen muss eben der aktive Wehrmann zu den
übrigen Opfern, die er in Erfüllung der Dienstpflicht dem Vaterlande zu
bringen hat, sich auch noch die Ausschaltung seiner Funktionen als stimm-

"" Staatsrechx.

berechtigter Staatsbürger gefallen lassen. Sofern und soweit aber auch
im aktiven Militärdienste die Organisation und Durchfühmug von Wahlen und
Abstimmungen bei den Truppen möglich ist, ersaein-t es als unstettbai't,
die We'hnnäuncr in "ihrem verfassungsmässigen Anspruch auf Ausübung
des Stimmrechtos zu beeinträchtigen. 4. Hat demnach eine Prüfung des
vorliegenden Tatbestandes aus diesem Gesichtspunkte zu erfolgen, so
ergibt sich aus den Akten zunächst ohne weiteres, dass Rücksichten
miiitärischer Na tur der Beteiligung der im Dienste befindlichen
Stimmberechtigten des Kantons Basel-Landschaft an den streitigen Wahlen
nicht entgegenstanden. Denn nach dem Berichte des Kommandanten der
4. Anneedivision hätten die militärische Lage und der Dienstbetrieb
speziell am 27. September 1914, dem Hauptwahltage, die Durchführung
der Wahlen an sämtlichen Standorten der in Betracht fallenden Truppen
zweifellos gestattet . Und aus der Vernehmlassung des Generalstabschefs
der Armee geht hervor, dass das Ameekommando, dem der Entscheid über
die Zulassung der Vornahme kantonaler Wahlen oder Abstimmungen bei
den Truppen zusteht, grundsätzlich gerne bereit ist, zur Teilnahme von
Stimmberechtigten an solchen Wahlen und Abstimmungen und zu entsprechender
Organisation der Wahlund Abstimmungsgesehäfte in der Armee Hand zu
bieten. Es kann sich daher weiterhin nur fragen, ob die Organisation
und Durchführung der basellandschaftlichen Bezirksund Kreiswahlen
bei den Truppen vom Standpunkte der kantonalen Staatsverwaltung aus
unüberwindliche Schwierigkeiten tatsächliche Natur geboten hätte. Auch
dies aber ist unbedenklic zu verneinen. Der Regierungsrat beruft sich für
seine gegenteilige Auffassung auf zwei Momente, nämlich auf die grosse
Zahl der verschiedenen Wahlkreise und Stimmzeddel, in Verbindung mit
der Verteilung der stimm-Politisches Stimmund Wählrecht. N° 41. 367

berechtigten Wehrmänner auf zahlreiche Truppenjferbände, und auf die
Unkenntnis der Wahlbehorden uber die Standorte dieser Truppen. Der
letztere Umstand ist jedoch ganz offenbar unerheblich, da ja, wie auch
dem Regierungsrat bekannt sein dürfte, Sendungen an Truppenkommandanten
oder einzelne Wehrmanner bei Angabe ihrer militärischen Einteilung durch
die Feldpost ohne Ortsbezeichnung bestellt werden. Und was die Vielheit
der Wahlkreise und Stimmzeddel einerseits und der zu berücksichtigenden
Truppenverbände anderseits betrifit, ist allerdings nicht zu leugnen,
dass daraus für die Durchführung der Wahlen gewisse Schwierigkeiten
erwachsen. Allein diese können durch richtige Vorbereitung und
Organisation der Wahlen zweifellos überwunden werden. Es muss insbesondere
durch ein zu vereinbarendes Zusammenarbeiten der zivilen Wahlbehörden mit
den militärischen Kommandostellen möglich sein, die im Diente befindlichen
Stimmberechtigten nach Wahlkreisund Truppenzugehörigkeit festzustellen,
und auf Grund dieser Feststellung ihnen die erforderlichen Stimmzeddel,
sowie allenfalls die in è; 34 des basellandschaftlichenWahlreglements
vorgesehenen Ausweiskarten für den Vahlakt zu übermittelnAuch lässt sich
ein organisatorisch geordnetes Waldverfahren an den Treppenstandorten
gewiss wenigstens überall da durchführen, wo eine Anzahl Stimmherechtigter
eines oder mehrerer örtlich vereinigten Truppenverbände vorhanden sind,
und derart konnte jedenfalls der Hauptmasse der stimmberechtigten
Wehrmänner, die den basellandschaftlichen Truppeneinheiten angehöremam
27. September 1914 Gelegenheit zur Stimmabgabe geboten werden. Hierauf
aber haben diese Stimmberechtigten unter diesen Umständen Anspruch gehabt,
unbekümmert darum, ob vielleicht einzelnen andern, die zerstreut in
ausserkan-tcnalen Einheiten zugeteilt waren, die Ausübung des Stimmrechte
nicht ermöglicht werden konnte. 'Die Meinung des Regierungsrates, dass
notwendigerweise all e

368 Staatsrecht.

im Dienste stehenden Stimmberechtigten gleich zu behandeln seien, geht
offenbar fehl, da das Prinzip der Rechtsgleichheit bekanntlich nur
Gleichbehandlung unter gleichen relevanten Verhältnissen verlangt. Im
übrigen liegt es natürlich nicht in der Aufgabe des Bundesgerichts,
dem Regierungsrat ein Programm für das Wahlverfahren vorzusehlagen ;
für die Beurteilung des Rekurses genügt vielmehr die Feststellung,
dass die Durchführung der streitigen Wahlen bei den Truppen tatsächlich
möglich gewesen wäre. Hiefür aber sprechen, ausser dem bereits Gesagten,
auch die Vernehmlassungen des Kommandanten der 4. Division und des Gene-si
ralstabschefs der Armee, sowie überzeugend namentlich die Tatsache, dass
die eidgenössischen Wahlund Abstimmungsverhandlungen vom 24./25. Oktober
1914 unter teilweise, nach Angabe des Divisionskommandos, keineswegs
einfacheren Verhältnissen in der ganzen

Armee faktisch haben durchgeführt werden könnenX

Gewiss hätten die Vahlvorbereitungen und die Prüfung der Wahlergebnisse
mit Rücksicht auf die Beteiligung der Truppen der Staatsverwaltung
eine im Vergleich zu den gewöhnlichen Verhältnissen vielleicht nicht
unerhebliche Mehrarbeit verursacht; allein zu deren Leistung war sie
eben von Rechtswegen verpflichtet und durfte sich ihr bei der gegebenen
Möglichkeit ihrer Durchführung nicht entziehen. _

5. Auch der Einwand des Regierungsrates, dass von einer Beeinträchtigung
des Stimmrechte der diensttuenden Vehrrnänner deswegen nicht die Rede sein
könne, weil es diesen tatsächlich möglich gewesen wäre das Stimmrecht am
27. September 1914 an ihren ürgerlichen W_ohnorten auszuüben, erweist sich
als unbegründet. Die Verfassung behält ja in Art. 3 für die im Dienste
stehenden Stimmberechtigten gerade einen abweichenden Ort der Stimmabgabe
vor. Daraus, in Verbindung mit§ 3 des Wahlund Abstimmungsreglements,
fliesst ein Recht dieser Wehrmänner darauf, ihr Stimm--Politisches
Stimmund Wahlrecht. N° 41. 369

recht am Standort ihrer Truppen auszuüben.

Und diesem Recht steht die Pflicht der Staatsverwaltung gegenüber, ihnen
hierzu Gelegenheit zu verschaffen. 6. Aus den bisherigen Erwägungen
folgt, dass die streitigen Wahlen wegen verfassungswidrigen Ausschluses
einer erheblichen Anzahl Stimmherechtigter als ungültig zu erklären
sind. Und zwar gilt dies nicht nur von den Hauptwahlen vom 27. September,
sondern auch von den zugehörigen, im Rekurse allerdings nicht insgesamt
angefochtenen Nachwahlen vom 4., 11. und 25. Oktober, da diese letztern
keine selbständige Bedeutung haben und nicht für sich allein bestehen
bleiben können. Auch hat die Ungültigkeitserklärung gemäss Erwägung 2 in
dem Sinne zu erfolgen, dass bei den vorzunehmenden Ersatzwahlen alle n
zu Unrecht ausgeschlossenen militärisch eingeteilten Stimmberechtigten
Gelegenheit zur Ausübung des Stimmrechts geboten werden muss, obschon
die Rekurrenten dies ausdrücklich nur für die Stimmberechtigten ihrer
Truppeneinheit verlangen.

7. Dem Wunsche des Regierungsrates, das Bundesgericht möchte bei
allfälliger Ungültigkeiterklärung der Wahlen auch gleich die Frage
beurteilen, welche Bewandtnis es mit den von den ungesetzlich gewählten
Behörden seither vollzogenen und bis zum Zustandekommen der Neuwahlen noch
zu vollziehenden Amtshandlungen habe, kann nicht entsprochen werden. Das

ericht ist nicht in der Lage, sich mit diesen Folgen seines heutigen
Entscheides zu befassen, solange eine hierauf bezügliche staatsrechtliche
Beschwerde nicht vorliegt, da es zur Abgabe bloss konsultativer
Meinungsäusserungen nicht kompetent ist.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt :

Der Rekurs wird in dem Sinne gutgeheissen, dass die Beschlüsse des
Regierungsrates des Kantons BaselLandschaft vom 23. September und
1.0ktober-1914 aufge--3 70 Staatsrecht.

hohen und die im Kanton Basel-Landschaft vorgenommenen Wahlen vom
27. September 1914 nebst den Nachwahlen vom 4., 11. und 25... Oktober
1914 für ungültig erklärt werden, unter Einladung an den Regierungsrat,
neue Wahlverhandlungen anzuordnen, an denen

den dannzumal allenfalls im aktiven Militärdienst befind l

lichen Stimmberechtigten Gelegenheit zurAusühung ihres Stimmrechts zu
geben ist.

IV. GLAUBENSUND GEWISSENSFREIHElTLBERTÉ DE CONSCIENCE ET DE CROYANCE

12. Urteil vom 5. Juni 1914 i. S. Scherrer gegen St. Gallen.

Art. 49
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 49 Vorrang und Einhaltung des Bundesrechts - 1 Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor.
1    Bundesrecht geht entgegenstehendem kantonalem Recht vor.
2    Der Bund wacht über die Einhaltung des Bundesrechts durch die Kantone.
, Abs. 2 BV. Umfang des dadurch gewährleisteten Rechtes zur
Kritik der religiösen Ansichten anderer. Zulässigkeit der Bestrafung
von beschimpfenden und verhöhnenden Aeusserungen über religiöse Dinge,
die sich nicht als ernsthafte Rechtfertigung des eigenen Glaubens oder
Unglaubens darstellen, sondern wesentlich auf die Verletzung fremden
religiösen Gefühles gerichtet sind.

A. Der Rekurrent August Scherrer wurde am 27. November 1913 vom
Bezirksgericht Rorschach der Beschimpfung einer staatlich anerkannten
Religionsgesellschaft im Sinne von Art. 174 des st. gallischen
Straf-gesetzbuchs schuldig erklärt und zu einem Monat Gefängnis und 100
Fr. Geldstrafe sowie zu den Untersuehungsund Gerichtskosten verurteilt,
weil er am 24. November 1913 in der Bleicherei Kopp in Rorschach eine
Hostie, die er sich tags zuvor bei der Kommunion in der katholischen
Kirche angeeignet, verschiedenen Nebenarheitern vorgezeigt und dabei
sowie im Anschluss daran abfällige und beschimpfende Aeusserungen wie: ob
sie nun einen Tropfen Blut daran sehen, es seiUmuucuauuu u ·iskspg__" ,-,

ja nur gewöhnliches Brot und nichts anderes, es sei alles nur Schwindel,
die Pfarrer lügen einem nur an, da seht Ihr Katholiken, was Ihr für
einen Herrgott habt, getan habe. _ si

Die zitierte Bestimmung des st. galhschen StGB lautet: ,

EUR Art. 174. Der Verletzung der Glaubensfreiheit, der a Störung des
konfessionelle-n Friedens und : den Be schimpfung der vom Staate
anerkannten Religions gesellschaftenss macht sich schuldig, wer
vorsätzlich _

a) Handlungen begeht, welche geeignet sind, den o Frieden unter den vom
Staate anerkannten Religionsd gesellschaften zu stören, oder Glaubenshass
oder Yor folgung wegen religiöser Ansichten und Behenntinsse zu stiften,
oder durch welche jemand wegen seines v Glaubens beschimpft wird ; .

b) in einer öffentliches Aer gernis erregenden ·l-7lloise o die
Gegenstände der Verehrung einer solchen Religions gesellschaft lästert
oder aushöhnt. _

d In solchen Fällen ist Geldstrafe bis auf 500 Fr. oder Gefängnis bis
auf 6 Monate auszusprechen. Die Strafen können auch verbunden werden.

Auf Appellation siScherers änderte das Kantonsgericht am 23. Januar 1914
dieses Urteil in Bezug auf das Strafmass dahin ab, dass es den Angeklagten
lediglich zu einer Geldstrafe von 100 Fr. und den Kosten verurteilte. Im
übrigen, d. h. in Bezug auf die Schuldfrage, wurde das erstinstanzliche
Erkenntnis bestatigt und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt :. line
Hostie sei für die Bekenner der katholischen Religion infolge des Dogmas
der Transsuhstantiation ein Gegenstand höchster Verehrung. Indem der
Angeklagte sie mit den Worten : das ist alles nur Schwindel, da seht Ihr,
was Ihr für einen Herrgott habt, o vorgezeigt, habe er sich demnach der
Lästerung und Aushöhnung cmes Gegenstandes religiöser Verehrung im Sinn
von Art. 174 litt
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 174 - 1. Wer jemanden wider besseres Wissen bei einem andern eines unehrenhaften Verhaltens oder anderer Tatsachen, die geeignet sind, seinen Ruf zu schädigen, beschuldigt oder verdächtigt,
1    Wer jemanden wider besseres Wissen bei einem andern eines unehrenhaften Verhaltens oder anderer Tatsachen, die geeignet sind, seinen Ruf zu schädigen, beschuldigt oder verdächtigt,
2    Ist der Täter planmässig darauf ausgegangen, den guten Ruf einer Person zu untergraben, so wird er mit Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu drei Jahren oder Geldstrafe nicht unter 30 Tagessätzen bestraft.233
3    Zieht der Täter seine Äusserungen vor dem Gericht als unwahr zurück, so kann er milder bestraft werden. Das Gericht stellt dem Verletzten über den Rückzug eine Urkunde aus.
. b StGB und des Tatbestandes von litt. a m fine