436 A. Oberste Zivilgerichtsinstanz. [. Materielllsiechtiiche
Entscheidungen.

Kläger, der sich bereits im achten Altersjahre befand und schon etwelche
Zeit schulpslichtig war, bedurfte nicht mehr bei allen seinen Schritten
einer unmittelbaren ständigen Obhut und Aufsicht, sondern war gewiss
fähig, sich selbständig auch ausserhalb des Hauses und namentlich auch
im Strassenverkehr zu bewegen, zumal wenn dieser Verkehr sich so einfach
und ruhig abspielt, wie in den hier in Betracht kommenden ländlichen
Verhältnissen Wenn also auch

der Verunglückte mit Wissen und Willen des Fuhrmanns Spirgi '

dem im Schritt dahinfahrenden Wagen gefolgt ist, so konnte dies Spirgi und
auch einen älteren, erfahreneren Knecht zu keinen Bedenken veranlassen Die
Gefahren, denen der Fuhrmann seinen Begleiter ausgesetzt sah, waren die
nämlichen, von denen dieser und allgemein Kinder seines Alters tagtäglich
bei ihren Schulgängen, Spielen und Besorgnngen im Haushalt und in der
Landwirtschaft umgeben sind und denen solche Kinder bereits ausweichen
können und müssen. Jnsbesondere ist es ja auch durchaus üblich und liegt
kein spezieller Gefahrsznstand darin, dass Knaben, die zu Feidarbetten
beigezogen werden, den älteren Personen sich anschliessen, die Fuhrwerke
nach oder von der betreffenden Arbeits-stelle Verbringen

Demnach hat das Bundesgerirht erkannt: Die Berufung wird abgewiesen und
damit das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 17. Juni 1911
in allen Teilen bestätigt

65. Zweit vom 21. Oktober 1911 in Sachen Mühlbach, Kl. u. Ver.-KL,
gegen Assicuratrice Italiana Bekl u. Ver-Beil

Unfall versicherungsvertrag : Die Annahme, dass ein Versicherter,
der von seiner Enlschädigungsferderung zu n (i c hs 15 nur die Qu ot e
für vor it!) ergehen d e In ee. l i di tät eingeklagl und zugesprochen
erhalten hat, die weitere Quote für dauernde Invalidi tät in einem 33}
d' teren Ve r fa h 1" en noch geltend machen könne, wobei das bereits
ergangene Urteil weder für, noch gegen ihn Recht scheisse, der -

stösst nicht gegen Bundesrecht. Unfaiisefntritt während
.B. Bemfuugsinsîanz: 1. Allgemeines Ohligationenrechi. N° 65. 437

die Versicherung wegen Vers-ugg (les I-"ersicherten in der Pz'eîm
ienznhlu ng ruiz t. Das Ruhm der Versicherung kann dem Versicherten
nicht entgegengehalten werden, wenn ihm der Age-uz rechtsverbindlich
die Abhoieeng der Prämie zugesagt und so die Bri-ngin eine Holsehuld
umgewandelt hat. Hieran drederè auch die Säumigheit des Versicherten
mit der Einsendung der Quittung für die aus einem frühem Unfall
geschuldeten Prämie nichtsuAuslegung von Poiicebestimmungen: (5)
Bestimmung, wonach über die Höhe der Entschädigung, nicht aber über
die Entschädigmegspflicht, eine Kom m i 5 sie n in edi z in i s c he
r Sasi c hverständiger In entscheiden hat. b) Bestimmung, wonach ein
erst sp dt e r ver fallender Teit de r Entschädigung, nur auszuòez
fehlen ist, wenn meet soweit die Invalidität noeh fortd feuert
. Die Annahme des kantonalen Gerichtes, dass trotzdem. die rorherige
gerichtliche Festsetzung der Entschädigung endgültig sein müsse, ist
nicht bmzdesrechtszeidrig. Policegemässe Entschädignngsbeséimmung.

A. Durch Urteil vom 21. April 1911 hat das Appellationsgericht des
Kantons Basel-Stadt in vorliegender Rechtsstreitsache erkannt-

Die Klage wird abgewiesen-

B. Gegen dieses Urteil hat der Kläger die Berufung an das Bundesgericht
ergriffen mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die im Urteil des Zivilgerichts vom
9. Februar 1911 zugesprochenen Beträge zu bezahlen.

C. In der heutigen Verhandlung hat der Vertreter des Klägers die
gestellten Berufungsanträge erneuert. Der Vertreter der Beklagten hat
auf Abweisnng der Bemfung und Bestätigung des angefochtenen Urteils
angetragen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung: --

1. Der Kläger, Maurermeister Joses Mühlbach, hat mit der beklagten
Gesellschaft l'Assicuratriee Italiana in Mailand im Jahre 1906 eine
Einzelversicherung gegen Unfall abgeschlossenEr versprach, jeweilen am
30. Mai und 30. November eine Prämie von 49 Fr. 15 (Sis. zu bezahlen,
wogegen die Beklagte 5000 Fr. für den Fall des Todes, 15,000 Fr. für
bleibende Invalidität und eine Tagesentschädigung von 7 Fr. 50 Ets. für
vorübergehende Invalidität zu leisten sich verpflichtete.

438 A. Oberste Zivilgerichtsinsianz. [. Maieriellrechtliche
Entscheidungen.

Ju § 7 der allgemeinen Versicherungsbedingungen wird bestimmt, dass die
Prämien ohne spezielle Erinnerung oder Aufforderung der Gesellschaft
pränumerando an dem in der Police bezeichneten Orte zu bezahlen seien und
dass die Gesellschaft bei unterjährigen Prämienraten eine achttägige
Respektfrist, vom Fälligkeitstage ab gerechnet, gewähre. Komm der
Versicherte bis dahin-C besagt im weitern dieser Paragraph, seiner
Zahluugspslichr nicht nach, so gilt die Versicherung vom Zeitpunkte der
Fälligkeit (mit: tags 12 Uhr) an als aufgehoben ..... Erst nach Eingang
und Annahme der rückständigen Prämie und der etwaigen Gerichts-kosten
tritt die Versicherung wieder in Wirksamkeit, jedoch erst mit dem auf
die Prämienzahlung nächstfolgenden Tage und lediglich für den Rest der
vertragsmässigen Versicherungsdauer .....

Am 24. Dezember 1909 schrieb der Agent A· (EUR. Hosch der Beklagten
dem Klager: Wie wir Ihnen schon s. Z. bei Ihrem Besuche auf unserem
Burean mitteilten, sind Sie so lange nicht oersichert, bis Sie Ihre
schon am Zo. November d. I. fällig gewesene Prämie über 4.9 Fr. 15
Cfs. einlösen. Es könnte dies

in einem eventuellen Schadenfalle für Sie von sehr unangeneh_

men Folgen sein, da Sie, wie wir nochmals wiederholen, gegenwärtig nicht
versichert find. Wir ersuchen Sie daher höflich kund in Ihrem Interesse,
den betreffenden Betrag auf unser PostCheck-Konto V/666 einzahlen zu
wollen, wogegeu wir Ihnen die Prämien-Quittung zugehen lassen werden-

Darauf antwortete der Kläger am 27. Dezember: Auf Ihr "Schreiben vom
24. dieses teile ich Ihnen mit, dass Sie den Be-

trag nach Neujahr per Post einziehen können, abzüglich meines-

Unfalles. Der Kläger hatte nämlich am 16. November 1909 einen
Unfall erlitten und die Beklagte ihm dafür eine Entschädigung von 30
Fr. zugesagt.

Auf das Schreiben vom 27. Dezember erhielt der Kläger den folgenden,
vom gleichen Tage datierten Brief: Wir bekennen uns zum Empfange Ihres
Geehrten vom 27. crt-. und möchten Sie höfl. ersuchen, uns inliegende
Entschädigungsquitmng gefl. unter.zeichnet zugehen lassen zu wollen,
worauf wir den Betrag derselben von Ihrer Unfall-Prämie in Abzug bringen
werden. -B. Berufungsinstauz: 1. Allgemeines Obligationenrecht. N° 65. 439

Ihrem Wunsche gemäss werden wir uns erlauben, die Prämie von 49 Fr. 15
(été. abzüglich Ihrer Entschädigung von 30 Fr gleich 19 Fr. 50 Cfs. nach
Neujahr per Post bei Ihnen einziehen zu lassen.

Am 11. Januar 1910 stürzte der Kläger von einem Gerüst· und
zog sich verschiedene Verletzungen zu. Die Beklagte wies sein
Entschädigungsbegehren zurück, weil er zur Zeit dieses Unfalls die am
30. November 1909 verfallene Prämie noch nicht bezahlt habe die Bezahlung
erfolgte erst am 12. Januar und weil daher die Versicherung nach § 7 der
Police ausser Wirksamkeit gewesen sei. Der Kläger klagte darauf vor dem
Basler Dreiergericht die Tagesentschädigung für die Zeit vom 11. Januar
bis 20. Februar 1910 im Gesamtbetrage von 300 Fr. ein und erwirkte am
6. Juni 1910 die Verurteilung der Beklagten zur Bezahlung dieser Somme,

2. Mit der vorliegenden Klage, die von der ersten Instanz in dem
aus Erwägung 6 ersichtlichen Umfange gutgeheissen, von der zweiten
Instanz aber abgewiesen worden ist, hat Mühlbach weitere 1170
Fr. nebst Zins zu 50/0 seit der Klageeinreichung (30. Juli 1910)
für vorübergehende Invalidität, ferner 15,000 Fr. nebst Zins zu 5
"jo seit dem nämlichen Zeitpunkte für bleibende Invalidität und
222 Fr. in der mündlichen Verhandlung auf 202 Fr. herabgesetzt für
Arztund Heilungskosten eingefordert. Er gibt zu, dass er am Tage des
Unfalles die verfallene Prämie nicht ganz bezahlt hatte, nämlich noch
nicht für den Betrag von 19 Fr. 15 Cts., um den die Prämie die mit ihr
verrechnete Entschädigungsforderung des Klägers von 30 Fr. überstiegen
habe. Dagegen behauptet er, wie schon vor Dreiergericht, die Versicherung
sei infolge des Briefwechsels vom 24. und 27. Dezember 1909 trotzdem in
Wirksamkeit gewesen. Die Haftpflicht der Beklagten sei übrigens durch
das Dreiergerichtsurteil bereits rechtskräftig entschieden. _

Die Veklagte beantragt Abweisung der Klage. In erster Linie wendet
sie ein, der Kläger habe durch Erhebung der Teilklage von 300 Fr. sein
Klagrecht konsumiert und das Gericht könne sich auf eine neue Beurteilung
des schon "einmal in judicium deduzierten Ansprnches nicht mehr
einlassen. Auch sachlich sei die

440 A. Oberste Zivilgerichtsinstanz. [. Materieilx'echtliche
Entscheidungen.

Klage unbegründet, weil der Briefwechsel an dem Umstand, dass die
Versicherung beim Unfallseintritt ausser Kraft gewesen sei, nichts
geändert habe und der Agent der Beklagten die fragliche Policebesiimmung
überhaupt nicht von sich aus habe abändern können. Eventuell wird die
Zuständigkeit des Gerichte-s zur Festsetzung der Entschädigung für
die dauernde Invalidität bestritten, gestützt auf den § 18 der Police,
der lautet: Kommt bezüglich Wder Höhe der Entschädigung . . . . eine
Einigung nicht zu "Stunde, so entscheidet hierüber-, nicht aber
auch über die Frage, ob überhaupt eine Entschädigungspflicht für die
Gesellschaft besteht, aus Grundlage und im Rahmen der gg 13 und M= dieser
"Police mittelst Stimmenmehrheit, mit Ausschluss jedes Rechtsweges und
Rechtsmittels, eine aus Doktoren der Medizin gebildete Kommission.

3. Was zunächst die von der Beklagten erhobene Einrede der abgeurteilten
Sache anbelangt, so gehen die Vorinsianzen davon aus, dass der Kläger im
frühern Verfahren nur seinen Anspruch aus der zwischen dem M. Januar und
20. Februar bestandenen vorübergehenden Invalidität eingeklagt und das
Dreiergericht auch nur über diesen Anspruch entschieden habe. Danach kann
also der Kläger feinen heutigen Anspruch auch nicht etwa in der Meinung
zum Gegenstand des damaligen Prozesses gemacht haben, dass ihmnach der
Sachlage kein weitergehendes Recht aus Entschädigung zustehe. Laut dem
Protokollauszug über die Parteianbringen vor Dreiergericht hat denn auch
der Kläger ausdrücklich erklärt, dass er auf jeden Fall einen höheren
Anspruch als 300 Fr. zu

gut habe. Bundesrechtlich lässt sich gegen die vorinsianzliche Wür--

digung des frühem Verfahrens und im besondern gegen die dein frühem
Urteil gegebene Auslegung nichts einwenden. Die Beklagte hat übrigens in
ihrer Antwort auf die jetzige Klage den gleichen Standpunkt eingenommen
mit ihrer Erklärung, sie habe in der Verhandlung vor Dreiergericht
ausdrücklich gegen die teilweife Geltendmachung des Anfpruches
proteftiert.

Ob nun der Kläger eine solche Beurteilung bloss eines Teils seines
Anspruches habe verlangen können oder ob das Dreiergericht sein Begehren,
weil auf Erwirkung eines blossen Teilurteils ge-

richtet, hätte abweisen sollen, ist im nunmehrigen Prozesse nicht
_B. Berufungsinstanz: 1. Allgemeines Obligationenrecht. N° 85. 441

mehr zu prüfen, indem das erlassene Teilurteil die Rechtskraft beschritten
"hat. In Frage kann vielmehr nur noch kommen, ob der Umstand, dass der
Kläger im frühem Verfahren nur für einen Teil feines Gesamtanspruches
den richterlichen Schutz nachgesucht und verlangt hat, zur Folge habe,
für den verbleibenden Teil die Beurteilung in einem neuen Verfahren,
wie es jetzt angehoben ist, auszuschliessen Eine solche Verwirkung des
Klagrechts stützt sich aber auf einen prozessrechtlichen Tatbestand
(die unvollständige Einklagnng des Gesamtanspruches), und wenn nun die
Vorinstanz sie als nicht eingetreten und die Einklagung und richterliche
Beurteilung des unerledigten Teilanspruches als zulässig erklärt, fo
handelt es sich hiebei um die Anwendung kantonalen Prozessrechtes,
und es hat also das Bundesgericht diesen Punkt nicht nachzuprüfen.
Eine eidgeuöfsische Norm, aus der sich die erwähnte Ver-wirkungsfolge
ergäbe, besteht nicht; eher liesse sich im Gegenteil fragen, ob das
Bundesrecht sie überhaupt zulasse. Ohne Grund hat sich der Beklagte auf
den Bundesgerichtsentscheid i. S. Afal gegen OferThurmeysen & Cie. (
AS 28 II S. 358 Erw. 3) berufen: Dieser erklärt freilich Teilklagen als
unstatthaft; dies aber speziell für das Haftpflichtrecht und gestützt auf
die gesetzliche Sonderbestimmung des Art. 8
SR 611.0 Bundesgesetz vom 7. Oktober 2005 über den eidgenössischen Finanzhaushalt (Finanzhaushaltgesetz, FHG) - Finanzhaushaltgesetz
FHG Art. 8 Erfolgsrechnung - Die Erfolgsrechnung weist den Aufwand und den Ertrag einer Rechnungsperiode aus; sie zeigt namentlich das operative Ergebnis und das Ergebnis aus Beteiligungen.
FHG, und ohne zu besagen, dass
die trotzdem erfolgte Erhebung einer Teilklage oder deren richterliche
Beurteilung eine weitere Klage für den Restanspruch verunmögliche

Anderseits halten die Vorinstanzen zutreffend und jedenfalls nicht
bundesrechtswidrig auch den Standpunkt des Klägers für unrichtig, dass
mit dem Dreiergerichtsurteil die Entschädigungspflichk der Beklagten
im Grundsatze, also auch für den nunmehr eingeklagten Teilanspruch,
rechtskräftig feststehe. Das Dreiergericht hatte nur über den vor ihm
eingeklagten Teilanspruch zu entscheiden und auch nur darüber entschieden,
und wenn es hiebei die Entschädigungspflicht insofern im allgemeinen
prüfen musste, als ihre Voraussetzungen für die beiden Teilanspriiche
die nämlichen find, so erfolgte diese Prüfung doch nur in Hinsicht auf
den zu beurteilenden Anspruch und im Sinne eines der Rechtskraft nicht
fähigen Motivs für dessen Gutheissung (vergl. AS 23 II S. 1636 Erw. 4
und 30 II S. 176 Crw. 5).

&. In der Sache selbst macht die Beklagte gegenüber dein 'si

442 A. Oberste Zivilgerichtsiustanz. I. Materiellrechtliche
Entscheidungen.

Begehren um Entschädigung einredeweise geltend, der Kläger sei
zur Zeit des Unfalles vom 11. Januar 1910 mit der Zahlung der am
SO. November 1909 verfallenen Prämie im Verzuge gewesen und daher habe
die Versicherung zu dieser Zeit nach dem § 7 der allgemeinen Bedingungen
des Versicherungsvertrages geruht. Laut dem § 7 war in der Tat, und wie
Übrigens der Kläger nicht bestreitet, die Versicherung vom neunten Tage
nach dem Verfall der Prämie, also vom 10. Dezember an, ausser Wirksamkeit
Auch kann die vorliegende Policebestimmung nicht etwa mit der Begründung
als unanwendbar bezeichnet werden, dass sie gegen eine zum Schutze des
Versicherten aufgestellte zwingende Rechtsnorm verstosse.

Es fragt sich aber im weitern, welche rechtliche Bedeutung die zwischen
den Parteien am 24. und 27. Dezember 1909 gewechselte Korrespondenz
für die Beurteilung des Falles besitze. Vorerst nun haben jedenfalls
die damals abgegebenen Erklärungen des Agenten der Beklagten die
vorhandene Suspension der Versicherung nicht beseitigt. Zu einer solchen
Abänderung des kraft der geltenden Versicherungsbedingungen eingetretenen
Rechtszustandes und damit zu einer vertraglichen Abweichung von diesen
Bedingungen fehlte dem Agenten der Beklagten, wenn er sie überhaupt
gewollt hatte, die nötige Vollmacht Wohl aber lag es innerhalb seiner
Vertretungsmacht, über den Ort der Zahlung genaueres zu vereinbaren;
denn wenn auch der erwähnte § 9 erklärt, dass die Prämien an dem in der
Police bezeichneten Orte zahlbar seien, so bezeichnet doch die Police
diesen Ort nirgends und es stand so einer selb-

ständigen verbindlichen Zusage des Agenten in dieser Hinsicht nichts-

im Wege. Eine solche Zusage hat nun der Agent Hosch in seinem Briese
vom 27. Dezember 1909, entsprechend dem vorangegangenen brieslichen
Begehren des Beklagten vom 24. Dezember, gemacht-, indem er dem Sinne
nach erklärte, den 19 Fr. 15 Cis betragenden Rest der fälligen Prämie,
der nach Ver-rechnung mit der von der Beklagten dem Kläger geschuldeten
Entschädigungssumme von 30 Fr. verbleibe, nach Neujahr durch die Post
beim Kläger einziehen zu lassen. Mochte es so auch bis anhin zwischen
den Parteien, ohne dass darüber eine besondere

Vertragsverabredung bestand, üblich gewesen sein; die Prämienschuld
_B. Berufungsinstanz :1; Allgemeines Obligationemecht. N° 65. 443

als Bringschuld zu behandeln, so ist sie doch für den gegebenen Fall durch
ausdrückliche Vereinbarung zur Holschuld geworden. Der Kläger konnte also
von Neujahr an verlangen, dass sich der zuständige Vertreter der Beklagten
( ein Organ der Post als Einzugsmandatar) bei ihm zur Entgegennahme
der Zahlung einfinde. Solange dies nicht geschehen war, hat er sich
nach Nenjahr nicht mehr im Verzuge befunden, oder ist doch mindestens
die Zahlung nicht durch sein Verschulden unterblieben, sondern wegen
der Unterlassung einer der Beklagten obliegenden Handlung. Nun geht es
aber zum vornherein nicht an, dass der Versicherer die Handlungdie eine
notwendige Voraussetzung site die vertragsmässige BewusTung der Zahlung
bildet, zu dem Zwecke unterlässt, um dadurch die Gefahrslage, die mit dem
erfolgten Stillstande der Versicherung für den Versicherten geschaffen
wurde, zu dessen Schaden auszudeuten Liegt aber auch was ja regelmässig
der Fall sein wird 'eine solche Absicht dem Verficherer ferne, so muss
dann doch gesagt werden, dass er mit seinem nach eingetretener Suspension
der Versicherung abgegebenen Versprechen, die Prämie beim Versicherten
abzuholeu, die Macht erlangt, das Wiederaufleben der Versicherung zu
ermöglichen oder nicht, und dass also nunmehr die Wahrung des gegnerischen
Interesses an der Wirksamkeit der Versicherung ausschliesslich von ihm
abhängt, solange sich wenigstens der Versicherte nicht dazu versteht,
das ihm eingeräumte Recht auf Behandlung seiner Schuld als Holschuld
wieder preiszugeben Bestreitet aber unter solchen Umständen der mit der
Abholung der Prämie säumige Versicherer unter Berufung auf den Stillstand
der Versicherung seine Entschädigungspflicht, so kann ihm der Versicherte
mit Fug im Wege der replicatio doli entgegenhalten, es derstosze gegen
Treu und Glauben, wenn der Versicherer daraus, dass sich durch sein
Verhalten der für den Versicherten vorhandene Gefahrszustand verlängert,
einen Vorteil ziehen wolle, und der Versicherer könne in einem solchen
Falle das Ruhen der Versicherung nicht als Befreiungsgrund geltend machen.

An dem Gesagten ändert hier auch der Umstand nichts,dass der Agent in
seinem Briefe vom 27 . Dezember zugleich verlangt hat, der Kläger solle
ihm die Quittung für die Unfallentschädigung von ZO Fr. unterzeichnei
zurücksenden, woran er diesen Betrag von der

444 A. Oberste Zivilgerichtsinstanz. _ ]. Materiellrechfliche
Entscheidungen'

Unfallprämie in Abzug bringen merde. Diese Erklärung betrifft nur
die Tilgung der Entschädigungsforderung und zwar will sich der Agent
damit ein Beleg für diese Tilgung verschaffen, die nach Art. 138
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 138 - 1 Wird die Verjährung durch Schlichtungsgesuch, Klage oder Einrede unterbrochen, so beginnt die Verjährung von Neuem zu laufen, wenn der Rechtsstreit vor der befassten Instanz abgeschlossen ist.58
1    Wird die Verjährung durch Schlichtungsgesuch, Klage oder Einrede unterbrochen, so beginnt die Verjährung von Neuem zu laufen, wenn der Rechtsstreit vor der befassten Instanz abgeschlossen ist.58
2    Erfolgt die Unterbrechung durch Schuldbetreibung, so beginnt mit jedem Betreibungsakt die Verjährung von neuem.
3    Geschieht die Unterbrechung durch Eingabe im Konkurse, so beginnt die neue Verjährung mit dem Zeitpunkte, in dem die Forderung nach dem Konkursrechte wieder geltend gemacht werden kann.
OR mit
der Verrechnungserklärung des Klägers vom 24. Dezember ohne weiteres
eingetreten war. Dagegen macht der Agent nicht sein im gleichen Briefe
abgegebenes Versprechen, die Prämie gleich nach Neujahr beim Kläger
einzuziehen, von der vorherigen Einsendung des geforderten Beleges
abhängig. Ein solcher Vorbehalt lässt sich aus dem Wortlaut des
Briefes nicht entnehmen; im Gegenteil weisen die zwei Sätze, deren
einer die Rücksendung der Quittung und der andere das Versprechen der
Einziehung der Prämie enthält, keinen sprachlichen oder gedanklichen
Zusammenhang auf. Auch der Sache nach handelt es sich um zwei Punkte der
Vertragserfüllung die rechtlich mit einander nichts zu tun haben. Da die
klägerische Entschädigungsforderung und ihre Verrechenbarkeit unbestritten
war, stand für den Agenten fest, dass er auf alle Fälle beim Kläger nur
noch eine Prämienrestanz von

19 Fr. 15 (été. einzuziehen habe. Wenn er also erklärt, den Ent-

schädigungsbetrag erst nach dem Empfangsder Entschädiguqu-

quittung von der Unfallprämie abziehen zu wollen, so will er damit
offenbar die Zusendung dieses Beleges nicht mit der Erhebung der
Prämienrestanz, sondern nur mit der darauffolgenden Ansstellung und
Aushändigung der Prämienqnittung in Verbindung Bringen. In der Tat konnte
er wohl die Prämienquittung, lautete sie nun auf eine um den verrechneten
Betrag reduzierte Summe oder auf die volle Summe unter Vermerkung der
besondern Tilgungsart der einen Quote, nicht herausgeben, ohne vorher

eine Quittung für den verrechnungsweisen Empfang der aus dein

srtihern Unfall geschuldeten 30 Fr. erhalten zu haben.

5. Mit Unrecht hält ferner die Beklagte die ordentlichen Gerichte
für unzuständig zur Ausmessung der nach dem Gesagten grundsätzlich
geschuldeten Entschädigung Der (oben wiedergegebene) § 18 der
allgemeinen Versicherungsbedingungen, auf den sie sich Eternit, will
die schiedsgerichtliche Bestimmung des Entschädigungsbetrages nur
für den Fall vorschreiben, wo die Entschädigungspflicht als solche
feststeht und es also eines gerichtlichen Entscheides hierüber nicht
bedarf. Zn diesem Falle mochte die Um-B. Berusungsinstanz: 1. Allgemeines
Obligationenrecht. N° 65. 445

gehung der ordentlichen Gerichte und die Beurteilung des Streites
durch medizinische Sachverständige den Vertragsparteien als eine
zweckmässige Abkürzung erscheinen, da die ziffermässige Bestimmung
der Unfallentschädigung im wesentlichen von der Feststellung der
körperschädigenden Wirkung des Unfalles abhängt und hier gegenüber dieser
technischen Tatfrage die rechtlichen Gesichtspunkte regelmässig in den
Hintergrund treten. Anders verhält es sich dagegen, wenn die Gesellschaft
auch ihre Entschädigungspflicht ablehnt und damit den Versicherten zur
Anrufung der ordentlichen Gerichte zwingt Dass in diesem Fall der Richter,
dem der § 18 den Entscheid Über die Entschädigungspflicht als solche
ausnahmslos zuweist, die Sache nicht ganz zu erledigen habe und dass er
also stets nur über die Entschädigungspflicht befinden fiume, wird in §
18 nicht ausdrücklich gesagt. Auch im übrigen nötigt sein Wortlaut nicht
zu dieser Annahme, und namentlich versteht sich nicht von selbst, dass der
Passus: Kommt bezüglich der Höhe der Entschädigung eine Einigung nicht
zu Stande . . . , auch die Eventualität vorsehen wolle, wonach zunächst
richterlich über die grundsätzliche Ersatzpflicht entschieden werden muss
und dann erst Verhandlungen eröffnet werden können, um sich über die Höhe
der Entschädigung zu einigen. Unter allen Umständen aber lässt sich die
Auslegung der Beklagten mit dem, was nach der Sachlage in dieser Beziehung
allein als der vernünftige Wille der Vertragsparteien gelten kann, nicht
vereinbaren. In der Tat mussten sich beide Parteien sagen, dass ein
gerechtfertigtes Interesse an der schiedsgerichtlicheu Feststellung der
Entschädigungshöhe von dem Momente an fehle, wo wegen der grundsätzlichen
Bestreitung der Entschädigungspflicht die beabsichtigte Vermeidung des
ordentlichen Rechtsweges unmöglich sei. Namentlich kann es nicht im
Willen des Versicherten gelegen haben, einer solchen umständlichen und
kostspieligen Zweiteilung des Verfahrens, wodurch die Liquidation seiner
spätern Entschädigungsansprüche erheblich erschwert würde, zuzustiminen,
um so weniger, als in diesem Falle das Mittel der gerichtlichen Expertise
in technischer Beziehung die nämlichen Garantien bietet und zudem eine
bessere Beurteilung allfälliger Rechtsfragen verbitrgt

6. Zur Feststellung des Quantitativs der Entschädigung bedarf es auch
keiner Rückweisung an die Vorinstanz. Freilich ent-

446 .ss. Oberste Zivîlgerichtsinstanz. -I.
MaterjellreehtiiehexnScheidung-zu-

hält der angefochtene Entscheid die in dieser Hinsicht erforderlichen
tatsächlichen Feststellungen nicht, weil er zur Verneinung
der Entschädigungspflicht gelangt ist. Aber die Akten bieten dem
Bundesgerichte alle nötigen Anhaltspunkte um diese Feststellungen selbst
vorzunehmen, was nicht nur durch Zweckmässigkeitsrücksichten geboten,
sondern nach Art. 82 Abs. 1
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 138 - 1 Wird die Verjährung durch Schlichtungsgesuch, Klage oder Einrede unterbrochen, so beginnt die Verjährung von Neuem zu laufen, wenn der Rechtsstreit vor der befassten Instanz abgeschlossen ist.58
1    Wird die Verjährung durch Schlichtungsgesuch, Klage oder Einrede unterbrochen, so beginnt die Verjährung von Neuem zu laufen, wenn der Rechtsstreit vor der befassten Instanz abgeschlossen ist.58
2    Erfolgt die Unterbrechung durch Schuldbetreibung, so beginnt mit jedem Betreibungsakt die Verjährung von neuem.
3    Geschieht die Unterbrechung durch Eingabe im Konkurse, so beginnt die neue Verjährung mit dem Zeitpunkte, in dem die Forderung nach dem Konkursrechte wieder geltend gemacht werden kann.
OG auch gesetzlich zulässig ist "; letzteres
umsomehr, als ein Rückweisungsbegehren fehlt und die erste Instanz die
diesen Punkt betreffenden tatsächlichen Verhältnisse bereits eingehend
geprüft hat.

Jn der Sache selbst kann sich hier das Bundesgericht in allen Beziehungen
den auch rechtlich zutreffenden Ausführungen der ersten Instanz
anschliessen, und mit ihr kommt es daher auf Grund des eingeholten
medizinischen Gutachtens zu folgendem Ergebnisse: Es liegt dauernde
Teilinvalidität bedingt durch einen Speichenbruch der linken Hand
und durch drei Fraktnren des Beckens vor. Der nach § 13 der Police
für die Entschädigungsberechnung massgebende Invaliditäts-grad beträgt
insgesamt 22,5 0/0 und somit die geschuldete Eutschädigungssumme, da bei
Ganzinvalidität 15,000 Fr. zu vergüten wäre, 8375 Fr. Dieser Betrag ist
dagegen nicht sofort zahlbar, indem der Kläger nach dem Schlussabsatz
des genannten § 13 während der ersten drei Jahre nur die Anszahlung von
je 10 0/0 der Entschädigungssnmme verlangen kann. Dabei ist laut dieser
Policebestimmung die erste dieser hier 337 Fr. 50 Cis-. betragenden
-Rate nach Beendigung der ärztlichen Behandlung und nach Anerkennung
der Entschädigungsoerpflichtung fällig, welcher Anerkennung hier die
gerichtliche Festsetzung der Entschädigungspflicht gleichstehtz Und
zwar muss in dieser Hinsicht aus den Zeitpunkt des bundesgerichtlichen,
nicht auf den des erstinstanzlichen Urteils abgestellt werden; dies schon
deshalb, weil die erste Instanz den Tag der Rechtskraft des Urteils als
massgebend erklärt und

der Berufungsantrag des Klägers schlechthin auf Bestätigung des '

erstinstanzlichen Entscheides lautet. Die zweite Rate von 337 Fr.
50 Cis. ist ein Jahr, die dritte von 337 Fr. 50 Cis-. zwei Jahre, und
der Rest der Entschädigungssumme von 2362 Fr50 Ets. drei Jahre nach dein
heutigen Urteil zahlbar. Den Rest will freilich der erwähnte Schlussabsatz
des § 13 nur ausbezahlt wissen, wenn und soweit die Invalidität noch
fortdauert. AlleinB Berufungsinstanz: 1. Ailgemeines Obligationenrecht. N°
65. 447

abgesehen davon, ob diese Bestimmung auch für den Fall gerichtlicher
Festsetzung der Entschädigungssumme gilt, lässt sich bundesrechtlich
jedenfalls nichts dagegen einwenden, wenn die erste Instanz annimmt,
dass die gerichtliche Festsetzung eine endgültige sein müsse und eine
nachträgliche Berichtigung nicht vorbehalten werden könne. An einer
Vorschrift des eidgenössischen Rechts-, die ähnlich der des Art. 8
SR 611.0 Bundesgesetz vom 7. Oktober 2005 über den eidgenössischen Finanzhaushalt (Finanzhaushaltgesetz, FHG) - Finanzhaushaltgesetz
FHG Art. 8 Erfolgsrechnung - Die Erfolgsrechnung weist den Aufwand und den Ertrag einer Rechnungsperiode aus; sie zeigt namentlich das operative Ergebnis und das Ergebnis aus Beteiligungen.
FHG
einen solchen Vorbehalt zuliesse, fehlt es hier.

Was sodann die vorübergehende gänzliche Arbeitsunfähigkeit betrifft,
so hat sie nach den Akten 140 Tage angedauert. An die dafür geschuldete
Entschädigung von 7 Fr. 50 Cts. im Tag oder zusammen 1050 Fr. sind dem
Kläger durch das Dreiergerichtsnrteil bereits für die ersten 40 Tage
300 Fr. zugesprochen worden, sodass er noch für die andern 100 Tage 750
Fr. zu fordern hat, welche Summe von der Klageeinreichung (30. Juli 1910)
an zu 50/0 zinsbar isf. Auf die Leistung von Arztund Heilungskosten
endlich hat der Kläger polieemässig keinen Anspruch

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Die Berufung wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil des
Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 21. April 1911 aufgehoben
und erkannt:

a) Die Beklagtehat dem Kläger am 21. Oktober 1911 verfallene 337 Fr. 50
Ets am 21. Oktober 1912 und 1913 je weitere 337 Fr. 50 Ets. und am
21. Oktober 1915 2362 Fr. 50 Cis-. zu bezahlen. Jeder dieser Beträge
wird mit dem Tage seiner Fälligkeit zu 5 0/0 verzinslich

b) Die Beklagte hat dein Kläger ferner 750 Fr. nebst Zins zu 5% seit
dem 30. Juli 1910 zu bezahlen.

c) Die Mehrforderungen des Klägers werden abgewiesen.

AS 37 Il 1911 29