394 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgeseize.
des kantonalen Rechts zutreffe. Auch wenn sie richtig ist, so
sindim konkreten Falle die Voraussetzungen zur Entmündigung dochnicht
gegeben. Entscheidend ist, dass der heutigen Rekurrentin noch gar keine
Gelegenheit gegeben worden ist, selbständig ihr Vermögen zu verwalten;
sie hat ja immer unter Vormundschaft gestanden. Es könnte sich daher
nur fragen, ob sie am Rückgang ihresVermögens wegen der Führung des
Haushaltes ebenfalls Schuld trage und ob sich in der Führung des
Haushaltes ihre Unfähigkeit zu ökonomischer Verwaltung oder ihr Hang
zu leichtsinnigen Ausgaben offenbare. In dieser Hinsicht geben nun vor
allem die vorgewieseuen Ladenbüchlein keinerlei gravierendes Resultat:
es handelt sich darnach bei der Rekurrentin vielmehr um einen einfachen,
bescheidenen Haushalt Auch die Tatsache, dass während der Krankheit des
Ehemanues ein Vermögensrückschlag eintrat (am 6. Januar 1907 betrug
das Steuer-vermögen laut Vogtsrechnung 16,297 Fr., am1. Februar 1909
noch 14,276 Jr.), kann nicht als Beweis der Unsähigkeit der Rekurrentin
dienen; denn das war offenbar eine sehr schwierige Beit, in welcher auch
eine sparsame und umsichtige Hausfrau mit dem Ertrage eines Vermögens von
16,000 Fr. das Auskommen nicht finden mochte. Damit ist aber auch gegeben,
dass ein Beweis, die Rekurrentin sei gegenüber den Anforderungen ihrer
Verwandten zu schwach, nicht besteht, da die Vermögensdifferenz aus der
Zeitperiode, welche allenfalls einen Schluss aus die Tüchtigkeit der
Rekurrentin als Wirtschasterin zuliesse, anders erklärlich ist. Auf
blosse Vermutungen hin darf die persönliche Handlungsfähigkeit aber
nicht entzogen werden. Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
Der Rekurs ist gutgeheissen und demgemäss der Beschluss des
Regierungsrates des Kantons Schwyz vom 19. Dezember 1908
aufgehoben.IV. Persönliche Handlungsfàhigkeit. N° 65. 395
, 65. gute vom 19. gnai 1909 m Sachen Wurf-IN gegen Gemeinderat vou
RGO-sein bezw. Regierungsrat des HainenEinem
Nicleikeindernuietne des zu Bevormundendefi seitens der I Ireszîan7
Bestatzgung der Bevormundung seitens der II. Instanz .Verweigsi'esi-em des
_?'eckilichen Gehòrs durch diese ? Praxis eier Mittellinie-i Bekordeee,
in dréflgmden Fällen non einer Einvemahme des zu Bevormundenden
aäzusehen.
A. Der im Jahre 1858 eborene, in U u en · 'lisau) heimatberechtigte
Rekurretst ist Landwirrth isind cikäzrwkcfikkit tumer des Bauerngutes
Zenzenhof in Niederwih Gemeinde Ohmstal (Bezirk Willisau). Er hatte
dasselbe im Jahre 1887 mit einer Schuldenlast von 24,070 Fr. 47 Ets. nebst
Zinsausstand von seinem Vater übernommen Nach den Angaben des Refin:
renten war die Liegenschaft Esamt Inventar damals 45,000 Fr. wert
gewesen. Nach den Angaben des Gemeinderaies Ufhusen hatte der Wert der
Liegenschaft allein 45,000 Fr. oder mehr betragen.
Am 26. Oktober 1908 beschloss der Gemeinderat von Ufhusen:
1. Adolf Marfurt sei unter Vogtschaft gestellt.
2. Derselbe sei berechtigt, dem Gemeinderat über die Person des noch zu
ernennenden Vormundes einen Vorschlag zu machen.
Z. An den h. Regierungsrat sei das Gesuch Um Bewilligung der sofortigen
Publikation der Bevogtigung zu stellen.
4. Zustellung dieser Erkanntnis an Adolf Marfurt unter Hinweis auf das
gesetzliche Recht des Rekurses an den h. Regierungsrat innert 20 Tagen.
Dieser Beschluss wurde folgendermassen begründet:
1. Dass Marfurt laut erhaltenen Anzeigen und den Antworten auf unsere
Informationen schon seit längerer Zeit mit gewissen Personen einen
regen Handel um Vieh und Fahrhaben Zeigt und biebei von denselben immer
benachteiligt und betrogen
tr ;
2. dass derselbe seine Liegenschaft wegen diesem Handel total
896 A. staatsrechtlicheEntscheidungen. 11. Abschnitt. Bundesgesetze.
' ' ' tschafiet, dass sein Verderna la igt und auch sonst derart wir _
mögexihrizssch abnimmt, was die von ihm ausgestellten Schuld-
' bewei en ' Magne dass Zr sich auch je länger je mehr dem Trunke
ergibtaund alsdann in solchem Zustande von seinen Handelsfreunden
abervorteilt wird · ,
4. dass sHiarfurt in jüngster Zeit eine grössere Parzelle Wald
viel zu billig aboerkaiist hat, obgleich er zu seiner Liegensbchaft
verhältnismässig wenig Wald besitzt und dass er auch jetzt eabi ti
t seine Liegenschaft zu verkaufen; _ schäg ,-,dass ein künftiger
Notstand Marfurts, der zwar ledig tft, unabwendbar ist, wobei auch zu
berücksichtigen ist, dass er bereits im Alter von 50 Jahren steht; '
6. ,dass ein sofortiges Einschreiten der Vormundschaftsbehorde dringend
geboten ist und befürchtet werden muss, dass Marfurt das Recht desRekurses
zur Verschleppung und Verschleuderung seiner Liegenschaft und seines
fahrendeii Guihabeus missbrauchen wird * . . 7.) dass die Bormundschaft
in Form der Beistandschast nicht den genügenden Schutz erreicht und also
Bevogtigung notwen' it . t . · dlg8.s dass nach § 18 des V. G. Marsurt
in Zivilarrest versetzt wîrden könnte, der Gemeinderat aber das mildere
Mittel der
. . . . t o orti en Publikation der Bevormundung vorzieh , ...si s
fingAnwendung von § 2 litt. d u. a. des Vormundschafteee es. · ' g sAtzm
30. Oktober wurde die Bevogtiguug im Kantonsblatt publiziert. Ungefähr
gleichzeitig wurde obiger Beschluss des Gemeinderates Ufhusen dein
Rekurrenten zugestellt. Der Beschluss des Regierungsrates, durch welchen
die Publikation bewilligt wurde Iie t nicht bei den Akten. . '
Am, Z.?Rovmder 1908 wurde über die Aktwen des Rekurrenk ten ein amtliches
Güterverzeichnis aufgenommen; dasselbe erga (ohne Berücksichtigung
der Schulden):
Guthaben im Liegenden Fr. 32,320 Guthaben im Fahr-enden . . Fr. 8H460 '
Anfangs Dezember wurden ferner aus Grund eines Schulden-IV. Persönliche
Handlungsfähigkeit. N° 65. 397
rufs mit Eingabefrist bis 28. November die nicht auf der Liegenschaft
lastenden Schulden des Rekurrenten ermittelt; dieselben belieer sich
ans 13,922 Fr. 97 Cfs. bezw. (bei Berücksichtigung eines Nachtrages)
14,043 Fr. 57 Cts. Die auf der Liegenschaft lastenden Schulden betrugen,
wie im Jahre 1887, zirka 24,000 Fr.
Inzwischen hatte am 4. November 1908 der Anwalt des Rekurrenten
beim Regierungsrat gegen den Gemeinderatsbeschluss vom 26. Oktober
1908 Beschwerde eingelegt mit dem Begehren um Aufhebung desselben und
Piiblikation der Aufhebung im Kantonsblatt. Zur Begründung der Beschwerde
wurde in erster Linie geltend gemacht, es liege eine Verweigerung
des rechtlichen Gehörs vor, da der Rekurrent vor der Verhängiing
der Vormundschaft nicht einvernommen worden sei. Ausserdem sei die
Bevormundung materiell unbegründet (wurde näher ausgeführt).
In seiner Vernehmlassung auf den Rekurs gab der Gemeinderat Ufhusen
eine detaillierte Darstellung der Verhältnisse des Rekurrenten und des
Zustandes seiner Liegenschaft. Die Katasterschatzung der Liegenschaft
betrage 32,320 Fr., das Guthaben im Liegenden somit (nach Abzug des
Kapitalverschriebenen) 8250 Fr. Demgegenüber bestehe ein Defizit im
Fahr-enden im Betrage von 4280 Fr.(= 14,040 Fr. Schulden laut Schuldenruf,
abzüglich 9760 Fr. Guthaben). Das Reinguthaben des Rekurrenten belause
sich somit nur noch auf 4000 Fr.
Der Vernehmlassung des Gemeinderates lagen verschiedene Berichte und
Bescheinigungen Bei, u. a. folgender Bericht des Gemeindeammanns :
Der Unterzeichnete, A. Gezmann, Gemeindeammann Ufhusen, erklärt anmit,
dass er am 26. Oktober 1908 bei der amtlichen Jnventaraufnahme auf
Hof Zenzenhos in Ohmstal des Adolf Marsurt mitgewirkt hat und hiebei
gefunden hat, dass sowohl die Liegenschaft desselben, als auch die
Viehware in einem ganz vernachlässigten und verlotterten Zustande sich
befindet. Besonders arg sieht es in der Scheune aus. Der Stall, den
Marfurt iiffnete, war schadhast und knit. Die Tiere liegen vollständig
im Kore. Es ist kein Barren und keine Krippe da, sodass die Tiere das
Futter selbst ausnehmen müssen. Wenn ein kalter Winter
398 A. Siaatsrechiliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.
eintritt, so ist zu befürchten, dass die Viehware erfriert. Zum Streuen
ist nichts vorhanden, die Ställe ungedectt. Den andern Stall wollte
Marfurt nicht öffnen, mit der Angabe, er sei leer. Wahrscheinlich wird
es da noch ärger ausgesehen haben.
Nach Eingang der Beschwerdeantwort beauftragte das Justizdepartement
den Amtsgehilfen von Willisau mit einer Untersuchung der Verhältnisse
des Rekurrenten.
Am 18. Januar 1909 erstattete der Amtsgehilfe dem Justizdepartemeut
einen Bericht mit wesentlich folgendem Inhalte:
Rekurrent, 50 Jahre alt, ledigen Standes, ist kein Faulenzer, er macht
den Melker und arbeitet, so viel er mag, allein er hat die meiste Zeit
nur einen Knecht, und da reichen die Arbeitskräfte zur Bewirtung der
Liegenschaft nicht aus. Er ist auch kein Gewohnheitstrinker, dagegen
fehlt es ihm an Einsicht und Energie, es scheint mehr und mehr eine
unheilvolle Apathie über ihn gekommen zu sein.
Die Vorhälte, die der Gemeinderat ihm wegen seiner Wirtschaftsund
Handlungsweise macht, find der Hauptsache nach begründet. Von der ihm im
Jahre 1887 erbsauskaufsweise von seinem Vater zugesallenen Liegenschast
hat er eine 9 Jucharteu haltende Matte wegverkauft und von der Kaufrestanz
3364 Fr. verbraucht. Auch mit dem Waldverkauf verhält es sich so, wie
der Gemeinderat dargestellt. Rekurrent hat mit diesem Verkauf ganz gegen
seine Interessen gehandelt und wenn er sich damit tröstet, der Handel
müsse nicht gehalten werden, sosist das keine Entlastung für ihn,
das Gravitum des anklager interessenwidrigen Handels bleibt für ihn
gleichwohl bestehen.
Die Liegenschaft des Rekurrenten macht wirklich das Bild grosser
Vernachlässigung Was der Gemeinderat über die Verwahrlosung der Gebäude,
den Zustand im Viehstall usw. vorbringt, ist wahr, ebenso ist wahr,
dass auf der Liegenschaft eine gewisse Raubwirtschaft Betrieben, Heu,
Holz, Dünger wegverkauft worden find. Dass die Liegenschaft im Ertrage
sehr stark zurückgegangen, wird von Nachbaren bezeugt.
Im Schuldenruf sind über 8600 Fr. zu 5 0/0 verzinsliche Titelschulden
für Vieh, mit Abtretungsspesen eingegeben. Mit einem Posten des
Jakob Bürgisser scheint es eine besondere, gra-IV. Persönliche
Handlungsfähigkeii. N° 65. 399
Vierende Bewandtnis zu haben. Marfurt verkaufte dem Bürgisser ein Stück
Vieh und kaufte es am gleichen Tage wieder zurück. Für das verkaufte Stück
will Marfurt von Bürgisser kein Geld erhalten haben, dagegen stellte
er dem Bürgisser für den vollen Rücktaufvreis einen Schuldtitel aus it
Marsurt weiss oder will über diesen merkwürdigen Handel keine bestimmte
Auskunft geben, er sagt bloss, die Eingabe Bürgisser sei nicht richtig,
er wolle dann schon luegen.
Marfnrt ist, wie hierorts allbekannt, einer raffinierten, listigen
Viehhändlergilde in die Hände gefallen, die ihn fast täglich aufsucht und
ihn zu übervorteilen und zu beluer sucht. Er hat durch den Viehhandel
schweren Nachteil erlitten; er mag das fühlen, aber er hat nicht den
Mut und nicht die Kraft, sich dieser Sippschaft zu erwehren. Die bösen
Verhältnisse scheinen ihm über den Kopf gewachsen zu sein, er weiss sich,
was ich bei der Unterredung wohl herausfühlte, nicht mehr zu helfen. Jn·
der Umgebung des Marfurt herrscht die entschiedene Meinung, dass dessen
Bevogtigung eine absolute Notwendigkeit sei. Zu der gleichen Ansicht
bin auch ich durch den Untersuch gekonunen.
Hieran wies am 27. Januar 1909 der Regierungsrat den
Rekurs Marfurts als unbegründet ab. In Bezug auf das vom Gemeinderat
Ufhusen eingeschlagene Verfahren führt der Entscheid aus: Allerdings
schreibe der § 14 des Vormundschaftsgesetzes vor, die zu bevogtigende
Person womöglich persönlich vor den Gemeinderat zu berufen iund ihre
allfälligen Einwendungen anzuhören; allein schon der Wortlaut dieser
Gesetzesbestimmung gehe dahin, dass dieser Vorschrift des rechtlichen
Gehörs nicht unter allen Umständen schon vor der Bevogtigung entsprochen
werden müsse. In Fallen, bei denen eine vorherige Einvernahme des zu
Bevogtigenden wahrscheinlich den Zweck der Bevogtigung illusorisch machen
würde, müsste diese vorgängige Einvernahme naturgemäss unterbleiben,
zumal es dem betreffenden freistehe, in der Rekursinstanz alle seine
Einwendungen gegen die Bevogtigung unbehindert geltend zu machen. '
Jm vorliegenden Falle sei nun nach den Ausführungen des Gemeinderates
die Wahrscheinlichkeit gross gewesen, dass der Re-
400 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. ll. Abschnitt. Bundesgesetze.
kurrent die Kenntnisgabe der bevorstehenden Bevogtigung zur
Verschleuderung seines Gnthabens missbraucht hätte. Daher sei das vom
Gemeinderat eingeschlagene Verfahren durchaus berechtigt gewesen.
B. Gegen diesen Entscheid des Regierungsrates hat Marfurt rechtzeitig und
formrichtig den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen
mit dem Antrag auf Aufhebung der über den Rekurrenten verhängten
Bevogtigung.
Dieser Antrag wird damit begründet dass das vom Gemeinderat Ufhusen
eingeschlagene Verfahren gegenüber dem Rekurrenten eine Verweigerung
des rechtlichen Gehörs bedeute, sowie dass die Vormundschaft auch wegen
willkürlicher Annahme eines Bevogtigungsgrundes aufzuheben sei.
(I. Der Regierungsrat des Kantons Luzern und der Gemeinderat von Ufhusen
haben Abweisung des Rekurses beantragt. '
D. Die einschlägigen Bestimmungen des luzernischen Vormundschaftsgesetzes
vom 7. März 1871 lauten: § 14.
Die zu bevogtenden Personen sollen, nachdem sich der Gemeinderat gemäss
§ 8 mit den nächsten Verwandten in Rücksprache gesetzt hat, wo möglich
persönlich vor den Gemeinderat berufen und ihre allfälligen Einwendungen
angehört werden.
§ 15.
Soll ein Volljähriger wegen geistiger und körperlicher Gebrechen (§
2 litt. b) unter Vogtschast gestellt werden, so hat der Gemeinderat
vor allem den Befund zweier patentierter Ärzte über dessen Fähigkeit
zur eigenen Vermögensverwaltung einzuholenSind die Zeugnisse der Ärzte
nicht übereinstimmend, oder wird in die Richtigkeit Zweifel gesetzt,
so soll noch das Gutachten der Sanitätsbehörde eingeholt werden
§ 18.
Wenn ein Gemeinderat, der über ein Individuum die Vevogtigung unter
Vornahme eines Schuldenrufes zu verhängen hatmit Grund besorgen könnte,
dass dasselbe die Zwischenzeit, die bis zur Abhaltung dieser letztern
Verhandlung verfliesst, zur Missbrauchung seiner Freiheit und zur
Vereitlung des Zweckes seiner Bevogtigung verwenden dürfte, kann der
Gemeinderat es magIV. Persönliche Handlungsfähigkeit. N° 65. 401
das Individuum sich seiner Bevogtigungsschlussnahme unterziehen oder
nicht bei dem Amtsstatthalter das Ansuchen stellen, dass dasselbe
einstweilen bis nach abgehaltenem Schuldenrufe in Arrest versetzt werde,
über welches Ansuchen der Amtsstatthalter nach den obwaltenden Umständen
entscheidet; im entsprechenden Falle hat der Schuldeanf ohne Verzug und
mit der kürzesten Eingehefrist zu erfolgen. § 19.
Wird gegen die gemeinderätliche Bevogtigungsschlussnahme vom zu
Bevogtigenden binnen 20 Tagen der Rekurs an den Regierungsrat ergriffen
(Org.-G. § 109 iitt. a), so soll die Rekursschritt dem Gemeinderate zur
Einreichung von allfälligen Gegenbemerkungen und dieselben unterstützenden
Akten oder Beweisen mitgeteilt werden. ss
Einhalten diese Gegenbemerkungen neue Anbringen, so sind selbe wieder dem
Rekurrenten zur Entgegnung und allfälligen Aktenauflage mitzuteilen oder
es kann das vorberatende Departement nötigenfalls erst nach stattgehabter
Schriftenauswechslung eine persönliche Ginvernahme beider Teile in Rede
und Widerrede veranstalten Uber eine solche mündliche Verhandlung soll
in Kürze ein Protokoll aufgenommen und den Akten beigelegt werden. Wo die
Akten nicht überzeugend sind, soll durch das vorberatende Departement oder
den Amtsgehilsen eine Einvernahtne unbeteiligter Personen siattfindeu,
worüber ein Protokoll aufzunehmen ist.
Nach durchgeführter Untersuchung kann auf Verlangen der Parteien
oder von Amts wegen eine mündliche Schlussverhandlung vor der Behörde
stattfinden. '
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Dem Regierungs-rate des Kantons Luzern, dessen Entscheid einzig den
Gegenstand des vorliegenden staatsrechtlichen Rekurses bildet und bilden
konnte, wird eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs nur insofern
zum Vorwurf gemacht, als diese Behörde es unterlassen habe, den ohne
Einvernahme des Reinerenten zu Stande gekommenen Bevogtigungsbeschluss
des Gemeinderate-Z von Ufhusen aufzuheben, d. h. gegenüber einer
erstinstanzlich begangenen Verweigerung des rechtlichen Gehörs
einzuschreiten. Es braucht deshalb nicht untersucht zu werden, ob
s02 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. Il. Abschnitt. Bundesgesetze.
der Regierungsrat sich durch das von ihm selber, behufs Erledigung der
Beschwerde Marfurts, eingeschlagene Verfahren, oder auch schon vorher,
durch Bewilligung der sofortigen Publikation der Bevormundung, eine
Verweigerung des rechtlichen Gehörs habe zu Schulden kommen lassen. Was
übrigens die Bewilligung der Publikation betrifft, so ergibt sich aus den
Akten, dass der Rekurrent davon spätestens am 3. November 1908 Kenntnis
erhalten hat, weshalb in Bezug auf diesen Punkt der vorliegende, am
9. April 1909 ergriffene staatsrechtliche Rekurs verspätet ware.
2. Es ist unbestreitbar, dass durch den Bevogtigungsbeschlnss des
Gemeinderates von Ufhusen der Anspruch des Rekurrenten auf rechtliches
Gehör verletzt worden ist.
Das lnzernische Vormundschaftsgesetz schreibt freilich in § 14 nur vor,
die zu bevogtigenden Personen seien behufs Anbringnng ihrer Einwendungen
womöglich persönlich vor den Gemeinderat zu berufen. Allein abgesehen
davon, dass im vorliegenden Falle eine solche persönliche Einvernahme
sehr wohl möglich gewesen wäre, zumal eine ernstliche Gefahr doloser
Vermögensentäusserung seitens des Rekurrenten offenbar nicht vorhanden
war, ist grundsätzlich daran festzuhalten (vergl. BGE 23 S. 568 ff.),
dass der zu Bevormundende ein aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV herzuleitendes Recht aus
vorherige Einvernahme besitzt und dass dieses verfassungsmässige Recht
von den Bestimmungen kantonaler Gesetze unabhängig ist, eine Verweigerung
des rechtlichen Gehörs also auch vorliegen farm, wenn die Vorschriften
des kantonalen Rechtes beobachtet wurden. Im vorwürfigen Falle hat nun
entgegen obigem Grundsatze des eidgenbssischen Rechtes eine Einver-
nahme des Vögtlings vor dessen Bevormundung nicht stattgefun
den. Es hat sich also der Gemeinderat Ufhusen dem Rekurrenteu gegenüber
einer offenbaren Verweigerung des rechtlichen Gehörs schuldig gemacht.
Wenn der Regierungsrat zur Rechtfertigung des eingeschlagenen Verfahrens
in seiner Vernehmlassung ausführt, es habe sich in neuerer Zeit im
Kamen Luzern die Praxis herausgebildet-idie Bevogtigung in dringenden
Fällen ohne vorherige Einvernahme des zu Bevogtigenden zu verhängen,
um nicht die härtere Massregel der Verhaftung des letztern verfügen zu
müssen, so ist demgegenüber zu bemerken, dass auch durch eine solche
PraxisIV. Persönliche Handlungssàhigkeit. N° 65. 403
dem verfassungsmässigen Recht des zu Bevormundenden auf vorherige
Einvernahme kein Abbruch getan werden kann. Damit soll selbstverständlich
nicht gesagt sein, dass jene battere Massregel, nämlich die in § 18
des luzernischen Vormundschaftsgefetzes allerdings vorgesehene, dem
modernen Rechtsgefühl jedoch durchaus widersprechende Verhaftung des zu
bevogtigenden Jndividuums, vom verfassungsrechtlichen Standpunkte aus
als zulässig zu betrachten ware.
3. Fragt es sich nun, ob durch Nichtaufhebung des nach obigen Ausführungen
zweifellos ungesetzlichen, den verfassungsmässigen Anspruch des
Rekurrenten auf rechtliches Gehör verletzenden Gemeinderatsbeschlufses
der Regierungsrat des Kantons Luzern seinerseits eine Verweigerung
des rechtlichen Gehör-s begangen habe, so ist zwar zuzugeben,
dass es vielleicht richtiger gewesen wäre, wenn der Regierungsrat,
ohne auf die materielle Prüfung der Angelegenheit einzutreten, jenen
Gemeinderatsbeschluss aufgehoben und den Gemeinderat Ufhusen angewiesen
hatte, den Rekurrenten persönlich einzuvernehmen und auch der Vorschrift
von § 15 des Vormundschaftsgesetzes (betr. Einholung ärztlicher Gutachten)
nachzukommen Wenn nun aber statt dessen der Regierungsrat, in der Meinung,
es sei das vom Gemeinderat Ufhusen eingeschlagene Verfahren zulässig
gewesen, auf die materielle Seite der Angelegenheit eingetreten ist und
nach eingehender Prüfung der persönlichen und pekuniären Verhältnisse
des Rekurrenten, sowie nach Einvernahme desselben, zum Schlusse gelangt
ist, es sei dessen Bevogtignng aufrecht zu erhalten, so kann füglich
angenommen werden, es seien dadurch die s. Z. im Verfahren vor Gemeinderat
begangenen Formfehler geheilt worden. Allerdings war auch das Verfahren
vor Regierungsrat insofern wohl kaum ganz einwandfrei, als der Rekurrent
entgegen der Vorschrift von § 19 Abs. 2 des Vormundschaftsgesetzes
nicht eingeladen wurde, auf die in der Vernehmlassung des Gemeinderates
enthaltenen neuen Anbringen (Betr. laufende Schulden, Zustand des Viehs,
der Gebäude usw.) zu replizieren Abgesehen davon jedoch, das dieser Punkt
iu dem vorliegenden staatsrechtlichen Rekurse nicht hervor-gehoben wird,
ist hiezn zn bemerken, dass der Rekurrent immerhin in einem Zeitpunkte,
wo jene Vernehmlassung nebst Veilagen bereits eingereicht war und somit
alles Belastungs-
404 A. staats-rechtliche Entscheidungen. H. Abschnitt. Bundesgesetze.
material sich bei den Akten befand, im Auftrage des Regierungsrates
durch den Amtsgehilsen von Willisan persönlich einvernommen worden
ist. Und wenn auch über diese Amtshandlung ein förmliche-s Protokoll
(wte solches in § 19 des Gesetzes vorgesehen ist) nicht aufgenommen
wurde, so ergibt sich doch aus dem Berichte des Amtsgehilfen an den
Regierungsrat, dass die Verhältnisse des Rekurrenten durch den genannten
Beamten gewissenhast und allseitig geprüft worden sind und dass der
Rekurrent Gelegenheit erhalten hat, sich über die ihm zur Last gelegten
unverständigen Handlungen auszusprechen Damit dürfte aber dem Anspruch
des Rekurrenten auf rechtliches Gehör-, wiewohl erst nachträglich,
nach den Verhältnissen des konkreten Falles Genüge geleistet worden sein.
4. Endlich liegt auch, in materieller Hinsicht, eine Verletzung
des Bundesgesetzes betreffend die persönliche Handlungs- fähigkeit
nicht-vor. Aus den Akten, insbesondere aus dem amtlichen Güteroerzeichnis
und der Zusammenstellung der Schulden des Rekurrenten, ergibt sich in
der Tat, dass infolge der auf dem Gute des Rekurrenten herrschenden
Misswirtschaft und infolge zahlreicher äusserst unverständiger
Rechtsgeschäfte desselben bereits ein beträchtlicher Vermögensrückgang
eingetreten ist (selbst wenn mit dem Rekurrenten angenommen wird, der
Wert seiner Liegenschaft nebst Inventar habe im Jahre 1887 nicht mehr als
45,000 Fr. betragen) und dass somit der völlige Rnin Marfurts befürchtet
werden musste, sofern er nicht am Abschlnsse weiterer nachteiliger
Rechtsgeschäfte, namentlich mit den Viehhändlern, denen er zum Opfer
gefallen war, verhindert wurde.
Der vorliegende Rekurs ist somit abzuweisen, womit jedoch keineswegs
gesagt sein soll, dass das dem Rekurrenten gegenüber eingeschlagene
Verfahren und die bezügliche Praxis der Behörden des Kantons anern
gebilkigt merde.
Demnach hat das Bundesgericht erkannt:
Der Rekurs wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.lV. Persönliche
Handlungsfflhigkeit. N° 66. 405
66. Zier-teil vom 17. Juni 1909 in Sachen gibt gegen Regierung-rat des
DamenYasettana
_ Enümündigung eine? Frauensperson, weil sie in eine Famiiie zur-ital:--
gekehrt sei, in wein-der sie bereits einmal sittlick geschädigt wurde,
end weil Gefahr besteht, dass sie auf eine zu ihren, Gunsten stipuharte
Entschddigemg van {000 Fr. verzichte. Unterlassung der persfinlichen
Zustellung des Bevarmemdungsbeschlussee ern die Betroffene. --
A. Die Rekurrentin ist am 8. Januar 1889 geboren, als Tochter
des verstorbenen Gottfried Jtin und der Berta geb. Schafsner von
Hersberg Schon in jungen Jahren wurde sie den -kinderlosen Eheleuten
Hediger-Schasfner in Wintersingen die Ehefrau Hediger-Schaffner ist
die Schwester von Frau JünSchaffner in Pflege gegeben. Hier wurde
die Rekurrentin vom Ehetnann Hediger geschlechtlich missbraucht und
geschwängert Schon vor der Niederkunft, am 24. September 1908, schloss
die Armenpflege von Hersberg mit den Eheleuten Hediger-Schasfner einen
Vergleich, wonach die letztern innerhalb 4 Tagen der Armenpflege für die
Erziehung des Kindes 3000 Fr. auszahlen sollten; im Falle einer Adoption
des Kindes durch die Eheleute Hediger sollten von der Entschädigung 1000
Fr. an die Rekurrentin fallen und der Rest zurückgegeben werden. Zur
Zeit der Anhebung des Reknrses war diese Verpflichtung noch nicht erfüllt.
B. Seit dem 12. Dezember 1908 befindet sich der Ehemann Hediger-Schafsner
in Haft, weil er an einer jüngeren Schwester der Reknrrentin unzlichtige
Handlungen vorgenommen hat; er ist zu einer Freiheitsstrafe von
14/2 Jahren verurteilt worden. Nach der Verhastung des Ehemannes
Hediger begab sich die Rekurrentin wieder zur Ehefrau Hediger,
der sie in dieser Notlage Beistand leistete. In diesem Verhalten
erblicken die Vormundschaftsbehörden von Baselland den Tatbestand der
Vermögeusgefährdung durch under-ständige Handlungen, einen Tatbestand,
der nach § 3 litt. b des Vormundschasisgesetzes von Basellandschaft einen
Bevormundungsgrund bildet. Aus dem Bevormundungsverfahren ist folgendes
hervorzuheben: Am 2. Januar 1909 stellte der Gemeinderat