10 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. l. Abschnitt. Bundesverfassung.

Richter nicht zum Nachteil der ausgebliebenen Partei ein dem Gesetze und
seinem ganzen System durchaus fremdes Verfahren einschlagen. Darin, dass
das Kantonsgericht im vorliegenden Fall zu Ungunsten des Rekurrenten
eine viel schärfere, als die vom Gesetze vorgesehene Säumnissolge,
nämlich die Verwirknng der Appellation, ausgesprochen hat, welche
Folge des Ausbleibens des Appellanten zwar in einzelnen Kantonen
nach ausdrücklicher Gesetzesvorschrift besteht (z. B. Zürich § 673 des
Rechtspflegegesetzes), der ZPO des Kantons Wallis aber gänzlich unbekannt
und hier durch Art. 178
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 178 Bundesverwaltung - 1 Der Bundesrat leitet die Bundesverwaltung. Er sorgt für ihre zweckmässige Organisation und eine zielgerichtete Erfüllung der Aufgaben.
1    Der Bundesrat leitet die Bundesverwaltung. Er sorgt für ihre zweckmässige Organisation und eine zielgerichtete Erfüllung der Aufgaben.
2    Die Bundesverwaltung wird in Departemente gegliedert; jedem Departement steht ein Mitglied des Bundesrates vor.
3    Verwaltungsaufgaben können durch Gesetz Organisationen und Personen des öffentlichen oder des privaten Rechts übertragen werden, die ausserhalb der Bundesverwaltung stehen.
direkt ausgeschlossen ist, muss eine gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.

BV verstossende Missachtung klaren Rechtes, eine Rechtsverweigerung,
erblickt werden. Dass das Kantonsgericht einer bestehenden Praxis gefolgt
ist, kann dabei nichts verschlagen, weil eben nach dem gesagten diese
Praxis sich als durchaus gesetzwidrig und willkürlich darstellt. '
Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird gutgeheissen und demnach das Urteil des Kantonsgerichts
des Kantons Wallis vom 2. Oktober 1907 aufgehoben. ss

3. germe vom 4. März 1908 in Sachen Linden-arm gegen Regierungsrat Steuern

Verweigerung des rechtlichen Gehò'rs in einer Bevarmundungssaohe:
Unterlassung der Mitteilung einer ärztlichen Expertise an den zu
Be-vormundenden. §§ 2 litt. b, 19 des lezza-machen l'as mundsckafls-
geseizes.

A. Der Rekurrent, Thomas Lindetnann in Grossdietwil, wurde durch
Erkenntnis des Gemeinderates Grossdietwil vom H.,-"21. Januar 1907 nach §
3 litt. d des Vormundschastsgesetzes unter Beistandschaft gestellt. Diese
Bestimmung lautet: Ein Beistand gewiss bestellt werden.... d) einer
Person, von welcher in Beziehung auf Besorgung ihres Vermögens solche
Handlungen beWkannt sind, die noch nicht eine Vogtschaft hinlänglich
begründen,[. Rechtsverweigerung und Gleichheit vor dem Geseize. N° 3. II

beten Wiederholung aber eine solche herbeiführen wüsste Die Verbeiständung
wurde damit begründet, dass der Rekurrent seinen Liegenschaftsanteil im
Rugenstal ohne erweichen Entgelt veräussert habe. Jnfolge seines hohen
Alters besitze er nicht mehr die volle geistige Kraft zur Beurteilung
seines Handelns Es sei zu befürchten, dass er durch fernere Enteignung
seines Besitzstandes leicht in Not geraten könne und es sei daher Pflicht
der Vormundschaftsbehörde, auf sichernde Schritte Bedacht zu nehmen. Gegen
dieses Erkenntnis rekurrierte Lindemann an den Regierungsrat, indem
er-bestritt, dass der Verkauf seines Liegenschaftsanteiles sich
als eine die Bevormundung rechtfertigende Handlung analifiziere
und dass er körperlich und geistig nicht mehr im Stande sei,seine
Vermögensangelegenheiten selbst zu besorgen."Der Regierungsrat wies den
Rekurs durch Entscheid vom 16. Oktober 1907 ab mit folgender Begründung:
Die Bestreitungen des Rekurrenten hätten den Gemeinderat Grossdietwil
veranlasst, nachträglich ein ärztliches Gutachten darüber einzuholen, ob
der 73jährige Rekurrent noch die nötigen Fähigkeiten zur selbständigen
Vermögensverwaltung besitze. Das Gutachten der Ärzte A. J. Estermann
in Grossdietteil und Dr. I. Keller in St. Urban vom 20. September 190?r
spreche sich im wesentlichen dahin aus: Auf lörperlichem Gebiete zeigten
sich beim Rekurrenten die Erscheinungen der beginnenden Seneszenz (
gebeugte Haltung, Arterienverhärtung und Abstumpfung der Sinnesfunktionen,
namentlich eine bedeutende Schwerhörigkeit). Auch die geistige Verfassung
des Rekurrenten weise auf einen ausgesprochenen senilen Prozess hin. Seine
intellektuellen Fähigkeiten seien reduziert; Gedächtnis und Urteilskrast
seien minderwertig. Er bringe es nicht fertig, über sein Vorleben richtige
Auskunft zu geben; für viele Jahre fehle ihm jegliche Erinnerung. Er
sei nicht im Stande, feine Vermögensverhältnisse klarzulegen. Der
Rekurrent leide an einem geistigen Schwächezustand und sei nicht in der
Lage, die Bedeutung und Tragweite seines Handelns zu ermessen und seine
Vermögensverhältnisse richtig wahrzunehmen Er sei des rechtlichen Schutzes
bedürftig, da seine Entschlusse und Handlungen der Selbständigkeit und
Festigkeit entbehrten und leicht allen möglichen Einflüssen Dritter
unterlägen. Nach diesem Gutachten, so führt der Regierungsrat aus, wäre

12 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. [. Abschnitt. Bundesverfassung.

nicht bloss Verbeiständung, sondern die Bevogtigung des Reimrenten
gemäss § 2 litt. b des Vormundschaftsgesetzes gerechtfertigt. Das
reknrrierte Erkenntnis müsse deshalb geschützt werden, gleichviel, ob
eine vermögensrechtliche Handlung des Rekurrenten, welche an und für sich
den Verbeiständungsgrund des § 3 litt-. d des zitterten Gesetzes bilden
würde, vor-liege oder nicht. Demnach sei der Rekurs in Anwendung der §
2 litt. b, 4, ?, 15 und 19 des Vormundschaftsgesetzes abzuweisen.

B. Gegen den Entscheid des Regierungsrates hat Lindemann den
staatsrechtlichen Rekurs ans Bundesgericht mit dem Antrag aus
Aufhebung ergriffen. Es wird ausgeführt: Durch den angesochtenen
Entscheid sei dem Rekurrenten das rechtliche Gehör verweigert worden. Der
Regierungsrat habe auf einen andern Bevormundungsgrund als der Gemeinderat
abgestellt, indem er die vom letztern aus § 3 litt. d des kantonalen
Vormundschaftsgesetzes verhängte Beistandschaft nach § 2 litt. b
als Bevogtigung aufrecht erhalten und in diesem Sinn den Rekurs des
Rekurrenten abgewiesen habe. Der Rekurrent habe aber keine Gelegenheit
gehabt, sich über diesen neuen Bevormundungsgrund zu äussern. Speziell
habe der Rekurrent sich über die angebliche, vom Gemeinderat erhobene
Expertise nicht äussern können. Er habe überhaupt von einer Expertise
gar keine Kenntnis gehabt. Er erinneresich nur, dass einmal der Arzt
Estermann in Grossdietwil im September in Begleitung eines andern Herrn
bei ihm vor-gesprochen und verschiedene Fragen an ihn gerichtet habe. Der
Rekurrent habe gefunden, dass seine Angelegenheiten diese Herren nichts
angingen und sich deshalb sehr reserviert verhalten. Dadurch, dass er sich
über die Expertise nicht habe aussprechen können, sei ihm nicht nur das
rechtliche Gehör in allgemeiner Weise abgeschnitten, sondern es seien
dadurch auch die Vorschriften des Art. 19 des Vormundschaftsgesetzes
willkürlich beiseite geschoben worden. Endlich sei die Beoogtigung des
Rekurrenten auch materiell blindesrechtswidrig, was naher ausgeführt wird.

Nach § 15 des Vormundschaftsgesetzes hat der Gemeinderat wenn eine
volljahrige Person wegen geistiger oder körperlicher Gebrechen bevogtigt
werden soll, den Vefund zweier Ärzte einzuholen § 19 bestimmt: Wird
gegen die gemeinderätliche Bevog-I. Rechtsverweigerung und Gleichheit
_vor dem Gesetze. N° 3. 13

tungsschîusznahme vom zu Bevogtenden binnen 20 Tagen der Rekurs an
den Regierungsrat ergriffen (OrgGes. § 109 litt a) so soll die Rekurs
schrist dem Gemeinderat zur Einreichung von allfälligen Gegenbemerkungen
und dieselben unterstützenden Akten

. :,oder Beweisen mitgeteilt werden Enthalten diese Gegende-

merkungen neue Anbringen, so find dieselben wieder dem Nehmenten zur
Entgegnung und allfälligen Aktenauflage mitzuteilen ,oder es kann
das vorberatende Departement notigensalls erst :nach stattgehabter
Schriftenanswechslung eine persönliche Einvernahme beider Teile in Rede
und Widerrede veranstalten Über eine solche mündliche Verhandlung soll
in Kürze ein Protokoll aufgenommen und den Akten beigelegt werden. Wo
die Akten Wicht überzeugend find, soll durch das vorberatende Departement
ober den Amtsgehülfen eine Einvernahme unbeteiligter Personen stattsinden,
worüber ein Protokoll aufzunehmen ist. Nach durchgesührter Untersuchung
kann auf Verlangen der Parteien ober von Amtswegen eine mündliche
Schlussverhandlung vor Behörde stattfinden. Nach § 12 findet das für
Bedogtigung vorgeschriebene Verfahren auch für Verbeiständung sinngemäss
Anwendung

C Der Regierungsrat Luzern hat auf Abweisung des Renteses angetragen
Jn der Vernehmlassung ist u. a bemerkt, der Regierungsrat habe keine
Veranlassung gehabt, in die Richtigkeit des vom Gemeinderat erhobenen
Gutachtens Zweifel zu setzen. Wenn der Rekurrent dieses Gutachten nicht
als richtig anerkennen sollte, habe er das Obergutachten der kantonalen
Sanitätsbehörde anzurufen. Sollte dieses zu Gunsten des Rekurrenten
lauten, so würde der Regierungsrat nicht anstehen, auf seinen Entscheid
zurückzukommen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Der angefochtene Entscheid des Regierungsrates stützt sich ausdrücklich
und auch der ganzen Begründung nach auf § 2 litt. b des kantonalen
Vormundschaftsgesetzes, der von der Bevogtigung Volljähriger wegen
geistiger oder körperlicher Gebrechen handelt. Die vom Gemeinderat
Grossdietwil über den Rekurrenten verhängte Beistandschast ist daher
durch den angesochtenen Entscheid aus dem Gesichtspunkt einer Bevogtigung
aufrecht erhalten wor-

14 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

den. Hiebei ist aber das Verfahren, das § 19 leg. cit. für die Behandlung
von Bevogtigungsrekursen durch den Regierungsrat vorschreibt (welche
Bestimmung übrigens nach § 12 sinngem'àsz" auch für die Beistandschaft
gilt), unbeachtet geblieben. Die vom Gemeinderat über den geistigen und
körperlichen Zustand des Rekurrenten nachträglich eingeholte Expertise
stellte sich ohne Frageals neues Anbringen des Gemeinderates im Sinn des §
19 dar. Sie musste daher dem Rekurrenten zur Entgegnung mitgeteilt werden,
was unbestrittenermassen nicht geschehen isi. Auch eine persönliche
Einvernahme des Rekurrenten durch das vorberatendes Departement hat
nicht stattgefunden; doch kann das Gesetz immerhin dahin verstanden
werden worauf der Ausdruck nòtigené falls verweist , dass eine solche
Einvernahme nur fakultativ, nicht obligatorisch ist. Darin, dass dem
Rekurrenten entgegendem positiven Befehl des Gesetzes die Expertise
nicht zur Vernehmlassung mitgeteilt worden ist, liegt eine gegen Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.

BV verstossende Missachtung klaren Rechtes, ganz abgesehen davon, dass
der Rekurrent wohl schon nach der in Bevormundungssachen von Bundes
wegen bestehenden Garantie des rechtlichen Gehörs Anspruch daran hatte,
sich über die Expertise aussprechen zu können (f. AS 29 I S. 466 Erw. 1
und die dortigen Zitate).

Der angefochtene Entscheid leidet daher an einem formellen, eine
Verfassungsverletzung involvierenden Mangel und muss deshalb aufgehoben
werden in der Meinung, dass der Regierungsrat einen andern Entscheid zu
erlassen und dabei das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren zu befolgen
hat. Der Mangel kann nicht dadurch geheilt werden, dass dem Rekurrenten,
wie es in der Vernehnilassung des Regierungsrates geschieht, nachträglich
freigestellt wird, ein Obergutachten der Sanitätsbehörde zu veraniassem
je nach dessen Ergebnis dann der Regierungsrat eventuell auf seinen
Entscheid zurückkommen würde; denn bei diesem im Gesetze nirgends
vorgesehenen Verfahren würde die formell verfassungs-

widrige Bevogtigung des Rekurrenten bis aus weiteres fortbe-,

stehen.

Da der Rekurs aus den angeführten Gründen gutzuheissen ist,
braucht auf die übrigen Beschwerdepunkte nicht eingetreten zu
werden.I. Rechtsverweigerung und Gleichheit vor dem Gesetze. N°1. 15

Demnach hat das Bundesgericht erkannt: Der Rekurs wird gutgeheissen und
der Entscheid des Regierungsrates des Kantons Luzern vom 16. Oktober
1907 aufgehoben.

4. guten vom 12. guar; 1908 in Sachen Hmmeujaltsaje
Wobtltatvetstiyernngsgesettlcyait gegen ginwohnergemeiude Yigsen
Gesten-ungern Mm),

Berflisches Gesetz über das Steuer-wesen in, den Gemeinde-n,
vom 2. September 1867, §§ 4, 9 ee. 14: Steuerfreiheit
gemeinnütziger Anstalten. Willke'èrlicke Auslegung dieses
Bem-Wes? Einkommens steuergesetz vom 18. März 1865, §§ 10 und 12
Abs. 1. Rechtsver-bindtichkeit des Steuerveraniagungsverfahrens für die
Verwaltemg. Unzuldssz'gkeii einer Nachsteuerforderung für die Zeit, in
der ein Steuervemnlagungsverfa-hren gar nicht durchgeflék-rt worden ist.

'A. Das beruische Gesetz über das Steuerwesen in den Gemeinden, vom
2. September 1867, schreibt vor (§ 4), die Gemeindesteuer werde auf
Grundlage der Siaatssteuerregister erhoben, in der Weise, dass diese
Steuerregister sowohl hinsichtlich derSchatzung des steuerpflichtigen
Vermögens und Einkommens, als auch in Betreff der der Steuerpflicht
unterworfenen Personen und Sachen massgebend seien mit Vorbehalt der
in den folgenden Paragraphen normierten Abweichungen, worunter die (§
6 in fine),. dass die Einkommenssteuer an die Gemeinden auch von den
EinEugen in die Hypothekarkasse und in die Ersparniskassen zu entrichten
ist (während dem Staate für solche Einlageu nur die be-treffenden Kassen
steuerpflichtig sind). Ferner bestimmen die §§ 9-

und 14 des Gesetzes:

§ 9. Gänzlich steuerfrei sind die Kapitalien und Renten unddas Einkommen
der Korporationen und öffentlichen Anstalten, denn Verwaltung zwar
in der Gemeinde ihren Sitz hat-, die aber keinerlei Nutzen aus den
Gemeindeeinrichtungen ziehen können, wie namentlich Ersparniskassen,
Witwenstiftungen n. dgl., und-