8 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. 1. Abschnitt. Bundesverfassung.

greisnng der zulässigen Rechtsmittel verlängert worden wäre oder dass
der Rekurrent sich einer Vollziehung des Urteils hätte widersetzen
können; keineswegs jedoch könnte aus diesem Grunde die vom Rekurrenten
prinzipiell beantragte Aufhebung des Urteils ausgesprochen werden Was
aber die eventuell nachgesuchte Aufhebung der Rechtskrasterklärnng
betrifft, so ist zu beachten, dass diese selbst auf die Zustellung
verweist und die Gültigkeit der Zustellung mit Bezug auf die Rechtskraft
zunächst von den kantonalen Behörden, an die das Urteil weitergezogen
werden kann oder von denen Vollziehung verlangt wird, geprüft werden
müsste, bevor das Bundesgericht sich mit dieser Frage der Rechtskraft,
soweit diese in Hinsicht aus die mangelhafte Zustellnng bestritten wird,
befassen könnte. 6. (Ausführung, dass materiell keine Willkür vorliege)
Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Reknrs wird abgewiesen.

2. Arie-il vom 1. Februar 1905 in Sachen abroga gegen Zähne-,
bezw. grezirksgeritht Yppeuzell gi,-"gw.

Verletzung des GT'ändsaiZeS nulla poena sine lege durch Besèmflmg auf
Gru-nd einer nicht. bestehenden St-rafiwrm und durch Subsumz'esenan eines
Tatkestanetes ern-ieteine Beckésnorm, unter die einieset fällt? (Art. 154
StG von Appe-nzelè I.-Bh., Erregung öffentlichen Aergemisses, angewandt
auf unsittliche Handlung, begangen. an einem Kinde ). Stellrmg des
Beendesgerickts. Willkür ?

A. Robert Zähner in Appenzell erhob bei der Polizeidirektion des
Kantons Appenzell J.-Rh. gegen den Rekurrenten Strafklage wegen
Sittlichkeitsvergehen über folgenden Tatbestand: Der Rekurrent habe
am 31. Juli 1904 seinem Töchterchen Alice in der Backsiube zum Adler
zuerst auf den Rock getätschelt und dann gefragt, ob es wehe tue. Auf
die verneinende Antwort habe er dem Kinde den Rock aufgehoben, die
Unterhöschen herabgelassen und ihm auf den blossen Hinterteil getätschelt
und wieder gefragt,I. Rechtsverweigerung und Gleichheit vor dem Gesetze. r
° 2. If

ob es wehe tue. Nachher habe der Rekurrent dem Kinde zwei Krämlein
gegeben. Nach durchgeführter Untersuchung erhob die Polizeidirektion beim
Bezirksgericht Appenzell Anklage gegen den Rekurrenten wegen Vergehen im
Sinne des Art. 154 des kautenalen SW, der lautet: Wer durch unzüchtige
Worte oder Handlungen öffentliches Aergernis erregt, oder nnzüchtige
Schriften oder Bilder ausstellt, verkauft, zum Verkaufe anzeigt oder
auslehnt, wird bis auf 100 Fr. oder mit Gefängnis bis auf drei Monate
gebüsst und es können die Gegenstände des Ver gehen? konsisziert
werden , und das Bezirksgericht erklärte den Rekurrenten durch Urteil
vom 25. Oktober 1904 schuldig der nnsittlichen Handlung, verübt
an einem Kinde, und verurteilte ihn zu einer Busse von 50 Fr einer
Entschädigung an Zähner wegen tori; moral von 200 Fr. und den Kosten,
indem es gleichzeitig eine Widerklage des Vaters des Rekurrenten wegen
Hausfriedensstörung (angeblich von Zähner begangen, als er den Rekurrenten
zur Rede stellte) und falscher Anschuldignng als der Innern Begründung
ermangelnd und angesichts des festgestellten Tatbestandes der Klage
abwies. Die Verurteilung des Rekurrenten ist wie folgt begründet: Durch
die Untersuchung sei festgestellt was der Rekurrrent bestritten hatte -,
dass das Kind Alice Zähner in der kritischen Zeit den Laden zum Adler
betreten und darin längere Zeit verweilt habe. Aus den Akten und dem darin
enthaltenen Jndizienbeweis schöpse das Gericht ferner die Uberzeugung,
dass sich der Rekurrent der ihm zur Last gelegten unfittlichen Handlungen
schuldig gemacht habe. Diese Handlungen seien zwar kein gerade schweres
Delikt, aber involvierten immerhin einen Verstoss gegen die Sittlichkeit,
wobei erschwerend in Betracht falle, dass sie an einem Kinde begangen
worden seien. Der Angeklagte sei daher schuldig zu erklären und in das
Maximum der Geldstrafe zuverfällen. Der Art. 154 StG ist als angewendete
Strasnorm in den Erwägungen nicht erwähnt, wohl aber unter den Tatsachen
bei Wiedergabe der Anklage des Zähnen

B. Gegen dieses Urteil, das nach apppenzellischem Prozessrecht endgültig
ist, hat Broger den staatsrechtlichen Reknrs ans Bundesgericht ergriffen
mit dem Antrag, es sei dasselbe wegen Ber-

10 A. Siaaisrechtliche Entscheidungen. [. Abschnitt. Bundesverfassung.

letzung des Art. 2 KV (Rechtsgleichheit) und des Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV aufzuheben.
Es wird ausgeführt: Die Untersuchung sei nicht aus Grund eines bestimmten
Artikels des StG geführt worden und habe sich nicht damit besasst, ob die
tatsächlichen Voraussetzungen irgend einer Strafnorm zutreffen. Speziell
sei nicht die Spur eines Beweises darüber erhoben worden, ob durch die
angeblichen unzüchtigen Handlungen direkt oder indirekt öffentliches
Aergernis erregt worden sei. Erst bei der Gerichtsverhandlung sei vom
Prioatkläger auf am. 151 StG abgestellt worden. Das angefochtene Urteil
führe weder im Dis-positiv noch in den Erwägungen die Bestimmungen des
StG an, die angewendet werden solle, sondern der Rekurrent werde der
unsittlichen Handlungen, verübt mit einem Kinde, schuldig erklärt, ein
Deliktsbegriff, den das StG in dieser Umschreibung gar nicht ferme. Nun
enthalte zwar die Verfassung von Appenzell J.-Rh. den Grundsatz nuila
poema, sine lege nicht ausdrücklich; er sei aber klar ausgesprochen
in Art. 1
SR 641.10 Bundesgesetz vom 27. Juni 1973 über die Stempelabgaben (StG)
StG Art. 1 - 1 Der Bund erhebt Stempelabgaben:
1    Der Bund erhebt Stempelabgaben:
a  auf der Ausgabe folgender inländischer Urkunden:
a1  Aktien,
a2  Stammanteile von Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Anteilscheine von Genossenschaften,
a2bis  Partizipationsscheine und Beteiligungsscheine von Genossenschaftsbanken,
a3  Genussscheine,
b  auf dem Umsatz der folgenden inländischen und ausländischen Urkunden:
b1  Obligationen,
b2  Aktien,
b3  Stammanteile von Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Anteilscheine von Genossenschaften,
b3bis  Partizipationsscheine und Beteiligungsscheine von Genossenschaftsbanken,
b4  Genussscheine,
b5  Anteile an kollektiven Kapitalanlagen gemäss Kollektivanlagengesetz vom 23. Juni 200612 (KAG),
b6  Papiere, die dieses Gesetz den Urkunden nach den Ziffern 1-5 gleichstellt;
c  auf der Zahlung von Versicherungsprämien gegen Quittung.
2    Werden bei den in Absatz 1 erwähnten Rechtsvorgängen keine Urkunden ausgestellt oder umgesetzt, so treten an ihre Stelle die der Feststellung der Rechtsvorgänge dienenden Geschäftsbücher oder sonstigen Urkunden.
des StG (Vorliegendes Strafgesetz findet nur auf die von
ihm mit Strafe bedrohten Handlungen Anwendung), und eine Missachtnng
dieses Grundsatzes bedeute einen Cinbruch in die Versasfungsgarantie
der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze. Hier leide nicht nur die
Strafuntersuchung an dem angegebenen formellen Mangel, der eine Willkür
involviere, sondern der Richter habe auch willkürlich einen dem StG
unbekannten Tatbestand konstruiert und unter Strafe gestellt. Art. 154
treffe offenbar schon aus dem Grunde nicht zu, weil die Hauptvoraussetzung
des Tatbestandes, die Erregung öffentlichen Aergernisses, zweifellos
fehle; die Akten enthielten hierüber nichts und das Urteil schweige
vollständig über diesen ausschlaggebenden Punkt. Das Urteil wäre daher
auch ein willkürliches, wenn der Richter, ohne es zu sagen, aus Ari. 154
abgestellt haben sollte. Uebrigens könnten die dem Rekurrrenten zur Last
gelegten Handlungen auch unmöglich als unzüchtig im Sinne des Gesetzes
bezeichnet werden, was am besten die Vergleichung mit den Art. 150, 151
und 153, in denen der Begriff der Unzucht ebenfalls vorkomme, zeige. Die
entgegengesetzte Annahme stehe mit dem Wortlaut und dem Sinn und Geist
des StG in offenbarem Widerspruch und sei daher willkürlich C. Das
Bezirksgericht Appenzell führt in feiner Vernehmlas-I. Rechtsverweigerung
und Gleichheit vor dem Gesetze. N° 2. II

sung, in welcher auf Verwerfung des Rekurses ungetragen wird, aus,
dass der Rekurrent wegen Uebertretung des Art. 154 StG bestraft worden
sei, wie sich aus den Akten deutlich ergebe. Das Gericht betrachte
die fraglichen Handlungen als unsittlich, weil sie vom Rekurrenten
zweifellos zur Befriedigung geschlechtlicher Lust vorgenommen worden
seien, und die Voraussetzung des öffentlichen Argernisses sei deshalb
gegeben, weil die Handlungen, sobald sie zuruKenntnis von Drittperfonen
gelangen, Ärgernis hervor-rufen Iniissen Ubrigens gelte gemeinrechtlich
als Erregung öffentlichen Argernisses auch der wenn auch nur bei einer
Person erregte sittliche Anstoss. Vorliegend stehe fest, dass das Kind
und dessen Eltern zum mindesien diesen Anstoss genommen hätten.

D. Der Rekursbeklagte Zähner hat gleichfalls auf Abweisurcg des Rekurses
angetragen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

. 1. Was der Rekurrent an der Strafuntersuchung rügt. dass sie nicht auf
Grund eines bestimmten Artikels des StG geführt worden sei, ist insofern
tatsächlich unrichtig, als in der Anzeige des Rekursbeklagten und in der
Anklageschrift der Polizeidirektion, welche das Resultat der Untersuchung
zusammenfasst, Art.154 StG ausdrücklich angerufen ist. Es wäre übrigens
auch nicht ersichtlich, wieso jener angebliche Mangel oder der Umstand,
dass die Untersuchng sich nicht mit den tatsächlichen Voraussetzungen
irgend einer Strafbestimmung befasst habe, vorliegend als selbständige
Verfassungsverletzung, speziell als Verstoss gegen das Prinzip der
Rechtsgleichheit sollte in Betracht kommen können, da ja angesichts der
Verurteilung, zu der die Untersuchung geführt hat, die Frage doch nur
die sein könnte, ob dem Rekurrenten gegenüber die Verfassung dadurch
verletzt sei, dass das Urteil selber, wie der Rekurrent in der Tat auch
behauptet, an den entsprechenden Mängeln leidet.

2. Wenn auchder Satz nulla poena sine lege sich nicht im Verfassungsrecht,
sondern im Strafgesetz des Kantons Appenzell J.-Rh. findet und daher
als selbständiger Grundsatz nicht direkt unter dem besondern Schutze
des Bundesgerichts steht (Art. 175 Ziffer 3
SR 641.10 Bundesgesetz vom 27. Juni 1973 über die Stempelabgaben (StG)
StG Art. 1 - 1 Der Bund erhebt Stempelabgaben:
1    Der Bund erhebt Stempelabgaben:
a  auf der Ausgabe folgender inländischer Urkunden:
a1  Aktien,
a2  Stammanteile von Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Anteilscheine von Genossenschaften,
a2bis  Partizipationsscheine und Beteiligungsscheine von Genossenschaftsbanken,
a3  Genussscheine,
b  auf dem Umsatz der folgenden inländischen und ausländischen Urkunden:
b1  Obligationen,
b2  Aktien,
b3  Stammanteile von Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Anteilscheine von Genossenschaften,
b3bis  Partizipationsscheine und Beteiligungsscheine von Genossenschaftsbanken,
b4  Genussscheine,
b5  Anteile an kollektiven Kapitalanlagen gemäss Kollektivanlagengesetz vom 23. Juni 200612 (KAG),
b6  Papiere, die dieses Gesetz den Urkunden nach den Ziffern 1-5 gleichstellt;
c  auf der Zahlung von Versicherungsprämien gegen Quittung.
2    Werden bei den in Absatz 1 erwähnten Rechtsvorgängen keine Urkunden ausgestellt oder umgesetzt, so treten an ihre Stelle die der Feststellung der Rechtsvorgänge dienenden Geschäftsbücher oder sonstigen Urkunden.
OG), so folgt doch schon
aus der verfassungsmässig garantierten Rechtsgleichheit (Art. 4 BB),
die vom Rekurrenten

12 A. Staatsrechtlîche Entscheidungen. !. Abschniit. Bundesverfassung.

angerufen ist, dass jede richterlich ausgesprochene Strafe sich auf
eine Rechtsnorm stützen muss und dass kein Tatbestand mit Strafe belegt
werden darf, den das Gesetz offensichtlich nicht hat treffen wollen. Nun
ist der Rekurreut laut dem Dispositiv des angefochtenen Urteils wegen
unsittlicher Handlungen begangen an einem Kinde verurteilt worden,
womit auch die Erwägungen übereinstimmen, in denen ein Verstoss gegen
die Sittlichkeit festgestellt und als erschwerend hervor-gehoben ist,
dass der Rekurrent die betreffenden Handlungen an einem Kinde verübt
habe. Ein solches Vergehen _ unsittliche Handlungen an einem Kinde kennt
das StG von Appenzell J.-Rh., als Spezialdelikt wenigstens, nicht,
und wenn man daher auf die Fassung des Urteils abstellen wollte, so
könnte sich fragen, ob nicht ein Verstoss gegen jenen aus der Garantie
der Rechtsgleichheit gefolgerten Grundsatz vorliege. Zieht man jedoch
in Betracht, dass sowohl die Anzeige des Rekursbeklagten, als auch die
Anklageschrift der Polizeidirektion auf Art. 154 StG, als übertretene und
anzuwendende Bestimmung abstellen, was sich auch aus dem Urteil selber
ergibt, so kann trotz der mangelhaften Redaktion des Dispositivs und der
Motive vernünftigerweise kein Zweifel sein, dass sich die Verurteilung
auf diese Bestimmung des StG stützt, welche Auffassung denn auch in der
Vernehmlassung des Bezirtsgerichts bestätigt wird. Und bei dieser Sachlage
stellt sich die durch das Bundesgericht zu prüfende Frage so, ob das
angesochtene Urteil nicht insofern willkürlich ist, als es unter Art. 154
einen Tatbestand subsumiert, der auch bei weitestgehender Auslegung
nicht darunter gebracht werden kann und dadurch eine vom Standpunkt
des Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV aus Unzulässige Erweiterung des Gebiets des strafbaren
Unrechts schafft. Der Rekurrent bejaht dies in erster Linie deshalb,
weil das gesetzliche Requisit, dass durch die unzüchtigen Handlungen
öffentliches Ärgernis erregt worden sei, fehle und das Gericht sich
hierüber einfach hinweggesetzt habe. Indessen beruht das angesochtene
Urteil, wie aus der Vernehmlassung des Bezirksgerichts ersichtlich ist,
in dieser Hinsicht auf der Auslegung, dass das genannte Requistt schon
dann erfüllt sei, wenn die fraglichen Handlungen bei ihrem Bekanntwerden
notwendigerweise das Sittlichkeitsgefühl verletzen, oder wenn auch nur
eine Person vorliegend das Kind des Re-[. Rechtsverweigemug und Gleichheit
vor dem Gesetze. N° 2. 13

kursbeklagten daran sittlichen Anstoss genommen habe. Und . dass eine
solche allerdings etwas weite Interpretation des Begriffs der Erregung
öffentlichen Ärgernisses weder gegen den Satz nulla poema sine lege,
noch überhaupt gegen das Prinzip der Rechtsgleichheit verstösst, hat
das Bundesgericht schon früher ausgesprochen, nämlich im Urteil vom
23. Juni 1893 in Sachen St. (A. S., d. bg. E., XIX, S. 114, E. 3), wo
streitig war, ob nicht öffentlich vorgenommene unsitttiche Handlungen
an geschlechtsunreifen Kindern als Vergehen gegen die-öffentliche
Sittlichkeitll nach § 1 des aargauischen Zuchtpolizeigesetzes bestraft
werden dürfen, und sodann in dem (nicht publizierterss Urteil in Sachen
Meyer vorn 12. März 1897, wo die Auslegung des mit Art. 154 des appenzell
i.-rh. StG, soweit hier in Betracht kommend, gleichlautenden § 123 des
zürcherischen StGB Lfrühere Ausgabe) in Frage stand und Vom Bundesgericht
ausgeführt ist, dass die Auffassung der zürcherischen Gerichte, wonach
es für die Strafbarkeit genügt, wenn durch das Ruchbarwerden der mehr
oder weniger heimlich vorgenommenen Handlung das öffentliche Ärgernis
entstanden ist, über allgemein anerkannte Interpretationsregeln nicht
hinausgeht und vom bundesrechtlichen Standpunkt der Rechtsverweigerung
und Willkür aus nicht anfechtbar ist: abgesehen davon, dass der
Begriff öffentliches Ärgernis- in der Tat nicht notwendigerweise dahin
verstanden zu werden braucht, dass sich mehrere Personen über die
betreffenden Handlungen geärgert haben oder sich hätten ärgern sollen,
ist die geforderte ursächliche Beziehung zwischen jenen Handlungen und
dem öffentlichen Ärgernis nicht näher bezeichnet, sondern nur durch
die Präposition ,,durch angedeutet, die wohl auch gebraucht wird zur
Bezeichnung eines mittelbaren Kausalverhältnisses. Die in diesen frühem
Fällen angeführten Gründe treffen in gleicher Weise auch auf die dem
angefochtenen Urteil zu Grunde liegende Auffassung über Begriff und
Bedeutung des gesetzlichen Requisits der Erregung des öffentlichen
Ärgernisses zu, gegen welche Auffassung, die, beiläufig bemerkt, auch
ihre literarischen Verfechter hat (vergl. Wahlberg in Holtzendorff,
Rechtslexikon, Art. Unzucht, Ziffer IV), bundesrechilich somit nichts
einzuwenden ist.

14 A. Staatsrecsihdiche Entscheidungen. L Abschnitt. Bundesverfassung.

Der Rekurrent erblickt eine willkürliche Gesetzesanwendung ferner darin,
dass das Gericht die ihm zur Last gelegten Handlungen als unzlichtig im
Sinne des Gesetzes qualifiziert hat; jedoch wiederum mit Unrecht: denn
wenn man die Grenzen des Begriffs der unzlichtigen Handlung etwas weit
zieht, was vom Standpunkt des Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV aus noch nicht als unzulässig
erscheint, so kann man alle diejenigen Handlungen darunter verstehen,
die objektiv das Schamgefühl verletzen und subjektiv eine Beziehung zum
Geschlechtstrieb haben. In diesem Sinn kann aber die fragliche Handlung
des Rekurrenten sehr wohl als nnzüchtig bezeichnet werben, da sie ojektiv
als anstössig erscheint und ein anderes als das seruelle Motiv beim
Rekurrenten kaum anzunehmen ist. Ihre Subsumierung unter Art. 154 StG ist
daher jedenfalls nicht willkürlich; ob sie vom Standpunkt des kantonalen
Rechts aus durchaus zutreffend ist, hat das Bundesgericht nicht zu prüfen.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Nekurs wird abgewiesen

Z. games vom 2. Februar 1905 in Sachen Osin gegen Obergeticht Dame-m

Beschwerde em dac Oberge-richt in, einer Zachtpolizeisache ;
Nichteintreten auf diese Beschwerde. Verweigerung des rechtlichen
Ge- härs? Untersuchung der Zulässigkeit der Beschwerde nach act-rg.
Recht {Art. 61 KV, gg 71 und 72 Zuchtpolizeigesetz ; 5 13 erstes
Ergänzungen-Petzur Strafrecktspflege). Willksizzrlz'che Auslegung des
aargau-ischeee Wi-rtsckaftsgesetzes durch den St'rafre'chter?

A. Am 1. April l904 verzeigte Polizeisoldat Humbel den Rekurrenten
wegen Offenhaltens seiner Wirtschaft und Verabreichung von Bier nach
Mitternacht. In seiner Einvernahme vor Bezirksamt bestritt Khm, einem
Bewohner der Ortschaft nach 12 Uhr noch Bier verabreicht zu haben; solches
sei nur an zwei im Hause beherbergte Reisende verabreicht worden. Der
Anzeiger bestritt seinerseits-, dass die beiden Fremden schon vor
MitternachtI. Bechisverweigerung und Gleichheit vor dem Gesetze. N° 3. 15

die Absicht gehegt hätten, im Hause zu übernachtenz dieselbenseien
erst aufI diesen Gedanken gekommen, nachdem er, Humbel, dieselben als
Ubersitzer notiert habe.

Am 19. April wies der Staatsanwalt die Sache zur zuchtpolizeilichen
Erledigung- an das Bezirksgericht Laufenburg Dieses beschloss am 26. Mai
nach Einvernahme von Zeugen und nach kontradiktorischer Verhandlung:
Der Anzeiger wird beauftragt, in Sachen weitere Erhebungen zu machen,
namentlich auch darüber, ob die beiden fremden Herren wirklich im
Pfauen libernachtet seien und bei der hiesigen Staatskanzlei, ob
sie etwa als Ubersitzer gebüsst worden seien." Am 8. Juni erstattete
Humbel den verlangten Bericht und legte demselben eine Bescheinigung
des Gemeinderates von Laufenburg bei, aus welcher ersichtlich ist,

tldass gegen die beiden Fremden eine Busse ausgesprochen worden

ist, dass jedoch infolge Abreise derselben weder die Eintreibung der
Busse noch eine Kenntnisgabe an die Gebiissten stattgefunden hat.

Am 23. Juni 1804 verfällte das Gericht den Rekurrenten ohne Zuziehung
der Parteien in eine Busse von 10 Fr. und in die ergangenen Kosten.

B. Mit Beschwerde vom 8. Juli 1904 stellte Kym hierauf beim Obergericht
des Kantons Aargau folgendes Begehren: Es sei unter Aufhebung des
angefochtenen Urteils der Beschwerdeführer von Schuld und Strafe
freizusprechen unter Kostensolge; eventuell: es sei das Verfahren
aufzuheben und die Angelegenheit im Sinne weiterer Beweiserhebungen
zu nochmaliger Beurteilung an das Bezirksgericht zurückzuweisen, unter
Kostenfolge.

Durch Urteil von 11. Oktober 1904 erkannte das Obergericht: Auf die
Beschwerde wird nicht eingetreten.

Dieses Urteil wird motiviert wie folgt: Kym sei wegen Überwirtens
beanzeigt und bestraft worden. Das für dieses Vergehen angedrohie
gesetzliche Strafmaximum betrage 20 Fr. Solche Vergehensfälle endgültig
abzuwandeln, seien nach Art. 61 KV und konstanter Praxis des Obergerichtes
die Gerichtspräsidien kompetent; eine Weiterziehung ihrer Entscheide finde
nicht statt. Wenn nun im vorliegenden Falle das Bezirksgericht anstatt des
Gerichtspräsideuten geurteilt habe, so könne hierin kein Grund gefunden