82 A. staats-rechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetzes

II. Civilrechthche Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter.

Rapporto de droit civil des citoyens ètablis' on an séjour.

'Z'. Auszug aus dem Urteil vom 5. Februar 1903 in Sachen Schmidlin gegen
Regierungsftatthalteramt Laufen.

Der Grundsatz, dass bei Verletzung des Art. 5.9 B.V. eine Erschöpfung
des kantonalen lnstanzenzuges vor Ergreifung des staatsrecktlichen
Rekurses nicht stattzuflnden hat, ist auch anzuwenden, wenn Verletzung
der Bestimmungen des Bundesgesetzes betî'effend cis-sitrechtliche
Verhältnisse der Niedergeiassenen und Aufemhalter über den Wohnsitz,
die Kompetenzen der Wohnsitzbehörden. u. s. w., behauptet wird.

Die Bestimmungen des Bundesgefetzes betreffend die civilrechtlichen
Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter statuieren,
in Ausführung des allgemeinen Grundsatzes in Arn 46 'Al. 1 der
B.-V., dass für das Institut der Bormundschaft bei interkantoualen
Verhältnissen Recht und Gerichtsstand des Wohnsitzes der zu bevormundenden
Person zur Anwendung kommen. Sie verleihen dem einzelnen Bürger ein
Jndividualrecht darauf, gegebenenfalls nach jenem Rechte und vor der
dort zuständigen Behörde beurteilt zu werden, und entsprechen somit der
Bestimmung des Art. 59 der B.-V., welcher für Forderungsftreitfachen,
sogenannte persönliche Ansprachen, ebenfalls den Gerichtsstand des
Wohnortes garantiert. Tatsächlich stellt das citierte Bundesgesetz in
seinem Geltungsbereich für die Vormundschaftsbehörden genau dieselbe
Kompetenzabgrenzung auf, wie Art. 59 der B.-V. für die ordentlichen
Civilgerichte, und macht jenen die Prüfung ihrer Zuständigkeit in
gleicher Weise zur amtlichen Pflicht. In beiden Fällen bietet sich,
als Voraussetzung desIII. Organization der Bundesrechtspflege. N° 8. 33

staatsrechtlichen Rekurses, die Einrede des mangelnden Domizils, deren
Entscheidung zu identischen Untersuchungen Anlass gibt. Aus diesen
Gründen aber erscheint eine analoge Behandlung der in Rede stehenden
zwei Fälle des staatsrechtlichen Rekurses durchaus geboten. Da nun das
Bundesgericht die in Art. 59 der B.-V ausgesprochene Garantie stets
dahin interpretiert hat, dass danach Beschwerden wegen jeder behaupteten
Verletzung des fraglichen Gerichtsstandes, sogar wegen blosser Vorladnng
vor das angeblich unzuständige Gericht, und zwar wegen Verletzung
durch irgendwelche kantonalen Gerichtsinstanzen direkt, ohne dass der
kaumnale Instanzenng zuerst erschöpft werden müsste, vor das Bundesgericht
gebracht werden können (vergl. besonders Entscheide. des Bundesgerichtes,
Ath Samui Bd. XIV, Nr. 80; Bd. XVII, Nr. 58), so rechtfertigt es sich,
diese weitgehende.Auslegung auch auf die eitierten Gesetzesbesiimmungen
anzuwenden und demnach auf Rekurse vorliegender Art in jedem Stadium
des betreffenden Prozessverfahrens materiell einzutreten-

III. Organisation der Bundesrechtspflege. Organisation judiciaire
fédérale., -

8. Urteil vom 18. März 1903 in Sachen Käsermann und Konsorten
gegen-Appellationsund Kassationshof Bern.

Art. 178 Ziff3 Org.-Ges.: Beginn dee Frist für den staates-ernthaben
Rele-ars an das Bundesgericht. Das kantonale Recht ist dafür massgebend.

Das Bundesgericht hat, nachdem sich ergeben: . A. Der Rekurs richtet
sich gegen ein Urteil des bernischen Appellationsund Kassationshofes,
das diese Behörde in einein Civilprozesse, welchen Marianne Schluep
in Leuzigeu und KonIsorten gegen die Rekurrenten angehoben hatten,-am
18. September xxlx, !. 1903 3

34 A. Staatsrechuiche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.

1902 ansfällie und sogleich den anwesenden Parteien und ihren Vertretern
durch ihren Präsidenten eröffnete. Am 12. November 1902 erhielten die
Rekurrenten eine schriftliche Ausfertignng desEntscheides mit Motiven
zugestellt.

B. Am 3. Januar 1908 reichten sie die vorliegende staats rechtliche
Beschwerde dem Bundesgericht ein, worin sie, um deren Rechtzeitigkeit
darzutun, geltend machen, dass die Rekurssrist vom12. November 1902
hinweg zu berechnen, also innegehalten worden sei.

Die Rekursopponenten Marianne Schluep und Konsorten beantragen in erster
Linie, wegen Verspätung auf den Rekurs nicht einzutreten, indem sie
darauf abstellen, dassdie Rekursfrist mit der mündlichen Eröffnung des
angefochtenen Entscheides zn laufen begonnen habe und deshalb von den
Rekurrenten versäumt worden sei Der Appellationsund Kassationshof hat
sich über diese Verspätungsfrage nicht vernehmen lassen;

in Erwagnng:

Wie das Bundesgericht schon früher und namentlich im Falle Corboz
und Fischlin und Konsorten (Bd. XXVIII, 1, Nr. 60,. S. 253 ff.) unter
eingehender Begründung ausgesprochen hat,. können im staatsrechtlichen
Rekursverfahren für die Berechnung der Rekursfrist, und speziell
für die Bestimmung des Anfangstermines derselben, die Vorschriften,
welche die Art. 63 Ziff. 4und 65 des Organisationsgesetzes bezüglich
der civilrechtlichen Berufung aufstellem nicht analog Anwendung
finden. Vielmehr will Art, 178 Ziff. 3 des Organisationsgesetzes für die
Frage, in welchem Momente der Rekurrent von der angefochtenen Verfügung
in verbindliche-: Weise Kenntnis erhalten hat und deshalb für ihn die
Frist für Ergreifung des staatsrechtlichen Rekurses zu laufen beginnt, das
kantonale Recht vorbehalten wissen. Eserhellt das deutlich daraus, dass
das Gesetz alternativ von Eröffnung oder Mitteilung- der Verfügung spricht
und damit dem. Umstande Rechnung trägt, dass die Kantone als denrechtlich
verbindlichen Akt, welcher für den Beginn der Rechtsmittelfristem die
Rechtskraft Lc. von behördlichen Verfügungen massgebend isf,. bald die
mündliche Bekanntgabe durch die betreffende Behörde be-Ill. Organisation
der Bundesrechtspflege. N° 8. 35

zeichnen, bald eine nachherige Zustellnng der schriftlichen Ausfertigung
der Verfügung ihrem ganzen Inhalte oder dem Dispositive nach, er Dieser
Verschiedenheit des kantonalen Rechts musste sich die Berechnung der
vom eidgenösfischen Gesetzgeber in Art. 178 Ziff. 8 aufgestellten
Frist anpassen Die Aufstellung eines einheitlirheu Anfangstermines
hätte zu Jnkonvenienzen geführt; dies z. B in der Weise, dass alsdann
bei Verfugungen, die nach kantonalem Rechte der Partei noch nicht
rechtsverbindlich zur Kenntnis gebracht wurden, trotzdem die Frist für
den staatsrechtlichen Rekurs bereits zu laufen begonnen hatte, oder
dass dann umgekehrt dieser Fristenlauf trotz kantonalrechtlich gültiger
Bekanntgabe bundesrechtlich hinausgeschoben worden wäre.

Hievon ausgegangen, erweist sich aber der vorliegende Rekurs als
verspätet: Nach § 278 des bernischen Civilprozesses (welche Bestimmung
auch für das Verfahren vor dem Appellationsund Kassationshof gilt: cf. §
350)1 hat der Präsident des urteilenden

Gerichtes das Urteil als Ergebnis der Abstimmung sogleich

öffentlich auszusprechen-C was hier in Anwesenheit der Parteien, speziell
also auch der Rekurrenten, am 18. September 1902 tatsächlich geschehen
ist. Dieser mündlichen Eröffnung des Urteils gegenüber den anwesenden
Parteien kommt aber ohne Zweifel die Bedeutung einer rechtswirksamen
Bekanntgabe desselben zu. Neben dem Wortlaute des § 278 cit. führen
noch andere Bestimmungen des Gesetzes zu diesem Schlusse: so· 573,
der für den Beginn des Fristenlaufes die Verkündigung des betreffenden
gerichtlichen Aktes als massgebend erklärt; § 338, dem zufolge in
gewissen Fällen die Appellationserklärung sofort nach der (mündlichen)
Urteilseröffnung erfolgen muss; § 860, der die Frist für die Einreichung
der Nichtigkeitsklage in der Regel mit dem Tage beginnen lässt, an
welchem das Urteil der Partei rechtlich bekannt geworden ist. Namentlich
aber ergibt sich die Richtigkeit der erwähnten Auffassung aus § 282
des Gesetzes, laut welchem den Parteien eine Ausfertigung des Urteils
überhaupt nur auf ihr Verlangen zuzustellen isf, so dass also unmöglich
der Zeitpunkt der Zustellung der für die Wirksamkeit des Urteils der
betreffenden Partei gegenüber massgebende sein kann, da es diese sonst
in der Hand hatte, den genannten Zeitpunkt nach ihrem

36 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. H. Abschnitt. Bundesgesetze.

Gutfinden hinauszuschieben. Die Einreichung des Rekurses beim
Bundesgericht erfolgte nun aber am Z. Januar 1903, also mehr als 60 Tage
nach der Urteilseröffnung vom 18. September 1902; --

erkannt:

Auf den Rekurs wird wegen Verspätung nicht eingetreten.

IV. Schuldbetreibung und Konkurs. Poursuites pour dettes et faillite.

Vergl. Nr. 4, Urteil vom 4. März 1903 in Sachen Cardoner gegen
Gerichtspräsident II von Bern.; l. Uebergrifl' in das Gebiet der
gesetzgebenden Gewalt. N° 9. 37

Dritter Abschnitt. Troisième section.

Kantonsverfassungen.

Conslitutions cantonales.I. Uebergrifl in das Gebiet der gesetzgebenden
' ss Gewalt. Empiétement dans le domaine du pouvoir législatif.

9. Urteil vom 19. Februar 1903 in Sachen Trümpler-Hurter gegen
Regierungsrat Zurich.

Anfechtung einer Bestimmung (5 2 Ziff. 13) der zürch. Gebührenordnung
für die Verwaltungsbehörden, vom 17. Juni 1901, wegen
Verfassungswidrigkeit. Gebühr und Steuer. Angebliche Ueberschretftung
der Befugnisse der Verwaltuagsbeàrîrden, Eingrifi' in das Gebiétsi der
gesetzgebenden Gewalt und die Rechte des Volkes. Gleîché heit vor dem
Gesetze, S 46 zilrcherisches Gesetz betrefl'end die Organisation der
Bezirksbehörden. vom 23. April 1901. Art. 30 Abs. 2 Z-ijî'. 2; Art. 31;
Art. 19 Abs. 5, Arä. 2 zürcä. li'.-V. vom, 18. April 1869 ; Art. 4 and
5 li.-V. Legitimation zum Relcwse, Ars. 178 ZW. 2 Org.-Ges.

s A. Für die Ratifikation der vom Rekurrenten Trümpler als Vormund der am
Rekurs beteiligten Charlotte Trümpler erstatteten Vormundschaftsrechnung
pro 31. März 1901 forderte der Bezirksrat von Zürich, laut Nota vom
12. Dezember 1901 an den Vormund, eine Staatsgebühr von 366 Fr., gestützt
auf die vom Regierungsrat unter Genehmigung durch den Kantonsrat