3132 A. staatsrechtlicheEntscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

III. Gerichtsstand des Wohnortes. For du domicile.

79. Urteil vom 6. November 1902 in Sachen Qberhänsli gegen Obergericht
Unterwalden, Nid dem Wald.

Strafklage wegen Unzuchtsvergehens (Schwdngerung) verbunden mit einer
Giviikiage ares Feststellung der Vaterschaft mad Alimeffle. Gutheissung
der Geréchtsstandseinrede des nicht an seinenWonne-Belangten mit Bezug auf
diese Civilklage, Abweisungss hinsichsäich der Strafkiage. Art. 59 II.-V.

A. Agnes Odermatt von Dallenwil (Nidwalden) gebar daselbst am 3. Mai
1902 ausserehelich eine Tochter-. Bei der Anzeige der Schwangerschaft vor
Landaminannamt (12. Januar 1902) hatte sie erklärt, dass die Schwängerung
Mitte September 1901 in ihrer Wohnung in Dallenwil durch den Rekurrenten
Karl Oberhänsli erfolgt sei. Oberhanle der von Neuwilen (Thurgau)
gebürtig ist und seit Januar 1902 als Bäckergeselle in La Tour-de-Peilz
in Stellung sich befindet, wurde am letztern Orte auf Begehren der

nidwaldischen Behörden rogatorisch einvernommen, wobei er die Vaterschaft
bestritt, indem auch andere Männer mit der Odermatt verkehrt hätten,
und erklärte, mit ihr zwar in Lausanne und Waer in der Zeit vom Januar
bis September 1901, nicht aber in Dallenwil zur behaupteten Zeit,
geschlechtlichen Umgang gehabt zu haben. Unterm 5. Juni 1902 erliess die
Kautonsgerichtskanzlei Nidwalden an Oberhänsli eine Vorladung, durch die
er aufgefordert wurde, am 11. Juni vor Kantonsgericht zu erscheinen, um
sich wegen einer betreffs ausserehelicher Schwängerung gegen ihn waltenden
Strafklage zu verantworten und gleichzeitig auf die Alimentationsklage
und Entschädigungssorderung Red und Antwort zu ehen. Oberhänsli leistete
der Vortadung persönlich keine Folge, liess sich aber bei der Verhandlung
vom 11. Juni durch Fürsprech O. vertreten, welcher die Zuständigkeit
der nidwaldischenIII. Gerichtsstand des Wohnortes. N° 79. 333

Gerichte bestritt, sowohl hinsichtlich des Strassalles, weil hiefür
das forum delicti commissi, als auch hinsichtlich des CivilanWWW-Î,
Wü hkefür der Gerichtsstand des Wohnortes des Beklagten spruchfähig sei.

B. Das Kantonsgericht erkannte mit Entscheid vom gleichen Tage,
es seien diese forideklinatorischen Einreden abgewiesen. Dabei
zog es in Erwägung: Die Spruchkompetenz im. Strassalle werde durch
die Eidesabnahine zu ermitteln sein; ergehe sich, dass das Delikt
ausserhalb des Herrschaftsgebietes des nidwaldischen Richters begangen
worden sei, so werde dieser seine Kompetenz ablehnen, andernfalls aber
nicht. Die Erstellung dieses Tatbestandes müsse sich der nidwaldische
Richter reservieren und von diesem Gesichtspunkte aus sei die Einrede
abzulehnen. Aber auch die in Betrefs des Civilanspruches erhobene
sei abzuweisen, da nach nidwaldischem Prozessrecht und konstanter
Gerichtspraxis die Entfehädigungsansprüche als Accessorium der Strasklage
ausgetragen werden.

C. Das Obergericht von Nidwalden, an das Oberhänsli durch seinen Vertreter
diesen Entscheid weiterzog, bestätigte ihn unterm 19. Juni 1902 ohne
Angabe weiterer Gründe in allen Teilen.

D. Gegen das obergerichtliche Erkenntnis ergriff Oberhänsli
rechtzeitig den staatrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht gestützt
auf folgende Beschwerdegründe: Zn strasrechtlicher Beziehung handle es
sich um Anwendung des § 23 des kantonalen Gesetzes über die uuchelichen
Kinder, der das Unzuchtsvergehen überhaupt bestrafe. Nun dürfe mit aller
Sicherheit angenommen werden, dass die Schwängerung, deren Urheberschast
Rekurrent übrigens bestreite, ausserhalb des Kantonsgebietes von Nidwalden
stattgefunden habe. Es sei aber der nidwaldische Richter aus keinen
Fall kompetent, über ausserhalb seines Gebietes begangene strafbare
Handlungen zu judizieren In civilrechtlicher Beziehung sodann habe man
es, da nur die Alimentationsund Entschädigungspflicht im Streite liege,
mit einer Forderungs-, nicht mit einer Statusklage zu tun und könne also
Refin-rent nach Art. 59 B.-V. nur am Gerichtsstande seines gegenwärtigen
Wohnortes-, La Tour, auf den er nie verzichtet habe, belangt werden
Die Klage betreffe auch nicht etwa nur die Feststellung der Civilsolgen
einer strasbaren Hand-

334 A. staats-rechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

lung, da das Fundament des Strasund dasjenige des Civilanspruchs
durchaus verschieden seien. Allerdings möge in Fällen, wo Schwängerer
und Geschwächte im Zeitpunkt der Anhängigmachung des Strafprozesses in
Nidwalden gewohnt haben, der Alimentationsbeitrag, der ja in diesen
Fällen eo ipso vom gleichen Gericht hätte bestimmt werden müssen,
gleichzeitig mit der Strafe festgesetzt worden sein. Oberhänsli habe
nun aber in Nidwalden

weder je als Niedergelassener noch auch nur vorübergehend als

Aufenthalter gewohnt.

E. Das Obergericht von Nidwalden und Agnes Oderinatt tragen in einer
gemeinsamen Vernehmlassung aus Abweisung des Rekurses an. Sie führen
aus: Die Schwängerung sei tatsächlich durch den Rekurrenten erfolgt
Hinsichtlich der Verfolgung des dadurch begangenen Deliktes könne sich
Rekurrent nicht auf Art. 59 B.-V. berufen. Sodann stehe nach konstanter
Praxis Art. 59 B.-V. nicht entgegen, dass neben der Strafklage als
Hauptsache die Civilklage als Aeeessorium geltend gemacht werde. Das
Bundesgericht habe in einem analogen Falle (Spengler gegen Nidwalden
vom 27. Oktober 1888) dieses durch das nidwaldische Recht vorgesehene
Verfahren als mit Art. 59 cit. vereinbar erklärt. Übrigens treffe
genannter Artikel auch deshalb nicht zu, weil Rekurrent keinen festen
Wohnsitz habe, sondern ein Wanderleben führe.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Der Umstand, dass die kantonalen Jnsianzen die vom Rekurrenten
erhobenen Gerichtsstandseinreden nicht schlechthin, sondern nur
in bedingter Weise abgewiesen haben, für den Fall nämlich, als der
zu erhebende Eidesbeweis die tatsächlichen Voraussetzungen des forum
delicti commissi als gegeben erscheinen lassen, rechtfertigt es nicht,
densRekurs als verfrüht zurückzuweisen. Denn nach ständiger Praxis braucht
bei Beschwerden wegen Verletzung des Art. 59 B.-V. der Erlass eines
Urteils über die erhobene Kompetenzsrage gar nicht abgewartet zu werden,
sondern steht der Weg des staatsrechtlichen Rekurses schon gegenüber einer
blossen Ladung vor den verfassungsmässig unzuständigen Richter offen.

2. Materiell ist zunächst die Beschwerde ohne weiteres insofern zu
verwerer, als sie sich gegen den Kompetenzentscheid betreffend
die Strafklage richtet. Mit einer persöniichen Ansprache im
Sinnelll. Gerichtsstand des Wohnortes N° 79. 335

des Art. 59 B.-V. hat man es hier offenbar nicht zu tun und dass
der genannte Entscheid in irgend einer andern Beziehung eine
Verfassungsverletzung enthalte, behauptet der Rekurrent selbst nicht.

Anders verhält es sich dagegen mit dem zweiten, die Kompetenzeinrede gegen
die Civilklage betreffenden Beschwerdepunkte. Nach ständiger Praxis des
Bundesgerichts gehören die Alimentenund Entschädigungssorderungen aus
ausserehelicher Schwängerung zu den persönlichen Ansprachen des Art. 59
cit. Zu wiederholten Malen hat sodann das Bundesgericht, im Gegensatz
zu der von der Rekursbeklagtschaft vertretenen Ansicht, ausgesprochen,
dass diese Forderungen in den Kantonen, welche den ausser-ehelichen
Beischlas Unter Strafe stellen, sich keineswegs auf die Begehung
dieses Deliktes gründen, sondern aus die Tatsache der Vaterschaft des
betreffenden Beklagten, und dass sie also nicht als Civilfolgen des
genannten Vergehens an einem vom verfassungsmässigen Gerichtsstande
verschiedenen forum delicti commissi geltend gemacht werden können
(vergl. Ath Samml., Bd. VII, Nr. 85, S. 690, Erw. 3 und Bd. XIV, Nr. 80,
S. 524, Erw. 4). Hiemit steht auch der in der Reknrsantwort angerufene
Entscheid in Sachen Spengler (Amtl. Samml Bd. XIV, Nr. 78, S. 515 ff.)
nicht in Widerspruch; derselbe betrifft vielmehr lediglich die für den
vorliegenden Rekurs Unerhebliche Frage, ob nicht darin, dass gegen den
damaligen Rekurrenten die Strafklage erhoben wurde, und zwar zu einer
Zeit, als er unbestrittenermassen im Kanton Nidwalden wohnhaft war,
nach dem nidwaldisehen Rechte zugleich eine stillschweigende Erhebung
der Civilklage liege und so hinsichtlich dieser trotz des nachherigen
Wegzuges des Beklagten für ihn ein verfassungsmässig zulässiger
Gerichts-stand im Kanten begründet worden sei. Vorliegendenfalls wird
nun aber gar nicht behauptet, dass der Beschwerdeführer je, und speziell
bei Einleitung des Strafverfahrens, im Kanton seinen Wohnsitz gehabt
habe. Die nidwaldischen Behörden stellen vielmehr darauf ab, Oberhänsli
sei überhaupt ohne Wohnsitz im Sinne des Art. 59 B.-V., sondern führe
ein Wanderleben. Indessen erscheint diese Auffassung nach den Akten als
unzutreffend, indem der Rekurrent schon seit längerer Beit, und zwar
schon vor Einleitung der gegen ihn hängigen gerichtlichen Schritte,
in La Tour-de-Peilz in

388 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

Stellung sich befindet und nichts dafür spricht, dass er daseibst
nicht mit der Absicht dauernden Verbleibens wohne. si Demnach hat das
Bundesgericht erkannt: ' Der Rekurs wird, soweit er sich gegen die
angehobene Strafklage richtet, als unbegründet abgewiesen, im übrigen
aber für begründet erklärt. .[. Schuidhetreibung und Konkurs. N° 80. 337

Zweiter Abschnitt. Seconde section.

Bundesgesetze. Lois fédérales.

M

I. Schuldbetreibung und Konkurs; _. Poursuite pour dettes et faillite.

80. Urteil vom 9. Oktober 1902 in Sachen Schmid-Baier gegen
Brugger-Schoop.

Verfahren und Gerichtsstand betreffend esse Frage., ob der Schuldner
(Kankursit) zu neuem Vermögen gekommen sei. Art. 265 Sch. u. K.-Ges.
Art. 25 Zé]?1 end.

A. Julius Schmid-Baier in Remisberg-Kreuzlingen ist im Jahre 1896
in Konkurs geraten. Ansseinem Konkurs erhielt J. Brugger-Schoop in
Kreuzlingen einen Verlustschein für 813 Fr. 40 (Stà. Gestützt auf
diesen Verlustschein wirkte VruggerSchoop gegen Schmid-Baier einen
Arrest ans auf eine Anzahlung von 3000 Fr., die ans dem Verkauf einer
Liegenschaft herrührte, welche, wie es scheint, auf den Namen der Frau
Schmid im Grundbuch der Gemeinde Kreuzlingen eingetragen war. Frau
Schmid erhob gegen den Arrest Einsprache, indem sie die 3000 Fr.
für sich beanspruchte. Der Streit ist gegenwärtig pendent. Gegen
den Ehemann Schmid erliess dann Brugger-Schoop einen Zahlungsbesehl,
gegen den dieser Rechtsvorschlag erhob, weil er nicht zu neuem Vermögen
gekommen sei. Brugger verlangte hierauf die provisorische Rechtsbffnung,
wogegen der Schuldner auf Sisiie-