316 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. l. Abschnitt. Bundesverfassung.

Grundsätzen der Rechtsund Staatsordnung für das in Frage stehende
Rechtsverhältnis als unerheblich bezeichnet werden müssen
(vergl. Amtl. Samml. der bundesgerichtL Entscheid., Bd. XXVII
1. Teil, S. 497 und dortige Citate). Im vorliegenden Falle nun hat
der Regierungsrat des Kantons Thurgau den Rekurrenten deshalb die von
ihnen postulierte Befreiung von der Erbschaft-Zsteuer nicht gewährt,
weil die Anstalten und Einrichtungen, denen die Legate zu gute kommen,
ausserhalb des Kantons sich befinden. An sich ist dies ein Kriterium, das
eine verschiedene rechtliche Behandlung hinsichtlich der Erbschaftssteuer
wohl zu rechtfertigen vermag. Die Auffassung ist durchaus begründet, dass
ein Kenton, wenn er Legate zu gemeinnützigen und wohltätigen Zwecken von
der Erbschaftssteuer befreit, damit indirekt die Erfüllung von Aufgaben
durch Dritte erleichtern wolle, die sonst ihm obliegen würden, dass also
der Zweck der Steuerbefreiuug nicht die Förderung der Gemeinnützigkeit
und Wohltätigkeit im allgemeinen, sondern nur die Begünstigung derartiger
Bestrebungen innerhalb des Kantonsgebietes sei, zu Gunsten von Anstalten
und Einrichtungen, die in erster Linie den Kantonsangehörigen zu gute
kommen und welche anderseits auch unter der Gesetzgebung und Kontrolle
des betreffenden Kantons stehen (vergl. hierzu den vom Regierungsrat
des Kantons Thurgau eitierten Entscheid des Bundesgerichts in Sachen des
Polnischen Nationalmuseums gegen Waadt). Allerdings macht das thurgauische
Gesetz über die Handänderungsund Stempelgebühren diesen Unterschied
nicht. Allein, wenn der thurgauische Regierungsrat denselben bei der
Anwendung des Gesetzes in dieses hineinlegte, so ist er damit über
die Grenze seiner Befugnisse in keiner Weise hinausgegangen, da eine
einschränkende Interpretation wohl möglich und bundesrechtlich nicht
zu beanstanden ist. Eine ungleiche Behandlung liegt aber ebensowenig
daria, dass einzelnen Kantonen gegenüber, die die Steuerbesreiung
allgemein gewähren, der Kanton Thurgau ebenfalls von der Erhebung einer
Erbschaftssteuer absieht. Es ist dies eine Vergünstigung, eine zulässige
Abweichung von der Regel, welche diese letztere selbst keineswegs zu
einer unzulässigen Retorsion macht. Wenn früher das Gesetz in einem
weitern Sinne ausgelegt worden sein sollte, so hindert dies eine Änderung
der Praxis nicht, sobaldI. Rechtsverweigemng und Gleichheit vor dem
Gesetze. N° 76. 317

diese nur auf einer sachlichen Begründung beruht, was hier zutrifft.
Übrigens ist nicht dargetan, dass eine feste Praxis in ent- gegengesetztem
Sinne je bestanden habe. Der Rekurs ist demnach, soweit er sich auf
Art. 4 der Bundesverfassung stützt, abzuweisen. Aus den gleichen Gründen
erscheint aber auch die eventuelle Berufung auf Art. 60 der B.-V. als
nnstichhaltig

Demnach hat das Bundesgericht erkannt: Der Rekurs wird abgewiesen

76. Urteil vom 23. Oktober 1902 in Sachen Willi) gegen Stienen.

Berechtigung eine-e nachträglichen Rechtsvorscmages. Voraussetzungen
hiefür. Art. 77 Abs. 1 Sch.li'.-G. Besserstellung eines Auslän--
ders. Art. 4 B.-V.

A. Hugo Willy in Orlikon liess den J. G. Stienen in Säckingen, nachdem
er gegen ihn einen Arrest ausgewirkt hatte, bezüglich dessen zwar der
Arrestgrund vom Schuldner bestritten wurde, durch das Betreibungsamt
Stein für eine Forderung von 7612 Fr. 50 Cis. nebst Kosten betreiben·
Der Zahlungsbefehl ist dem I. G. Stienen am 21. August 1902 zugestellt
worden; das Betreibungsamt bediente sich dazu des üblichen Formulars,
dem die einschlägigen Gesetzesvorschristen über den Rechtsvorschlag,
speziell Art. 74 des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs,
ausgedruckt sind. Die Rechtsvorschlagfrist blieb unbenützt. Dagegen
reichte der Schuldner am & September 1902 beim Gerichtspräsidenten von
Rheinfelden ein Gesuch um Bewilligung des nachträglichen Rechtsvorschlages
im Sinne von Art. 77 B.-G. ein. Mit Entscheid vom 13. September 1902
bewilligte der Gerichtspräsident von Rheinfelden, der nach kantonalem
Recht über das Gesuch als einzige Instanz zu entscheiden hatte, den
nachträglichen Rechtsvorschlag, im wesentlichen mit folgender Begründung:
Der Betriebene habe ohne Schuld den Rechtsvor-

318 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

schlag unterlassen. Denn einmal erscheine es als erklärlich, dass Stienen,
dem als Ausländer die Kenntnis der hiesigen Gesetze nicht zugemutet
werden könne, zu der Ansicht gelangte, er habe mit der Bestreitung
des Arrestgrundes auch zugleich die Arrestforderung bestritten. Jn
seinem Gesuch um Aufhebung des Arrestes erkläre denn auch Stienen, dem
Arrestnehmer Win nicht nur nichts zu schulden, sondern selbst an ihn
eine Forderung zn haben. Hierin liege eine Bestreitung der betriebenen
Forderung, Und dass Stienen diese nicht beim zuständigen Betreibungsamte
sanbrachte, dürfe ihm nicht zum Schaden gereichen. Sodann erscheine
es als unbillig, den Betriebenen zu zwingen, eine Forderung, die nicht
liquid sei, zu bezahlen und sie dann auf dem Wege der Rückforderungsklage
zurückzufordern.

B. Gegen diesen Entscheid hat der Gläubiger Win rechtzeitig den
staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht ergriffen, mit dem
Antrag auf Aufhebung desselben, weil derselbe nach der unzulänglichen
Motivierung eine bewusste Nichtanwendung des Gesetzes und damit eine
Rechtsverweigerung im Sinne der bundesgerichtlichen Praxis enthalte.

C. Der Gerichtspräsident von Rheinfelden bestreitet in seiner
Vernehmlassung, dass eine den staatsrechtlichen Rekurs begründende
Rechtsverletzung vorliege und hält daran fest-, dass Stienen ohne
sein VerschuldenK verhindert gewesen sei, innert nützlicher Frist
Rechtsvorschlag zu erheben. Der Rekurs sei deshalb abzuweisen.

Vom Rekursbeklagten ist eine Antwort nicht eingegangen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Die Säumnis innert der zehntägigen Frist des Art. 74
des eidg. Betreibungsgesetzes Rechtsvorschlag zu erheben, ist dem
Betriebenen nach Mitgabe von Art. 77 leg. cit. dann nachzusehen, wenn er
an der Erhebung des rechtzeitigen Rechtsvorschlages ohne seine Schuld
verhindert war. Nach dem angesochtenen Entscheide läge das Hindernis
im vorliegenden Falle darin, dass der Betriebene die gesetzlichen
Vorschriften über Zeit und Ort der Erhebung des Rechtsvorschlages
nicht kannte, und die Entschuldigung für diese Unkenntnis findet der
Gerichtspräsident von Rheinfelden in der Eigenschaft des Vetriebenen als
Ausländer.[. Rechtsverwejgemng und Gleichheit vor dem Gesetze. N° 76. 319

Das eine ist so unrichtig, wie das andere. Das subjektive Moment
der Gesetzesunkenntnis kann, wenn überhaupt, so jedenfalls unter den
vorliegenden Verhältnissen als ein Hindernis für die Besorgung der vom
Gesetze geforderten Diligenzien nicht angeführt werden, weil dem Schuldner
mit dem Zahlungsbefehl der Gesetzestext mitgeteilt wurde, aus dem er
Belehrung über das, was er Vorzukehren hatte, schöpfen konnte. Unter
solchen Umständen kann aber natürlich auch die Auslandereigenschaft
als entschuldigendes Motiv für die Gesetzesunkenntnis nicht verwendet
werden. Die Auslegung, die der Gerichtspräsident von Rheinfelden dem
Art. 77 des Bein-Eies gegeben hat, ist sonach nicht haltbar. Für die von
dem Gerichtspräsidenten beigefügte Billigkeitserwägung sodann lässt das
Gesetz vollends keinen Raum. Der angefochtene Entscheid verletzt aber
nicht nur das Gesetz, sondern auch den verfassungsrechtlichen Grundsatz
der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, Art. 4. der B.-V., indem er dazu
führt, dass ein Ausländer wegen dieser seiner Eigenschaft rechtlich anders
und zwar besser behandelt würde, als unter gleichen Verhältnissen ein
Einheimischer behandelt werden müsste, trotzdem eine solche verschiedene
Behandlung weder im Gesetz, noch in der Natur der Sache begründet ist,
da ein Auslander unter den Umständen, wie sie hier vorliegen, ebenso
das Gesetz zu kennen censiert ist, wie ein Einheimischer. Die Gewährung
eines sachlich nicht begründeten Vor-rechts bedeutet aber vorliegend für
den Rekurrenten eine eigentliche Rechtsbewugerung, weshalb sein Rekurs
zu schützen ist. Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird gutgeheissen und demgemäss der angefochtene Entscheid
des Gerichtspräsidenten von Rheinfelden vom 13. September 1902 aufgehoben.