38 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

V. Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen Kantonen. Difiérents de
droit public

entre cant-ons.

8. Urteil vom 17. Januar 1901 in Sachen Baselstadt gegen Bern.

Streit über Steuerhoheit mit Bezug auf eine Erbschaft. Zur Er}èebung
zesstàindssiger Kamion. Diese Frage ist nach dem Bat-takesgesetz
barre/Temi civilrecätliche Verhdîlz-nisse der Wieder-gelassenen etc. zu
entscheiden. Letztle Wohnsitz des Erblassers.

A. Am 14. Februar 1900 starb in der Kuranstalt Sonnenfels, Pensiouat für
Nervenund Gemütskranke, in Spiez am Thunersee, Johann Rudolf Passavant
von Basel, geboren 18. Juni 1823. Erbe seines in Wertpapieren und
Barschaft bestehenden bedeutenden Vermögens wurde seine Schwester,
Witwe E. Resvinger-Passavant in Basel. Passavant war durch Urteil des
Waisengerichtes des Kantons Baselstadt vom 22. März 1849 wegen Mangels an
Kenntnissen zur Verwaltung seines Vermögens mundtot erklärt worden und bis
zu seinem Tode unter der Vormundschast der Basler Behörden verblieben;
sein Vermögen wurde in Basel verwaltet. Um das Jahr 1850 herum war
er in den Kanton Bem gekommen, zuerst in die Stadt Bern, wo er in das
Handelsgeschäft des Heinrich Fetscherin als Lehrling eintrat; er trat
indessen bald aus, und blieb während ungefähr 40 Jahren in der Familie
des Bruders seines ehemaligen Prinzipals, des Pfarrers Franz Fetscherin,
bis er im Jahre 1888 in die Anstalt Sonnenfels aufgenommen wurde. Diese
Anstalt ist laut Prospekt "zur Aufnahme leichter und schwerer-er Formen
psychischer Erkrankung berechnet, namentlich auch für solche Patienten,
denen der Aufenthalt in geschlossener Anstalt nicht paszt, die auch in
ihrem eigenen Heim nicht mehr verweilen können, aber noch fähig sind, das
Familienleben mit seinen gemütlichen Anregungen zu genügen"; zur Ausnahme
ist u. a.V. Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen Kantonen. N° 8. 39

sein ärztliches Zeugnis erforderlich, sowie ein Heimatscheinz letztern

legte Passavant bei der Amtsschreiberei Wimmis ein.

B. Nach dem Tode des Passavaut betrachteten sich sowohl der Kamen
Baselstadt als auch der Kanton Bern als ausschliesslich zur Erhebung
der Erbschaftssteuer auf dessen Nachlass berechtigt, und da eine
Einigung nicht zu stande fam, hat der Regierungssisirat des Kantons
Baselstadt am 6. Oktober 1900 beim Bundesgericht Klage eingereicht
mit dem Begehren: Das Bundesgericht wolle die ausschliessliche
Berechtigung des Kantous Baselstadt zur Erhebung der Erbschaftssteuer
auf dem Rachlasse des am 14. Februar 1900 in Spiez gestorbenen Herrn
J. R. Passavant von Basel aussprechen Diese Klage wird im wesentlichen
wie folgt begründet: Nach klarem Bundesrecht stehe die Berechtigung
zur Erbschaftssteuer demjenigen Kantone zu, in dem der Erblasser zur
Zeit seines Todes seinen Wohnsitz gehabt habe. Darüber-, was als
Wohnsitz des Passavant anzusehen sei, entscheide das Bundesgesetz
betreffend die civilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen
vom 25. Juni 1891. Danach gelte als Wohnsitz der unter Vormundschaft
stehenden Personen der Sitz der Vormundschaftsbehörden, also in casu
Baselstadt. Daran ändere die bundesgericht- siiche Praxis betreffend
Verschiedenheit des civilrechtlichen und des Steuerwohnsitzes nichts. Es
handle sich vorliegend nicht um einen Vom Bevormundeten freiwillig
gewählten Aufenthalt, sondern um eine Versorgung in einer Heilanstalt,
und ein derartiger Aufenthalt begründe auch nach der bundesgerichtlichen
Praxis in Doppelbesteuerungssachen keinen Wohnsitz. Dazu femme, dass
der Kanton Bern von Passavant wie überhaupt von allen Pensionären der
Anstalt Sonnenfels nie die periodischen direkten Steuern verlangt habe;
dadurch habe er anerkannt, dass er nicht steuerberechtigt sei, Endlich
habe Bern nie die Übergabe der Vormundschaft gemäss Art. 4 Bundesgesetz
betreffend civilrechtliche Verhält- nisse verlangt.

C. Der Regierungsrat des Kantons Bern stellt in seiner Antwort die
Anträge: 1. Der Regierungsrat des Kantons Baselstadt sei mit dem
Rechts-begehren seiner Klage abzuweisen. 12. Es sei zu erkennen,
dass der Staat Bem allein berechtigt isf, von der Verlassenschaft des
J. N. Passavant sel. die Erbschafts-

40 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. 1. Abschnitt. Bundesverfassung.

steuer zu beziehen. Die Begründung dieser Anträge lässt sich dahin
zusammensassen: Nach feststehender Praxis des Bundesgerichtes falle der
steuerrechtliche Wohnsitz nicht mit dein Wohnsitzin civilrechtlichem Sinne
zusammen. Passavant habe einen steuerrechtlichen Wohnsitz im Sinne der
bundesgerichtlichen Praxis im Kanten Bern gehabt: Hier sei er zirka 50
Jahre wohnhaft ge- wesen. In die Anstalt Sonnenfels sei er nicht ohne
sein Wissen und ohne seine Einwirkung gekommen. Er sei, abgesehen von
einigen Sonderbarkeiten durchaus normal gewesen und habe nichtskrankhaftes
gehabt; auch nach der Aufnahme in die Anstalt Sonnenfels sei er bis
zuletzt geistig thätig geblieben, von einer Geisteskrankheit, die ein
bloss physisches Dasein herbeigeführt hätte, sei keine Rede gewesen;
Sonnenfels sei keine Jrrenanstalt, wo der Kranke nur als Nummer-, als ein
Bestandteil der Anstalt behandelt werde. Sodann liege ein Verzicht auf
die Steuerhoheit nicht vor. Endlich habe Bern auch keine Pflicht gehabt,
sich die Vormundschaft übertragen zu lassen.

D. Zn der Replik bemerkt der Kläger zunächst über den geistigen
Zustand des Passavant: Passavant sei, wenn auch nicht blödsinnig,
so doch schwachsinnig gewesen, so dass man ihn nicht selbständig habe
schalten lassen können. Den Aufenthalt in der Anstalt Sonnenfels habe
Passavant nicht selber gewählt, sondern er sei von seinem Vormund und
seinem Nebenvorrnund und

Schwager·, dem verstorbenen Herrn Respinger-Passavant, in diev

Anstalt verbracht worden; er hätte bei seiner Geistesschwäche und
seiner mit vorgerücktem Alter immer mehr hervortretenden geistigen und
körperlichen Hilflosigkeit ausserhalb einer Anstalt nicht in angemessener,
seinen Vermögensverhältnissen entsprechender Weise verpflegt werden
können. Sodann werde daran festgehalten, dass der Beklagte sich den
Jnsassen der Anstalt Sonnenfels gegenüber nie als steuer-berechtigt
angesehen habe; wenn nun plötzlich dem Nachlasse des Passavant gegenüber
anders verfahren werde, liege darin eine ungleiche Behandlung Das
Hauptgewicht der Begründung der Klage aber wird darauf gelegt, dass
das Bundesgesetz betreffend die civilrechilichen Verhältnisse die
frühere bundesgerichtliche Praxis, soweit Erbschaftssteuer betreffend,
aufgehoben habe, und dass nunmehr für die Erbschaftssteuer der
SteuerwohnsitzV. Staatsrechiliche Streitigkeiten zwischen Kantonen. N°
8. 41

mit dem civilrechtlichen Wohnsitz zusammensalle. Endlich wird daran
festgehalten, dass Passavant keinen dauernden Aufenthalt im Kanton Bern
im Sinne einer Domizilbegründnng habe nehmen können, und auf Art. 3,
Abs. 2 genannten Gesetzes verwiesen.

E. Duplikando gibt der Beklagte zu, dass Passavant Richt: ganz normal
war; dagegen hält er daran fest, dass es sich bei der Aufnahme in die
Anstalt Sonnenfels um einen selbständig gewählten Aufenthalt gehandelt
habe. Ein Verzicht auf die Steuerhoheit liege nicht vor, speziell
nicht betreffend Erbschaftssteuer, und auf ungleiche Behandlung könne
sich der Klager keinesfalls Berufen. Endlich wird bestritten,f dass das
Bundesgesetz betreffend die civilrechtlichen Verhältnisse eine Anderung
der fruhern bundesgerichtlichen Praxis bewirkt habe und dass nunmehr
der Steuerwohnsitz in Erbschaftssachen mit dem civilrechtlichen Domizil
identisch sei, unter Hinweis auf bundesger. Entsch, Amtl. Samml., Bd. XXI,
S. 1 ff.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung: _

1. In Abweichung von dem in der Praxis bisher festgehaltenen Sage, dass
das Bundesgesetz vom 25. Juni 1891 uber die civilrechtlichen Verhältnisse
der Niedergelassenen n. s.w. an dem durch die bundesgerichtliche
Praxis früher aufgestellten Prinzip: für die Steuerhoheit sei der
thatsächliche Aufenthalt des Mündels massgebend, und das gelte selbst
für die, Erbschaftssteuer, nichts geändert habe, hat das Bundesgericht
zweimal dieses Gesetz zur Entscheidung der Frage, welcher Kantocn
erbschaftssteuerberechtigt sei, herangezogen: im Urteil vom o. Dezember
1896 in Sachen Erben Frossard e. de sangy (nicht abgedruckt), und im
Urteile vorn 9. Februar 1898 m Sachen du Pasquier (Amtl. Samml. Bd. XXIV,
1. Teil, S. LiDo ff.), ohne freiiich die Tragweite dieses Gesetzes mit
Bezug auf Steuerkon ikte rundä li" u erörtern. _

T Nugn ist fnizchtch zrzveifelhafh dass das erwähnte Gesetz zunächst nur
die civilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen Und Ausenthalter
ordnen will, wie sich schon aus seinem aTitel, sowie aus seinen einzelnen
Bestimmungen, die alle zunächst privatrechtliche Verhältnisse beschlagen,
ergibt (vergi. auch Escher, das

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u. s. w., da dessen Bestimmungen vom Bundesgesetzgeber ausgehen und
auch innerlich durchaus begründet sind. Vol-liegend nun darf wohl
unbedenklich von einer Unterbringung des Passavant in der Anstalt
Sonnenfels gesprochen werden, wenn man auch weder annehmen will, dass es
sich um eine eigentliche Irrenanstalt handle, noch, dass Passavant dabei
eine gänzlich passivev Rolle gespielt habe; jenes ist nach dem Gesagten
irrelevant (wie denn die Grenze überhaupt schwer zu ziehen sein dürfte);
und was den freien Willen des Passavant betrifft, so ist vom beklagten
Kanton Bern zugegeben, dass Passavaut nicht ganz normal war, und zudem
festgestellt, dass er bevormundet war wegen Unfähigkeit zur Verwaltung
seines Vermögens-, also of enbar wegen einer gewissen geistigen Schwäche;
unter diesen Umständen aber kann seiner Zustimmung zum Aufenthalt in
Sonnenfels nicht mehr als formelle Bedeutung zukommen. Auch von diesem
Gesichtspunkte aus ist zu sagen, dass ein Wohnsitz des Passavant, und
zwar auch ein steuerrechtlicher, im Kanton Bern nicht begründet wurde.

i. Endlich fällt noch eines in Betracht: Glaubte der Kanton Bern wirklich,
der Wohnsitz des Passavant sei in den Kanton Bern verlegt worden (was
freilich schon vor circa 50 Jahren stattgefunden hätte), so hatte
er nach am, 17 Bandes-ges. betr. die civilrechtlichen Verhältnisse
der Niedergelassenen u. s. w. nicht nur das Recht, sondern auch die
Pflicht, die Übertragung der Vormundschaft vom Kanton Baselstadt an
ihn zu verlangen. Der Kanton Baselstadt wäre dann in der Lage gewesen,
gestützt auf Art. 3 Abf. 2 leg. cit. entgegenzuhalten, es handle sich um
keinen Wohnsitz-wechsel, und der Streit wäre eventuell Vor Bundesgericht
zum Austrag gekommenÅEs geht nun aber nicht an,

dass der Kanton Bern, der sich der Übernahme der vormundss

schaftlichen Funktionen enthalten hat, gleichwohl die Erbschaft-Zfteuer
vom Nachlasse des verstorbenen Passavant beansprucht; und gerade diese
Erwägung zeigt, dass aus der Anwendung des Bandes-gesetzes betreffend die
civilrechtlichen Verhältnisse auch eine Beeinflussung der bisherigen
steuerrechtlichen Grundsätze des Bundesgerichtes folgt. Wenn das
Bundesgericht übrigens bis. m: hin ganz allgemein die Scheidung zwischen
civilrechtlichecn und Steuerwohnsitz durchgeführt hat, so geschah das
wesentlich des-Y. Staatsrechtliche Streitigkeiten zwischen Kantonen. N°
8. 45

halb, weil vor der Herrschaft des Bundesgesetzes über die civiî=
rechtlichen Verhältnisse einheitliche Bestimmungen über den Wohnsitz in
der Schweiz nicht eristierten, so dass der Konflikt zwischen mehreren
kantonalen Gesetzgebungen auf Grund allgemeiner Rechtssätze zu entscheiden
war; dieses Argument fällt nun aber nach Inkrafttreten jenes Gesetzes
dahin. Inwieweit diese Erwägungen auch die bisherige Rechtssprechung
über die periodischen Steuern zu beeinflussen vermögen, kann für
heute, wo bloss die Steuerhoheit in Erbschaftssachen in Frage steht,
dahingestellt bleiben. Immerhin mag darauf hingewiesen werden, dass die
allgemeine Gleichstellung des Steuerwohnsitzes mit dem civilrechtlichen
Wohnsitz bei Bedormundeten zwei Vorteile böte: den einen, dass alsdann
die Unterbringung Versorgungsbedürftiger von Seite der Heimatbehörden
einzig und allein mit Rücksicht auf das Wohl des zu Verforgenden,
unbeeinflusst durch Nebenrücksichten fiskalischer Natur, erfolgen
würde, den andern, dass nur so der Gedanke des Gesetzes betreffend die
civilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenem die Vormuudschaft
solle am Wohnsitze des Vögtlings geführt werden und nötigenfalls an
die Wohnsitzbehörde Übergehen, zum Durchbruch kommen wird. (Vergl. hier
die zutreffende Bemerkung in Blumer-Morels Handbuch des Schweizerischen
Bundesstaatsrechtes, I, 2. Aufl., S. 430z S. Ants... S. 551.)

ò. Schliesslich darf wohl auch darauf hingewiesen werden, dass
die Bundesverfafsung, Art. 46, selber den nahen Zusammenhang der
civilrechtlichen Verhältnisse der Niedergelassenen und Aufenthalter mit
der Doppelbesteuerung zum Ausdruck bringt.

Demnach hat das Bundesgericht ss erkannt:

Zur Erhebung der Erbschaftssteuer aus dein Nachlasse des am 14. Februar
1900 in Spiez gestorbenen Johann Rudolf Passavant von Basel wird
der Kanton Baselstadt ausschliesslich berechtigt erklärt, und der
Steueransprnch des Kantons Bein somit abgewiesen.