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192 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. 11. Abschnitt. Bundesgesetze.IV.
Erfindungspatente. Brevets d'invention.

Vergl. Nr. 22, Arrèt du 4 avril 1901 dans la cause Société chimique des
Usines du Rhòne contre Association du Pavillon Raoul Pictet.

V. Organisation der Bundesrechtspfiege.

Organisation judiciaire fédérale.

31. Urteil vom 1. Mai 1901 in Sachen Müller & Eie. gegen
Nordostbahngesellschaft.

Siatthaftigkeit des staatsrechtlichen Rekurses gegenüber Civile-teilen,
Art. 182 Abs. { Org. Ges. Verhältnis zur civilrmätlichen Be-
rufung. Bett-ernstenVerletzung des internationalen Uebez-einknmmens über
Eisenbalz-z-efrachiverkehr. Art. 182 Abs. 2 Org.-Ges.

A. Die heutigen Rekurrenten, Franz Müller & (Sie. in Schaffhausen,
hatten von der Firma Noth & (Sie. in Bari am 14. Oktober 1898 eine
Weinsendung erhalten. Da sich bei der Abwägung der Sendung durch die
Rekurrenten in Schasfhausen ein Gewichtsmanko gegenüber dem in der
Faktura und im Frachtbriefe genannten Aufgabegewicht ergab, wandten sich
die Rekurrenten an ihre Lieferanten, und diese gelangten an die heutige
Rekursbeklagte, die schweizerische Nordostbahngesellschaft, als letzte
Frachtführerin. Sowohl die Rekursbeklagte, wie Noth & Cie. lehnten die
Verantwortlichkeit ab. Da die Rekurrenten auf dem Abzug des vollen Manfrys
beharrten, kam es zum Prozesse zwischen ihnen und Roth & (Cie. Dieser
Prozess wurde indessen durch Entscheid des Bezirksgerichis Schaffhausen
vom 16. Februar 1899 iistiert, unter gleichzeitiger Ansetzung einer
Frist für die heutigen Rekurrenten zur Geltendmachung der betreffenden
EntschädigungsforderungV. Organisation der Bundesrechtspflege. N° 31. 193

gegenüber der Eisenbahn. Daraufhin erhoben die Rekurrenten gegen die
Rekursbeklagte mittelst Klage vor den Schafshauser Gerichten Anspruch auf
Vergütung einer Summe von 259 Fr. . 76 CW., eventuell 206 Fr. 32 (Stà,
eines Ven-ages, den sie im Laufe des Verfahrens vor Bezirks-geruht auf
183 Fr. 06 Cis. reduziert-en Die Veklagte (und heutige Rekursbeklagte)
trug auf Abweisung der Klage cm, wesentlich mit der Begründung, die Kläger
(und Rekurrenten) hätten ihr Klagerecht nach Art-ist des internationalen
Übereinkommens über Eisenbahnfrachtverkehr vom 14. Oktober 1890/1. Januar
1893 durch vorbehaltlose Annahme des Frachtgutes verwirkL Während die
erste Instanz (das Bezirksgericht Schaffhausen) diesen Standpunkt der
Beklagten verwars und die Klage in dem noch aufrecht erhaltenen Betrage
guthiess, hat das Obergericht des Kantons Schaffhaufen auf Appellation
der Beklagten hin durch Urteil vom 15. Dezember 1900 die Klage abgewiesen,
indem es ben Standpunkt der Beklagten bezüglich Verwirkung des Klagerechts
gestützt auf Art. 44 Internat. Übereinkommen EXFOB geschützt hat.

B. Gegen das obergerichtliche Urteil haben nun die Warren: ten rechtzeitig
und in richtiger Form den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht
eingereicht mit den Anträgen:

1. Das angefochtene Urteil sei aufzuheben;

'2. Die Rekursbeklagte sei mit ihrer Verjährungseiurede abzuweisen
und somit die Reklamation der Rekurrenten noch formell als zulässig
zu erklären;

3. Die Streitsache sei an das Obergericht des Kantons Schaffhausen zur
weitern Behandlung auf Grund des grundsätzlichen Entscheides gemäss
Antrag 2 zurückzunseisen

Betreffend die Statthaftigkeit des Rekurses bemerkt die Rekrutischrift,
das angefochtene Urteil beruhe auf Verletzung des inter- nationalen
Übereinkommens über E.-F.-V., also auf Verletzung eines Staatsvertrages,
und demgemäss sei der staatsrechtliche Rekurs, da ein anderes Rechtsmittel
an das Bundesgericht nicht gegeben set, zulässig (Art. 1872 Org.-Ges.). Im
übrigen sucht die Rekursschrift die materielle Unrichtigkeit des
angesochtenen Urteils darzuthuu.

C. Die Reime-beklagte beantragt in erster Linie, auf den Re-

194 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. II. Abschnitt. Bundesgesetze.

kurs sei wegen Unftatthaftigkeit desselben nicht einzutreten; in zweiter
Linie trägt sie auf Abweifnng des Rekurses an.

D. Das Obergericht des Kantons Schafshaufen verweist lediglich auf die
Begründung seines Entscheides.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Die von der Rekursbeklagten aufgeworfene und Überdies von Amtes wegen
zu prüfende Frage der Statthaftigkeit des staatsrechtlichen Rekurses
ist zu entscheiden auf Grund der Bestimmungen des Bundesgesetzes
betreffend Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März 1893. Danach
ist Art. 182 Abs. 1 eine staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht
nicht zulässig wegen Verletzung privatrechtlicher (oder ftrasrechtlicher)
Vorschriften des eidgenössi schen Rechts Zweck dieser Bestimmung war,
wie sich besonders aus der Botschaft zum bundesrätlichen Entwurfe
(Art. 181) resp. zum Vorentwurfe Hafner (Art. 117) ergibt, die Kollision
verschiedener Rechtsmittel an das Bundesgericht in derselben Materie
auszuschliessen Es fragt sich daher in erster Linie, ob die behauptete
Verletzung des internationalen Übereinkommens über E -F-V, auf die einzig
der Rekurs gestützt wird, als Verletzung privatrechtlicher Vorschriften
des eidgeuössischen Rechts erscheint. Diese Frage ist unbedenklich zu
besahen: Der Inhalt internationaler Verträge über privatrechtliche
Verhältnisse, die die Schweiz abschliesst, wird für das Gebiet der
Schweiz eine Quelle eidgenöfsischen Rechts (vgl. die bundesrätliche
Botschaft zu Art.57 Org.-Ges.-Entw.), wie denn auch das Bundesgericht
als Civilgerichtshof nie Anstand genommen hat, Streitigkeiten auf Grund
der internationalen Übereinkommen über Urheberrecht, über Markenschutz,
und gerade auch Über Eisenbahnfrachtvertrag (ng. Entsch. v. 14. Juli 1900
in Sachen Bianchi gegen N.-O.-B., Amtl. Samml, Bd. XXVI, 2. Teil, S. 513
Ti.) zu Beurteilen. Nun macht allerdings Art. 182 Abs. 2 Org.-Ges. einen
Vorbehalt zu Gunsten der Staatsverträge: wegen Verletzung von Bestimmungen
der Staatsverträge soll der staatsrechtliche Rekurs zulässig fein,
soweit die kantonalbehördlichen Entscheidungen nicht mittelst der in
den Bestimmungen des Gesetzes über die Civil: rechtspflege und die
Strafrechtspflege vorgesehenen Rechtsinittel ansechtbar find. Es
ist zuzugeben, dass bei rein wörtlicher Inter-V. Organisation der
Bundesrechtspflege. N° 31. 195

spretation dieser Gesetzesbestimmung der vorliegende staats-rechtliche
Rekurs als statthaft erklärt werden miifgte, denn der angefochtene
Entscheid war zweifelsohne weder mit der Berufung nach Art. 56 ff.,
noch mit der Kassation nach Art.89 ff. Org.-Ges. anfechtbar. Allein eine
derartige wörtliche Auslegung würde das System des Gesetzes wie das Wesen
des staatsrechtlichen Rekurses verkennen und zudem eine Menge praktischer
Unzukömmlichkeiten im Gefolge haben. Das Gesetz will die verschiedenen
für die Civilrechtspflege, für die Strafrechtspflege und für die
Staatsrechtspflege eingesührten Rechtsinittel scharf auseinander gehalten
wissen, wie denn auch jedes dieser Rechtsmittel seiner rechtlichen Natur
nach eine selbständige Stellung einnimmt Mittelst des staatsrechtlichen
Rekurses speziell soll nur die Staatsrechtspflege gehandhabt werden. Die
Verletzung von Staatsverträgen über privatrechtliche Verhältnisse kann
also mittelst des staatsrechtlichen Rekurses nur soweit gerügt werden,
als öffentlich-rechtliche Vorschriften, Fragen staatsrechtlicher oder
völkerrechtlicher Natur, aufgeworfen werden; dagegen können nicht
rein civilrechtliche Bestimmungen der Staatsverträge mittelst der
staatsrechtlichen Beschwerde zur Kognition des Bundesgerichts als
Staatsgerichtshof gebracht werden. Die gegenteilige (von Reichel in
seinem Kommentar zu Art. 182, Anm. 2, vertretene) Auffassung hätte
die merkwürdige Konsequenz, dass für eine und dieselbe Materie
(z. B. gerade Verletzung des internationalen Übereinkommen-s über
E.-F.-V.) das Bundesgericht als Civilgericht kompetent und die Berufung
das zulässige Rechtsmittel wäre, falls der Streitwert 2000 Fr. übersteigt,
bei Nichtvorhandensein dieses Erfordernisses der Berufung dagegen
das Bundesgericht als Staatsgerichtshof zu urteilen befugt und der
staatsrechtliche Rekurs das gegebene Rechtsmittel ware. Eine solche

Vermischung der beiden grundverschiedenen Rechtsmittel kann nicht

im Sinne des Gesetzes liegen. Der in Art. 182 Abs. 2 OrgGes enthaltene
Vorbehalt zu Gunsten der staatsrechtlichen Beschwerde kann sich
vielmehr nur auf Fälle beziehen, bei denen eine Verletzung von Normen
öffentlichrechtlicher Natur in Frage steht Ebenso ist klar, dass uberall
der staatsrechtliche Rekurs wegen Rechtsverweigerung offen steht.

Da nun vor-liegend die Rekurrenten ausschliesslich die Verletzung

196 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. Il. AhschnitL Bundesgesetze.

privatrechtlicher Bestimmungen des internationalen Übereinkommens
über E.-F.-V. rügen, wie denn auch das ganze Übereinkommen nur
privatrechtlichen Inhalt hat und selber überall den Rechtsweg vor den
Civilgerichten vorsieht, kann auf den Rekurs nicht eingetreten werden.

Demnach hat das Bundesgericht erkannt: Aus den Rekurs wird
wegen Inkompeienz des Bundesgerichts, bezw. Ulnzulässigkeit des
staatsrechtlichen Rekurses, nicht eingetreten.

32. Urteil vom 23. see (111901 in Sachen von Greyerz gegen Ritz-Borel.

Verwirkung des staatsrechtlichen Rekurses wegen Verletzung der
Pressfr'eiheit gegen ein Civifflràeil durch Poz-behaèéiase Zaki-amg der
Urteilssumme nebst Kosten.

A. Durch (erstund letztinstauzlichesJ Urteil des Gerichtspräfi-s denten
II des Amtsbezirks Bern vom 2. November 1900 ist der Rekurrent Dr. O. von
Greyerz zu einer Entschädigungssumme von 100 Fr. an den Rekursgegner
Ritz-Borel in Bern sowie zuden Prozesskosten verurteilt worden, da er
schuldig befunden wurde,. durch einen Feuilletonartikel Aus dem Lande der
Abderiten, erschienen im Bund Nr.232, 238 und 234 des Jahres 1900, den
Rekursgegner in seinen persönlichen Verhältnissen im Sinne des Art. 55
Q.-R. ernstlich verletzt zu haben. Der Rekurrent soll in der Sitzung
des Gerichtspräsidenten sofort geäussert haben, erwerde möglicherweise
gegen das Urteil den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht wegen
Verletzung der Presssreiheit ergreifenAm 7. November 1900 zahlte der
Anwalt des Rekurrenten an den Anwalt des Rekursgegners den Betrag von
150 Fr., der sich zusammensetzt aus der Entschädigung von 100 Fr. und
den Kosten von 50 Fr., zu denen der Rekurrent im genannten Urteile
verurteilt war. Die Zahlung erfolgte, gemäss dem Wortlaute der Quittung,
vorbehaltlos.V. Organisation der Bundesrechtspflege. N° 32. , 197

B. Mit Eingabe vom 20. Dezember 1900 hat der Rekurrent den vorliegenden
staatsrechtlichenRekurs an das Bundesgericht eingereicht, der den
Antrag enthält, das angefochtene Urteil sei als verfassungswidrig weil
das verfassungsmässig garantierte Recht der Pressfreiheit (Art. 55
B.-V. und Art.7·7 beru. KV.) verlegend, aufzuheben Mit Bezug aus den
möglicher Weise vom Rekursgegner zu erwartenden Einwand der Verwirkung
des Rekurses führt die Rekursschrift aus: Dieser Einwand werde damit
begrtindet werden wollen, dass der Rekurrent durch Zahlung der dem
Rekursgegner zugesprochenen Geldsumme und der Prozesskosten das Urteil
anerkannt habe und sonach mit seinem Rekurse überhaupt nicht mehr gehört
werden könne. Eine derartige Argumentation wäre jedoch verfehlt, und
zwar aus folgenden Gründen:

Erstens könnte von einer Anerkennung des Urteils höchstens im Falle
freiwilliger Zahlung gesprochen werden. Dieser Fall liege nun aber nicht
vor. Allerdings sei die Betreibung noch nicht angehoben gewesen; allein
sie hätte jeden Augenblickangehoben werden können; der Rekurrent sei daher
in der Zwangslage gewesen, zu zahlen, oder sich betreiben zu lassen. Wenn
man einwenden wollte, der Rekurrent hätte vor Ablauf der (durch § 387
bem. C.-P.:O. auf 14 Tage bestimmten) Frist zur Zwangsexekution des
inappellabeln Urteils den staatsrechtlichen Rekurs an das Bundesgericht
ergreifen und hiebei den Erlass einer provisorischen Verfügung gemäss
Art. 185 Qrg.-Gef. beantragen können, so sei hiegegen zu erwidern,
erstens, dass eine derartige Zumutung eine empfindliche Verletzung
der 60-tägigen Rekurssrist bedeuten würde, und sodann, dass ihm die
Einreichung des Rekurses vor Ablauf jener 14-tägigen Frist thatsächlich
ein Ding der Unmöglichkeit gewesen ware. Sonach sei die Zahlung keine
sreiwillige gewesen. Es sei denn auch nicht einzusehen, weshale der in
seinen verfassungsmässigen Rechten verkürzte Bürgernn derartigen Fällen
zuerst die Betreibnng über sich ergehen lassen müsste, um auf dem Wege
des staatsrechtlichen Rekurses bqu Bundesgerichte Schutz zu suchen; so
würde gewissermassen die Betreibung zu einer notwendigen Voraussetzung
des Rekurses er-

hoben.