416 staats-rechtliche Entscheidungen. I. Abschnitt. Bundesverfassung.

III. Niederlassung und Aufenthalt.

Etablissement et séjour.

87. Urteil vom 9. November 1899 in Sachen Ackermann gegen Luzern.

Entzug der Niederlassung wegen wiederhozter schwerer Vergehen; Art. 45
Abs. 3 B.-V.

A. Maria Margaritha Ackermann, gebürtig von Schüpfheim, ist seit dem
Jahre 1893 in Schwarzenberg (Kanton Luzern) wohnhast, woselbst sie ihre
Ausweisschriften am 15. September 1894 deponiert hat und bei Franz Josef
Burri im Dienste steht.

Am 7. September 1899 beschloss der Gemeinderat von Schwarzenberg, sie
habe diese Gemeinde innert drei Wochen dauernd zu verlassen. Er machte
hiebei unter Berufung auf Art. 45 der Bundesverfassung geltend, dass
sie zum zweiten Male wegen Unzucht bestraft worden sei.

Gegen diesen Ausweisungsbeschluss rekurrierte Maria Margaritha Ackermann
an den Regierungsrath des Kantons Luzern, indem sie anbrachte:

In ihrem jugendlichen Wier, in den 80er Jahren, sei sie freilich vom
Statthalteramte wegen ausserehelicher Niederkunft gebüsst worden. Seither
aber habe sie zu keinen Strafen mehr Anlass gegeben, namentlich auch
nicht seit ihrem Aufenthalte in Schwarzenberg. Die Ausfällung jener
Busse sei lange vor ihrer Niederlassung in genannter Gemeinde erfolgt,
und es habe sich hiebei weder um eine gerichtliche Bestrafung, noch um
ein schweres Vergehen im Sinne des Art. 45 der Bundesverfassung gehandelt.

Der Gemeinderat von Schwarzenberg erwiderte in seiner Vernernehmlassung
auf den Rekurs: Unzuchtsdelikte seien alssjschwere Vergehen im Sinne von
Art. 45 cit. anzusehen, und die Bestrafung durch das Statthalteramt
komme einer gerichtlichen Bestrafung gleich. Es entspreche diese
Auffassung einem früher in Betreff einer Maria Duss entschiedenen
Falle. Übrigens sei das Verhalten der Rekurrentin in Schwarzenberg selbst
die Veran-lll. Niederlassung und Aufenthalt. N° 87. 417

lassung zu ihrer Ausweisung gewesen. Denn allem Vernehmen nach habe
sie sich noch nicht der Sittlichkeit beflissen; sie wohne gegenwärtig
allein bei ihrem Brodherrn; sie habe zwischen dessen Eltern durch Lügen
Unfrieden gestiftet und dazu beigetragen, dass die Eltern aus dem Hause
verdrängt worden seien.

Seiner Vernehmlassung legte der Gemeinderat von Schwarzenberg einen
Ausng aus der Leumuudskontwlle von Schüpfheim bei, demzufolge Margaritha
Ackermann am 21. November 1888 wegen Unzucht im ersten Rückfalle vom
Statthalteramt Entlebuch mit 14 Tagen Gefängnis, eventuell mit 42
Fr. Busse, bestraft worden ist.

B. Der Regierungsrat des Kantons Luzern wies am 30. Sep: tember 1899
den Rekurs als unbegründet ab, in Erwägung:

Dass die Rekurrentin zweimal wegen Unzucht bestraft worden ist und
jedes Unzuchtsvergehen als schweres Vergehen im Sinne von Art. 45 der
Bundesverfassung zu betrachten ist;

Dass ein statthalteramtlicher Strafantrag, der vom Beschuldigten ohne
Weiterziehung angenommen wird, in seinen Wirkungen einem gerichtlichen
Urtheile gleichzustellen ist.

C. Mit Eingabe vom 15. Oktober 1899 beantragte Maria Margaritha Ackermann
beim Bundesgerichte die Aufhebung des regierungsrätiichen Entscheides. Die
Reknrsschrift beruft sich zunächst auf die erstinstanzlich
bereits vorgeht-achten Gründe (s. oben sub A). Das luzernische
Strafrechtsverfahren, wird beigefügt, unterscheide zwischen geringen
und schweren Polizeivergehen. Nur erstere können vom Statthalteramte
abgewandelt werden, und hier gehören auch die nur mit einer Geldbusse
von 20 80 Fr. bedrohten Unzuchtsvergehen Der angefochtene Entscheid
widerspreche der bundesrechtlichen Praxis. Rekurrentin habe sich während
ihrer Niederlassung in Schwarzenberg immer brav Und unklagbar betragen;
zum Entzuge der Niederlassung liege nicht die geringste Veranlassung vor.

D. In seiner Antwort trägt der Regierungsrat des Kantons Luzern auf
Abweisung des Refin-fes an. Jedes Unznchtsvergeben, macht er geltend,
sei als schweres Vergehen im Sinne von Art. 45 B.-V. aufzufassen Dass
die Bestrafungen vor der Niederlassnng in Schwarzenberg erfolgt seien,
falle nicht in Betracht,

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und es gehe übrigens ans den Akten nicht hervor, dass sie der Gemeinderat
von Schwarzenberg bei Erteilung der Niederlassung gekannt habe. Übrigens
habe Rekurrentin laut der Vernehmlassung des Gemeinderates (s. oben
sub A) auch seither Anlass zu Beschwerden gegeben. Jhre Berufung auf
das luzernische Strafverfahren treffe nicht zu. Der Umstand, dass auf
eine Gefängnisstrafe von 14 Tagen gegen sie erkannt wurde, thue dar,
dass es sich um ein schweres Vergehen gehandelt habe.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Wenn der Regierungsrat des Kantons Luzern glaubt, es könne zufolge
Art. 45 Abs; 3 der Bundesverfassung einem in bürgerlichen Rechten
und Ehren stehenden Schweizerbürger die Niederlassung an einem Orte
ohne anderes wegen gerichtlicher Bestrafungen, die in die Zeit vor dem
Erwerb der Niederlassung fallen, entzogen werden, so befindet er sich in
einem offenbaren Irrtum. Diese Auffassung würde praktisch dazu führen,
dass einem Bürger die Niederlassung, die ihm gemäss Art-. 45 Abs. 2 der
B.V. nicht verweigert werden konnte, sofort nach der Bewilligung und
ohne dass in seinen Verhältnissen sich irgend etwas verändert hatte,
wieder entzogen werden könnte. Das hat natürlich die Bundesverfafsung
nicht gewollt. Im Gegenteil wollte sie solchen, die an einem Orte
gerichtlich, jedoch ohne Entng der bürgerlichen Ehren, bestraft worden
sind, den Erwerb der Niederlassung an einem andern Orte, die Begründung
einer neuen Existenz, ermöglichen

2. Allerdings ist der verfassungsmässige Grundsatz des
Niederlassungsrechts durch die dem Bundesgerichte im Jahre 1893
überlieferte bundesrechtliche Praxis bedeutend abgeschwächt worden. Die
administrativen Rekursbehörden des Bundes, in deren Zuständigkeit
die Erledigung von Beschwerden betreffend das Niederlassuugsrecht der
Schweizerbürger bis zum 1. Oktober 1893 gehörte, haben angenommen, dass
die Voraussetzungen des Niederlassungsentzuges auch dann erfüllt seien,
wenn der Niedergelassene an seinem Wohnsitze sich zwar nur eines schweren
Vergehens schuldig gemacht hat, jedoch infolge früherer krimineller
Bestrafung bereits im Rückfalle sich befindet, ja dass die Behörden die
Ausweisung sogar dann verfügen dürfen, wenn der Niedergelassene seit
der NiederlassungIll. Niederlassung und Aufenthalt. N° 87. 419

nicht mehr strafgerichtlich verurteilt worden ist, dagegen eines die
öffentliche Sicherheit oder Sittlichkeit gefährdenden Lebenswandels
sich schuldig gemacht hat (vgl. v. Salis, Bundesrecht, II, Nr. 406, 425
u. 426). Das Bundesgericht will von dieser Praxis nicht abgehen. Jm
Rekursfalle ist jedoch keine der erwähnten Voraussetzungen des
Niederlassungsentzuges vorhanden. Die Rekurreutin wurde nach Aus-weis
der Akten ungefähr sechs Jahre vor ihrer Niederlassung iu der Gemeinde
Schwarzenberg

wegen ausserehelicher Niederkunft im ersten Rückfalle vom Statt-

halteramt Entlebuch mit Strafe belegt. Es kann, zumal im Hinblick darauf,
dass nach Matzgabe ihrer Strafgesetzgebung von der Mehrzahl der Kantone in
einem solchen Falle überhaupt nicht strafrechtlich eingeschritten würde,
nicht gesagt werden, dafz die Rekurrentin sich dadurch eines schweren
Vergebens im Sinne des Art. 45 Abf. 3 der B.-V. schuldig gemacht habe,
wie dies bei gewerbsmässiger Unzucht, Kuppelei u. s. w. unzweifelhaft
der Fall ware. Ausserdem fehlt in casu vollständig der Nachweis
eines schuldhaften Verhaltens der Rekurrentin am Niederlassungsorte,
welches doch einzig nach der sestftehenden Praxis das Zurückgreifen
auf frühere Bestrafungen zu rechtfertigen vermöchte-. Was in dieser
Beziehung der Gemeinderat von Schwarzenberg in seiner Eingabe an das
kantonale Polizeidepartement vorgebracht und der Regierungsrat in der
Antwort auf den Rekurs berührt hat, ist so unbestimmter Natur, dass es
nicht in Betracht fallen Yann. -(Zu vgl. Entscheide des Bundesgerichts,
Amtl. Samml. Bd. XXIL Nr. 67 Crw. 4; Bd. XXIII, Nr. 75 Erw. 2; Bd. XXIV,
Nr. 122 Erw. 3 i. f.; Bd. XXV *, Nr. 36, S. 203)

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird ials begründet erklärt und infolgedessen der Beschluss
des Regierungsrat-s des Kantons Luzern vom 30. September 1899 aufgehoben,
womit auch derjenige des Gemeinderates von Schwarzenberg vom 7. September
1899 dahinfällt.

* i. Teil-