BGE-25-I-186


186 A. Staatsrechtliche Entscheidungen. [. Abschnitt-. Bundesverfassung.

mit dem Rechtsvorschlag vielleicht nur die Fälligkeit oder die Eintreilu
barkeit der Forderung bestritten werden will, so ergiebt sich klar, dass
darin nicht die Aufforderung an den Gläubiger erblickt werden darf, unter
Androhung des Verlustes des Klagerechts seinen Anspruch innert bestimmter,
übrigens sehr kurz bemessener Frist geltend zu machen. Die angefochtene
Bestimmung in Art. 26 litt. a des innerrhodischen Civilprozessversahrens
erweist sich danach als mit dem eidg. Rechte unvereinbar, und es
muss deshalb die einzig aus dieselbe sich stützende Entscheidung des
Kantonsgerichts von Appetizell J.-R aufgehoben werden Demnach hat das
Bundesgericht erkannt:

Der Rekurs wird gutgeheissen und demgemäss das angefochtene Urteil
des Kantonsgerichts des Kantons Appenzell-Jnnerrhoden vom 20. April
1899 aufgehoben, und die Sache zu neuer Behandlung an die kantonalen
Gerichte zurückgewiesen.

82. Urteil vom 29. Juni 1899 in Sachen Gisler gegen Zwyssig.

Rechtsverweiyerany, begangen durch unvollstsisiîndige Begründung eines
Urteils, sowie durch Verletzung klaren Rechtes. (Folgen der L'nieräasszmg
des rechtzeitigm Rechtsverschlags.)

A. Am s. August 1898 erliess das Betreibungsamt Spiringen auf Begehren
des Andreas Zwyfsig auf Seelisberg an Jakob Gisler in Spiringen einen
Zahlungsbefehl für 335 Fr. nebst Zins zu 5 Ü/0 seit 5. August 1898
wegen Fahrlässigkeit und widerrechtlicher unbefugter Verwendung
eines Meisrind in Runs: alp im Juni 1898 und für gehabte Kosten.
Am 17. August stellte das Betreibungsamt dem Gläubiger das für diesen
bestimmte Doppel des Zahlungsbefehls zurück und mit der unter der
Aufschrift Rechtsvorschlag enthaltenen Bemerkung: Die Schuld wird nicht
anerkannt. Auf dem Schuldnerdoppel wurde der Rechtsivorschlag nicht
verurkuntet.I. Rechtsverweigemng. N° 32. 187

B. Zwyssig lud hierauf den Gisler unter Berufung darauf,

dass dieser gegen den Zahlungsbefehl vom 6. August Recht vor-

geschlagen habe, vor das Vermittleramt Spiringen mit dem Begehren, es sei
der Beklagte gerichtlich zu verhalten, an den Kläger die geforderten 335
Fr. nebst Zins und Kosten zu bezahlen und der daherige Rechtsvorschlag
aufzuheben. Die Vermittlung blieb erfolglos und die Sache wurde an das
Gericht gewiesen. Vor dem Kreisgericht Uri wiederholte der Vertreter des
Zwyssig das vor dem Vermittleramt gestellte Begehren, und begründete
dasselbe im wesentlichen folgendermassen: Der Kläger habe am 21. Juni
1898 zwei Rinder in die Ruosalp gegeben. Der Beklagte sei dort Hirt
gewesen. Schon am dritten Tage sei das schönere der beiden Rinder
auf der Alp verunglückt Dies sei auf mangelhafte Aufsicht des Hirten
zurückzuführen Auch habe Gisler von sich aus über das Fleisch versügt und
dabei die Interessen des Klägers vernachlässigt. Der Beklagte sei somit
nach Art. 50 n, 51 Q-S . für das Rind ersatzpslichtig Das Rechtsdegehren
sei auch deshalb zu schützen, weil Gisler zu spät, nämlich erst am
17. August, gegen den an ihn erlassenen Zahlungsbefehl Rechtsvorschlag
erhoben habe. Der Beklagte bestritt seine Schadenersatzpflicht und
bemerkte bezüglich des Rechtsvorschlages, der Kläger habe zu beweisen,
dass derselbe verspätet angebracht worden sei; und übrigens sei er gar
nicht berechtigt, eine solche Einrede zu erheben. C. Das Kreisgericht
Uri erkannte unterm 22. November 1898: 1. Das klägerische Rechtsbegehren
sei zwar als materiell nicht bewiesen, dagegen als formell begründet
erklärt. 2. Der Beklagte habe 10 Fr. Gerichtsgeld und dem Kläger eine
Kostenvergütung von 50 Fr. zu bezahlen. Das Gericht führte aus: Es
sei der Beweis, dass der Beklagte durch eine sahrlässige Handlung den
Verlust des Rindes des Kiägers verursacht habe, nicht erbracht; ebenso
erweise sich die klägerische Behauptung, dass der Beklagte eigenmächtig
über das Fleisch verfügt habe, als unbegründetzazm dem sei durch die
Beklagtschaft dargethan, dass sie dem Klager sofort von dem Verlust des
Rindes Kenntnis gegeben haer und dass daraus nicht mehr habe erlöst werden
können als thatsachlich gelöst worden sei. Die klägerische Forderung
stelle sich infolgedessen als materiell unbegründet dar. Dagegen sei
die Behauptung des

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Klägers, dass der Rechtsvorschlag verspätet erhoben worden sei,

als richtig und bewiesen anzusehen, indem derselbe laut dem klägerischen
Zahlungsbefehl erst am 17. August erfolgt-zu sein scheine, während die
Zustellung schon am 6. August stattgefunden habe; es sei somit eine
rechtszerstörliche Frist versäumt worden, weshalb das Begehren als
formell begründet erklärt werden müsse, Das Obergericht Uri hat das
kreisgerichtliche Urteil, gegen das von beiden Parteien die Appellation
ergriffen wurde, am 12. Januar 1899, unter Billigung der Erwägungen
der Vorinstanz, in allen Teilen bestätigt und der Beklagtschaft ein
Gerichtsgeld von 10 Fr. und eine ausser-rechtliche Entschädigung von 15
Fr. auferlegt.

D. Mit Eingabe vom 28. Februar/11. März 1899 stellt Jakob Gisler beim
Bundesgericht das Begehrensses sei das Urteil des Obergerichts Uri vom
12. Januar 1899, soweit es die Zwyssigsche Forderung formell begründet
erkläre und soweit dem Gisler Kosten auferlegt werden, eventuell,
d. h. sofern diese teilweise Aufhebung nicht zulässig, in allen Teilen
aufzuheben und Zwyssig zur Kostenvergütung an Gisler laut beiliegender
Note zu verurteilen. In thatsächlicher Beziehung wird bemerkt und durch
eine nachträglich dem Schuldnerdoppel des Zahlungsbefehls vom 6. August
beigesetzte Bescheinignng des Betreibungsamtes belegt, dass Gisler schon
am 8. August Rechtsvorschlag erhoben hat. In rechtlicher Beziehung ruft
der Rekurrent den Art. 4 der B.-V. an, indem er darzuthun sucht, dass die
formelle Zusprechung der Forderung auf einem gesetzwidrig und willkürlich
konstruierten Thatbestand beruhe und als eine Rechtsverweigerung
betrachtet werden müsse, um so mehr, als die materielle Unbegründetheit
der Forderung vom Gerichte selbst anerkannt worden sei.

E. Der Rekursbeklagte stellt den Antrag, es sei der Rekurs formell und
materiell als unbegründet abzuweisen. In formeller Beziehung scheint
geltend gemacht werden zu wollen, Gisler hätte gegen das obergerichtliche
Urteil zunächst Kassationsbeschwerde bei der kantonalen Kassationsinstanz
oder Revision verlangen sollen. In der Sache werden die Ausführungen
der Rekurrenten durchwegs als unzutreffend hingestellt

F. Der Justruktiousrichter fragte das Obergericht Uri an, welche Bedeutung
und Wirkungen nach dortiger Gesetzgebung einem Urteil zukommen, das ein
Rechtsbegehren als formell be-I. Rechtsverweigerung. N° 32. 189

gründet erklärt; ob dasselbe einem definitiven Endurteile gleichstehe
oder worin es sich von einem solchen unterscheide. Das OberBericht
antwortete, dass das Urteil ein Haupturteil sei, das sich in seiner
Bedeutung und Wirkung laut den gesetzlichen Bestimmungen durch nichts
von einem definitiven Endurteil unterscheide; dasselbe sei, wie dieses,
rechtskräftig und vollstreekbar, sofern nicht eine Revision oder
Kassation erfolge.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Durch das Urteil vom 12. Januar 1899 ist, wie nach dem vom Obergericht
eingeholten Bericht nicht mehr zweifelhaft sein kann, über den Anspruch
des Klägers endgültig abgesprochen worden, und es wurde damit nicht
etwa bloss dem Kläger für seine Forderung Rechtsöffnung erteilt. Die
eigentümliche Fassung des Dispositivs, dass das Rechtsbegehren zwar
als materiell nicht bewiesen, dagegen als formell begründet erklärt
werde, weist somit bloss auf die Motive der Entscheidung hin, die man in
summarischer Form zu wiederholen für gut fand; und sie benimmt derselben
den Charakter eines die Streitsache definitiv erledigenden Urteils nicht.

2. Die Kassationsbeschwerde und das Revisionsbegehren (§§ 86 ff. der
Civilprozessordnung für den Kanton Uri) sind ausserordentliche
Rechts-mittel, die nur unter den vom Gesetze speziell normierten
Voraussetzungen ergriffen werden können. Es ist nun nicht behauptet und
ergiebt sich auch nicht aus den bezüglichen gesetzlichen Bestimmungen,
dass wegen Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz,
bezw. wegen materieller Rechtsverweigerung (Art. ei der B.-V.) die
Kassation oder Revision bei den betreffenden kantonalen Jnstanzen
anbegehrt werden könne. Es darf deshalb das Eintreten auf den Rekurs nicht
wegen Richterschöpfung des kantonalen Jnstanzenzuges abgelehnt werden

3. Das angesochtene Urteil beruht auf dem Gedanken, dass der Rekurrent
dadurch, dass er nicht rechtzeitig gegen den Zahlungsbefehl des
Rekursbeklagten Recht vorgeschlagen, einen _neuen sSchuldgrund geschaffen
habe, der zu seiner Verurteilung fuhren müsse ohne Rücksicht auf die
ursprüngliche Begründetheit des Anspruchs. Dieser Standpunkt ist nun aber
in dem angefochtenen Urteile in keiner Weise rechtlich zu begründen auch
nur versucht worden. Es wird einfach die Thatsache konstatiert, und zwar

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gestützt auf sehr wenig schlüssige Jndizien und ohne genügendeUntersuchung
des Sachverhatts, dass nicht rechtzeitig Recht vorgeschlagen worden
sei. Über die rechtliche Seite der Sache dagegen, d. h. darüber,
ob, inwieweit und ans welchen Gründen dem unbestritten gebliebenen
Zahlungsbefehl eine Bedeutung für das materielle Rechtsverhältnis
beizumessen sei, fehlt jegliche Ausführung. Hierin liegt eine Lücke
in den Urteilen der kantonalen Instanzen, die schon an sich zu ihrer
Aufhebung führen müsste, da es als eine Rechtsverweigerung bezeichnet
werden muss, wenn ein Urteil nicht zu Ende geführt und in wesentlichen
Punkten unvollständig ist. Dazu kommt, dass die Urner Gerichte, wenn
sieder sich bietenden Rechts-frage näher getreten wären, ohne Verletzung
klaren Rechts nicht zu ihrem Urteil hätten gelangen kön-

nen. In der That hat ja der Umstand, dass der Schuldner gegen '

einen Zahlungsbesehl nicht rechtzeitig Widerspruch erhebt, nur zur
Folge, dass die Betreibung fortgesetzt werden farm, während in jener
Säumnis allein eine Anerkennung der Schuld, oder der Thatbeftand für
die Entstehung eines neuen Anspruchs nicht erblickt werden kann. Es
ergiebt sich dies klar daraus, dass dem Schuldner, der den Rechtsvorschlag
unterlassen hat oder dessen Rechtsvorschlag durch Rechtsöffnung beseitigt
worden ist, und welcher infolgedessen eine Nichtschuld bezahlte,
das Recht der Rückforderung innerhalb eines Jahres nach erfolgter
Zahlung zusteht (s. Art. 86des eidg. Betreib.-Ges.). Dieses ihm durch
das Gesetz garantierten Rechts ginge der Schuldner verlustig, wenn die
blosse Thatsache der Nichterhebung oder der verspäteten Erhebung eines
Rechtsvorschlages als Anerkennung der Schuld angesehen werden wollte.
Auch aus diesem Grunde kann das angefochtene Urteil nicht aufrecht
erhalten werden. Die Aufhebung ergreift natürlich das Urteil in seiner
Gesamtheit; eine Scheidung nach der formellen und materiellen Seite hin
ist nicht möglich. Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Der Reknrs wird gutgeheissen und das angefochtene Urteil desObergerichts
Uri vom 12. Januar 1899 aufgehoben.Il. Doppelhesteuerung. N° 33. 19L

II. Doppelbesteuerung-. Double imposition.

33. Urteil vom 19. April 1899 in Sachen Kopp gegen Thurgau.

Rückforderung bezahlter Säeuefr'n kann nicht auf dem î-Vegedes
staatsrechtlichen Rekurses verlangt werden.

A. Jakob Kopp, Buchhalter in Olten, hat, als er im Jahre 1892 aus seinem
Heimatkanton Thurgau wegzog, sein 14,000 Fr.. betragendes Vermögen
einer Tante von ihm, Lisette Hess in Uttweil (Thurgau), in Verwahrung
gegeben. Letztere bezahlte seither für dieses Vermögen bis und mit dem
Jahre 1897 derGemeinde Uttweil und dem Kanton Thurgau Steuern im Ge-:
samtbetrage von 449 Fr. 40 (Etas. Hievon entfallen 137 Fr 20 Ets. auf die
Jahre 1892 und 1893, während welcher sich Kopp in Bern aufhielt, ohne hier
besteuert worden zu sein, und 312 Fr. 50 Cis. für die Zeit auf 1. Januar
1894, von wosan Rekurrent sein Domizil in Olten hatte. Anlässlich seiner
im: Oktober 1898 stattgefundenen Verehelichung bekam die Steuer-s behörde
Olten Kenntnis von seinem Vermögensbesitze und verlangte nun von ihtn
die Steuer von obgenanntern Zeitpunktess seiner Niederlassung an.

B. Kopp, welcher diese Steuerforderung der Gemeinde Olten-...
als begründet anerkennt, verlangte nunmehr von seiner Heimatgemeinde
Uttweil die Rückzahlung des oberwähnten Betrages von 312 Fr. 50 Cts.,
wurde aber mit seinem Begehren unterm9. Dezember 1898 abgewiesen,
immerhin mit der Bemerkung, dass er vom Tage seiner Beschwerdeführung
an von jeder weitern Steuer entlastet sei. Auf erhobene Beschwerde hin
entschied auchder Regierungsrat des Kantons Thurgau unterm 27. Januar
1899 sein Gesuch in abweisendem Sinne, indem er zur Begründung ausführt:

Es könne im vorliegenden Falle von Doppelbesteuerung ausdem Grunde nicht
gesprochen werden, weil die Steuer von dem. Rekurrenten in Uttweil nicht
gefordert worden, sondern er sich-