204 Civilrechtspflege.

ganz wesentlichenRichmngen hin einer Vertragsverletzung schuldig
gemacht hat: zunächst dadurch, dass er, entgegen dem Vertrage,
seine Arbeitsleistung zugestandenermassen nicht erfüllt hat, tvogegen
seine Entschuldigung, er sei vom Widerbeklagten shsiemaiisch aus dem
Geschäfte verdrängt worden, wie oben gezeigt, nicht Stand hält; sodann
durch die Anerkennung der Forderung der Witwe Senglet, wozu nach dem
Gesellschaftsvertrages die Zustimmung des Widerbeklagten nötig gewesen
wäre. Diese beiden Vertragsverletzungen involvieren nun aber eine ganz
bedeutend grössere Schuld, als die dem Widerbeklagten zu Lasten zu
legende, wie denn auch die erste Instanz anerkannt hat, die Hauptschuld
an der Zentntung trage der Widerkläger. Danach kann aber nach dem in
Erwägung 4 in fine aufgestellten Grundsatz von einer Gutheissung der
Widerklage keine Rede sein. Sie muss auch nicht etwa deshalb zugesprochen
werden, weil der Widerbeklagte selber durch seine Hauptklage anerkannt
hätte, dass eine Fortsetzung der Gesellschaft unmöglich sei; denn die
Hauptklage war auf etwas ganz anderes gerichtet, als es die Widerklage
ist, und nun sieht dem Widerbeklagten sehr wohl die Wahl zwischen
Zustimmung zur Auflösung oder Nichtzustimmung zu. Ob Witwe Senglet
Gründe zur Auflösung des Vertragsverhältnisses hätte wobei die Klage,
wie bemerkt, gegen beide heutigen Litiganten gerichtet werden müsste ist
in diesem Prozesse nicht zu untersuchen, da sie darin nicht als Partei
auftritt. Durch die Abweisung der Widerklage wird endlich einer spätern
Klage des Widerklägers für den Fall, als der Widerbeklagte ihn an der
Erfüllung seiner Vertragspflichten hindern sollte, nicht präjudiziert.
Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Die Berufung des Widerklägers wird als unbegründet abgewiesen und somit
das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Baselstadt vom 24. Januar
1898 in allen Teilen bestätigt.V. Obligauoncnrecht. N° 26. 205

26. Urteil vom 19. März 1898 in Sachen Wilhelm Horlacher gegen Johann
Horlacher.

Unerlaubte Handlung. Fahrlässe'ge Körperverletzung. Prdsiiudizialitdt
des Strafurie-ils, speziell des den Bekèagtffl grwedsdizlick zum Ersmîze
des Sehadeees verpflichtenden Dispositivs? Verjährung? -- Verschulden
durch Unterlassung. Mass des Schadenersatzes. -for-belaust der N achklage.

A. Durch Urteil vom 23. Dezember 1897 hat das Obergericht des Kantons
Aargau erkannt:

1. Der Beklagte ist schuldig, dem Kläger zu bezahlen:

a.. an die Heilungskosten 900 Fr. samt Zins à 5 0/O von 728 Fr. 30
Cfs. seit 9. Juli 1894 und von 171 Fr. 70 Cts. vom 18 Juni 1895 an;

b eine Entschädigung zu Handen des Knaben Wilhelm Horlacher für
teilweise dauernde Erwerbsunfahigkeit von 3000 Fr. samt Zins à. 5 Osz
seit 9. Juli 1894.

2. Dem Kläger resp. dem Verletzteu wird im Sinne von Ziffer XI der Klage
das Recht gewahrt, weitere Entschädigungsansprüche geltend zu machen,
sofern der geistige Zustand des Knaben sich infolge des Unsalls vom
Z. April 1892 später verschlimmern und Epilepsie, Geisteskrankheit
ze. ausbrechen sollten.

B. Gegen dieses Urteil haben beide Parteien rechtzeitig und sormgemäss
die Berufung an das Bundesgericht ergriffen.

Der Kläger beantragt: Es sei die dem Knaben Wilhelm HorIacher zu
entrichtende Entschädigung für die Heilungskosten und für die
Verstümmelung, Entstellung und Arbeitsunfähigkeit im Sinne des
Klageschlusses zu erhöhen.

Der Beklagte stellt dagegen die Anträge: Die Klage sei vollstandg
abzuweisen, eventuell seien die dem Klager zugesprochenen Beträge
erheblich zu reduzieren

C. In der heutigen Verhandlung wiederholen die Vertreter beider Parteien
ihre schriftlich gestellten Anträge und tragen gegenseitig auf Abweisung
der gegnerischen Berufung an. Der Vertreter des Beklagten stellt überdies
den eventuellen Antrag, die Akt-en seien zur Abnahme des Beweises über
die vom Beklagten

206 Giv11rechtspflege.

behauptete Art und Weise des Unfalls an die Borinstanz zurückzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Der Beklagte Johann Horlacher, Cementier in Umiken, hatte vor
seinem Hause an der Fassade gegen die Dorfstrasse seit vielen Jahren
ein sog. Fenstergericht aus Cementsteinen, das früher mit einem
bogenförmigen, mit Klammern an der Hausmauer befestigten, Oberstück
versehen war, angebracht. Das Haus grenzt nicht unmittelbar an die
Dorfstrasse, sondern es befindet sich zwischen ihm und der letztern
ein circa 10 Meter breiter eingezäunter Garten. Am Z. April 1892
wurde dieses Fenstergericht durch den damals sechsjährigen Knaben des
Klägers Horlacher, der mit seiner eine Bekannte besuchenden Mutter in den
Gartenraum zwischen dem Hause des Beklagten und der Dorfstrasze getreten
war, zu Falle gebracht; der Knabe erlitt eine Reihe schwerer Verletzungen
am Kopfe. Die nähern Verumständigungen, unter denen das Unglück geschah,
haben nicht mit vollständiger Sicherheit festgestellt werden können;
immerhin sagt eine Zeugin, dieim Hause des Beklagten wohnt, aus, sie
habe den Beklagten etwa 14 Tage oder 3 Wochen Vor dem Unfall daraus
aufmerksam gemacht, dass sich die Klammern etwas abgelöst hätten und
wieder befestigt werden sollten. Aus andern Zeugenaussagen erhellt,
dass die Steine, aus denen das Fenstergericht aufgestellt war, lose
waren, und dass dieser baufällige Zustand jedermann sichtbar war. Ob
der Knabe Horlacher an den Steinen herumgeklettert ist oder nicht,
ist nicht aufgeklärt; dagegen ist erwiesen, dass die Mutter Horlacher
ihm den Rücken zugekehrt und mit einer andern Frauensperson geplaudert
hat. Jnsolge Strafanzeige durch den Kläger Wilhelm Horlacher überwies die
Staatsanwaltschast des Kantons Aargau die Sache mit dem Anfrage, Johann
Horlacher sei wegen sahrlässiger schwerer Körper-verletzung zu bestrafen,
dem Bezirksgericht Brugg; der Kläger stellte hier in der Verhandlung vom
21. Oktober 1892 den Antrag, der Beklagte sei grundsätzlich zum Ersatze
des entstandenen und noch entstehenden Schadens zu verpflichten Mit Urteil
vom 1. Dezember 1893 sprach das Bezirksgericht Brugg den Beklagten von
Schuld und Strafe frei Und wies die Entschädigungsansprüche des Klägers
auf den Einklweg; auf Appellation des Klägers hin erklärte jedoch das
Ober- V. Obligationenrecht. N° 26. 207

gericht des Kantons Aargan mit Urteil vom 22. April 1894 den Beklagten
der fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig und verurteilte ihn
zu einer Geldstrafe von 50 Fr.; überdies erkannte es im Civilpunkt, der
Beklagte sei grundsätzlich verpflichtet, dem Kläger Ersatz für den Schaden
zu leisten, den er ihm durch sein Vorgehen verursacht habe. Ein gegen
dieses Urteil ergriffener staats-rechtlicher Rekurs an das Bundesgericht
ist als unbegründet abgewiesen worden Der Knabe war vom ersten Tage nach
dem Unfallf bis zum 13. Juni 1892 und wieder vom 22. August 1892 bis
5. Mai 1893, mit Unterbrechung vom 4. Februar bis29. März 1893, welche
Zeit er zu Hause zubrachte, im Kinderspital Brugg, und vom 30. Juni bis
10. Juli 1892, sowie vom 6. Mai bis 10. Juli 1893 in der Augenklinik
des Dr. Bänziger in Zurich. Er zeigte hier starke geistige, speziell
sittliche Mängel. Im September 1893 trat er in die Gemeindeschule
Umiken ein; einem damaligen Lehrer fiel eine gewisse Unstätigkeit
Und Zerstreutheit, langsame Auffassungskraft und Vergesslichkeit aus,
während er sein Betragen als ein gutes bezeichnet. Im Oktober 1894 wurde
er in die Anstalt für schwachsinnige Kinder in Biberstein versetzt,
aber bald wieder entlassen, da es ihm nur an der nötigen Erziehung fehle
und er nicht schwachsinnig sei. In der Schule zeigte er sich nachher
ordentlich bildungsfähig. Im Januar 1895 erhob nunmehr der Kläger gegen
den Beklagten Klage mit den Rechtsbegehrenr 1. Der Beklagte sei schuldig
zu erklären, dem Kläger an Heilungskosten 1500 Fr. und an Entschädigung
für die Verstümrnelung und Entstelluug und die gänzliche oder teilweise
Arbeitsunfähigkeit zu Handen des Knaben Wilhelm Horlacher die Summe
von 15,000 Fr. nebst Zins zu 5 0/0 seit 9. Juli 1894 (dem Tage der
Betreibung) richterliches Ermessen vorbehalten -zu bezahlen. 2. Es
sei dem Kläger bezw. dem Verletzten eventuell das Recht zu wahren,
seine weiteren Entschädigungsansprüche geltend zu machen, sofern der
geistige Zustand des Knaben sich infolge des Unsalls vom 3. April 1892
später verschlimmern Und Epilepsie, Geisteskrankheit u. s. w. ausbrechen
sollten. Alles unter Kostenfolge. Die Klage stützte sich in erster Linie
ans das die Schadenersatzpflicht des Beklagten grundsätzlich gutheissende
Urteil des Obergerichts vom 23. April 1894, machte sodann auch Art. 50
ff. und Art. 87 9:3. gel-

208 üivilrenhtspflege.

tend und brachte im fernem, gestützt auf am. 53 und 54 D.M., vor: Die
Arbeitsunfähigkeit des Knaben erscheine bei seiner Geistesschwäche,
dem teilweisen Verlust des Augenlichts, dem häufigen Eintritt
von Kopfschmerzen, dem beständigen Eiterfluss und der furchtbaren
Entstellung durch diesen und durch die Narben als aufgehoben Werden
nun als Jahresverdienst des Knaben von dessen 16. Altersjahre an
900 Fr. angesetzt, so entspreche dies für einen achtjährigen Knaben
einem Kapital von 15,000 Fr. Sollte nicht gänzliche Arbeitsunfähigkeit
angenommen werden, so werde an dieser Forderung gleichwohl festgehalten
und zwar alsdann gestützt auf Art.53 Abs. 2 und Art. 54 O.-R. Der Beklagte
trug auf definitive Abweisung der Klage, eventuell auf Abweisung zur
Zeit an. Er bemerkte vorah, auf den Strafprozess und das Strafurteil
(das er einer Kritik unterzog) dürfe der Civilrichter nicht abstellen
Daher mangle es der Klage an der nötigen Substanziierung. Ferner
fehle es an der Widerrechtlichkeit und am Kausalzusammenhang zwischen
Unfall und Schaden. Zudem erhob er die Einrede der Verjährung Eventuell
machte er Mitverschulden der Mutter des Knaben Horlacher, bestehend in
unbefugtem Betreten des zum Eigentum des Beklagten gehörenden Raumes und
in mangelnder Aufsicht, sowie Selbstverschulden des Knaben, geltend, und
ersuchte ganz eventuell um Zusprechung einer Entschädigung in der Form
einer Rente. Das Bezirtsgericht Brugg ordnete durch Zwischenurteil vom
30. August 1895 über den Umfang des körperlichen und des gegenwärtigen
und eventuellen zukünftigen geistigen Defekts beim Knaben Horlacher,
soweit er mit dem Unfalle vom Z. April 1892 in ursächlichem Zusammenhange
stehe, eine ärztliche Expertise an. Das Obergericht erkannte auf die
vorn Beklagten gegen dieses Zwischenurteil ergriffene Appellation hin,
vor Durchführng der Expertise sei dem Beklagten der Beweis über die
von ihm vorgeht-achten Thatsachen1 dass der Knabe Horlacher stets
geistig beschränkt gewesen sei und dass er von seiner Mutter sowohl
vor als nach dem Unfalle auf sdas grausamste misshandelt worden fei,
abzunehmen, bestätigte das angefochtene Urteil aber im übrigen. Jn
ihrem vom 20. September 1898 datierten Gntachten gelangen die
Erperteu zu dem Schlusse: Einige der durch den Unfall vom Z. April
1892 herbeigeführten Verletzungen seien ganz geheilt; andere seien
geheilt,V. Obligationenrecht. N° 26. , 209

Bedingen aber durch die Narbenbildung eine bleibende Entstellung -(Wunden
im Gesicht und am rechten Auge); eine dritte Kategorie von Störungen
bestehen ungeheilt fort und bediuge einen bleibenden Nachteil für das
Sehvermögen (Hornhautflecken) oder langandauernde Beschwerden und eine
gewisse Gefahr für das rechte Auge (Thränensackentzündung, unvollkommener
Liedschluss). Die jetzt noch fortbestehende Thränensackentzündung
bedürfe einer ferneren zeitweisen Behandlung; von dieser werde es
hauptsächlich abhängen, ob die Eiterung geheilt und dadurch die
Gefahr für das rechte Auge vermindert werden könne. Ob vielleicht
später infolge der Kopfverletzung noch eine weitere Herabsetzung der
Sehschärfe durch Degeneration des rechten Sehnerven, oder eine Nervenoder
Geisteskrankheit austreten werde, lasse sich nicht voraus-bestimmen
In einem Nachtragsgutachten vom 17. April 1897 wird gesagt, die
vollständige Heilung der Thränensacksentzündung sei unwahrscheinlich Das
Bezirks-gereicht Brugg verpflichtete den Beklagten mit Urteil vom 4. Juni
1897 zur Zahlung der Heilungskosten im geforderten Betrage von 1500
Fr. sowie einer Entschädigung für Verstümmelung, Entstellung und gänzliche
oder teilweise Arbeitsunfähigkeit in der Höhe von .3500 Fr. nebst Zins
zu 5 0/0 seit 9. Juli 1894 und wahrte dem Kläger bezw. dem Verletzten
das Recht der Nachklage in dem beanspruchten Umfange. Das Obergericht,
an welches beide Parteien appellierten, zog eine weitere Ergänzung
des ärztlichen Gutachtens ein über die Frage, wie hoch die Einbusse
der Erwerbsfähigkeit des Knaben Horlacher anzusetzen sei. Die Experten
schlagen dieselbe im Gutachten vom 12. Dezember 1897 auf 42 Ü/0 an. Die
Begründung des obergerichtlichen Urteils, sowie die nähere Begründung
der Parteianträge ist aus den nachfolgenden Erwägungen ersichtlich.

2. Dem Hauptantrage des Betlagten auf gänzliche Abweifung der Klage
halten der Kläger und die Vorinftanzen entgegen, über Edie grundsätzliche
Schadenersatzpflicht des Beklagten könne, nachdem

sie durch Urteil des Obergerichts vom 23. April 1894 rechts-

kräftig festgestellt sei, kein Streit mehr bestehen. Da bei der

Richtigkeit dieser Auffassung die grundsätzliche Frage der Schaden-

ersatzpflicht vom Bundesgericht nicht zu prüfen wäre, ist diese XXIV,
? 1898 M

210 ijilrechtspjiege.

Einwendung vor Eintreten auf die Sache zu untersuchen. Wäre nun
durch das genannte Urteil der Beklagte lediglich der Körperverletzung
schuldig erklärt und zu einer Strafe verurteilt worden, so könnte von
einer Gebundenheit des Civilrichters in dem Sinne, dass damit auch
implicite die Schadenersatzpflicht ausgesprochen ware, von vornherein
keine Rede fein, indem nur der den Strafansprach des Staates bejahende
oder verneinende Ausspruch des Strafrichters in Rechtskraft übergeht
(a. Il. für das schweiz Recht Haberstich, Handbuch et. Oblig.-Recht I
S. 175; Martin, in Zeitschr-. f. schweiz. Recht, N. F., VIII, S. 9 ff.;
vergl. auch weniger bestimmt Botschaft des Bundesrates zum Org.-Ges.,
S. 66). Fraglicher könnte die Sache sein, wenn, wie hier, der Strafrichter
auch die Schadenersatzpslicht des Beklagten im Grundsatz ausgesprochen
hat. Hier liegt es nahe, zu argumentieren: es sei dieser Ausspruch ein
Feststellungsurteil über den Grundsatz der Schadenersatzpflicht und als
solches der Rechtskraft so fähig wie bedürftig, so dass im darauffolgenden
Civilprozesse lediglich noch Über das Mass des Schadenerfatzes zu
erkennen sei, eine Liquidation desselben zu erfolgen habe (in diesem Sinne
z. B. der italienische Cod. di proc. pen., Art. 569 11 571 und dazu Bene-

volo, La parte civile nel giudizio penale, Art. 219, S. 346 ff).

Allein dieser Auffassung kann mangels einer dahinzielenden ausdrücklichen
und unzweifelhasten Gesetzesbestimtnung nicht beigetreten werden. Vielmehr
muss gesagt werden: Jenes die Schadenersatzpflicht aussprechende
Dispositiv des Urteils stellt sich nur als Teilurteil Über den Grund
des Anspruchs, nicht als ein den

Schadenersatzanspruch endgültig erledigendes Urteil dar, und hätte-

deshalb auch nicht selbständig an das Bundesgericht weitergezogen

wer-den können (ng. Reichel, Komm. z. Organis.-Gesetz, Art. 58,.

S. 63 sub c); es ist somit auch nicht in Rechtskraft übergegangen.
Daraus folgt denn aber nach Art 58 Abs. 2 Organis.-Ges., dass auch dieses
Teilurteil zusammen mit dem Endurteil der Beurteilung des Bundesgerichts
unterliegt und das Bundesgericht vollständig frei ist in der Prüfung,
ob der Thatbestand des vom Klager geltend gemachten Anspruchs gegeben
sei. Dabei sind indessen, wie es auch die Vorinstanzen gethan, auch die
Akten des

Strafprozesses beizustehen und vom Bundesgerichte, soweit nicht

schon bindende kantonale Beweiswürdigung vorliegt, zu
prüfen.V. Obligationenrecht. N° 26. ZU

3. Der Kläger stützt seine Klage in erster Linie aus Art.50 sf. O.-R. und
erst in zweiter Linie auf AWG? daselbst, und es erscheint zweckmässig,
zunächst zu prüfen, ob die erstgenannten Gesetzesbeftimmungen zutreffen,
obschon die zweite Vorschrift, Art.67, ein Verschulden des Beklagten
nicht zur Voraussetzung hat, also weniger Requisite der Haftbarkeit des
Beklagten enthält.

4. Die vor allem vorgebrachte Einrede der Verjährung der Klage ist
unbegründet. Die Verjährung ist durch die schon.im Strafprozess
adhäsionsweise geltend gemachte Schadenersatzklage unterbrochen
worden, und da die Verjährungsfrist erst mit Eintritt der Rechtskraft
des obergerichtlichen Strafurteils, d. h. am 23. April 1894, neu zu
laufen begann, ist die im Januar 1895 eingereichte Klage rechtzeitig
augehoben. Sonach ist materiell auf die Klage einzutreten Die
Klage aus Art. 50 ss. nun setzt voraus ; einen Schaden des Klägers,
eine Widerrechtlichkeit in objektivem Sinne und ein Verschulden des
Beklagten, sowie den Kausalzusatnmenhang zwischen jenem Schaden und dieser
objektiven und subjektiven Rechtswidrigkeit. Darüber, dass dem Kläger,
wie seinem Sohne, für welchen er das zweite Rechtsbegehren einklagt,
ein Schaden im Sinne der Art. 50 ff. Q.-R. entstanden ist, kann ein
Zweifel nicht bestehen. Dagegen wendet der Beklagte ein, es könne nicht
von einer Widerrechtlichkeit gesprochen werden; denn der Thatbestand,
aus dem die Klage hergeleitet werde, bestehe nicht in einer (positiven,
Vegehungs-) Handlung, sondern in einer Unterlassung, und nun könne durch
eine Unterlassung eine Rechtswidrigkeit nur dann begangen werden, wenn
eine besondere, sei es vertragliche, sei es ans besonderen gesetzlichen
Vorschriften folgende, Rechtspflicht zur Vornahme der Handlung bestehe;
dies tresse in casu nicht zu. Diese Ausführungen sind nun allerdings
nach der herrschenden und auch vom Bundesgericht angenommenen Theorie
(vergl. Amtl Samml., Bd. XV], S. 199 Erw. 3, i. S. Stadelmann gegen Koch)
insofern durchaus richtig, als zwar Art.50 O.-R. zwischen Begehungsund
Unterlassungshandlungen nicht unterscheidet, dagegen eine Unterlassung
nur dann widerrechtlich sein kann, wenn sie gegen ein besonderes Gebot
der Rechtsordnung, durch welches jemand zu einem Thun verpflichtet wird,
verstösst, oder wenn dieses Thun durch vertragliche Pflichten geboten
ist. Allein in casu ist ein solches Gebot über-treten wor-

212 ' Givilrechlspflege.

ben. Denn nach der allgemeinen Rechtsordnung ist derjenige,
der einen Zustand herstellt, der in erkennbarer Weise die Gefahr
einer Schädigung anderer in sich trägt, aus dieser Herstellung
verpflichtet, das zur Abwendung dieser Gefahr erforderliche zu thun;
die Unterlassung der die Gefahr abwendenden Vorkehrungen erscheint
somit als gegen diesen Rechtssatz verstossend, d. h. als widerrechtlich
(vergl. Amis. Samml., Bd. XXI, S. 625 und Bähr, Gegenentwurf zum
Entwurf eines bürgerl. Gesetzbuches, § 788, S. 165). Die Aufstellung
des Fenstergerichts war nun gewiss die Herstellung eines gefährdenden
Zustandes, zumal an jener Stelle an der es angebracht wurde, da dort die
Bewohner des Hauses und die sie Besuchenden ungehindert ausund eingehen
konnten, ja daran vorübergehen mussten

Sonach fragt es sich weiterhin, ob dem Beklagten ein Verschulden bezüglich
der Aufstellung des Fenstergerichts und der Unterlassung der besondern die
Gefahr abwendenden Vorkehren szur Last falle; und zwar steht, da Vorsatz,
auch ein blosser Gefährdungsvorsatz, ausgeschlossen erscheint, nur
Fahrlässigkeit in Frage. Es ist dies zu besahen Denn einmal ergiebt sich
aus den Akten, speziell aus dem vom Bezirksgericht Brugg aufgenommenen
Augenscheinsprotokoll, dass sich das Fenstergericht, wie oben bemerkt,
an einer Stelle des Hauses des Beklagten befunden hatte, wo die Bewohner
desselben, sowie die Personen, welche mit diesen verkehrten, freien,
ungehinderten Zutritt hatten. Sodann ist durch die Aussagen mehrerer
oZeugen nachgewiesen, dass der baufällige Zustand des Fenstergerichts
augenscheinlich war, und es genügen schon diese beiden Umstände zur
Annahme einer Fahrlässigkeit des -Beklagten. Dazu kommt endlich noch
der Umstand, dass nach der Feststellung des Strafrichters Frau Poletti
den Beklagten einige Wochen vor dem Unfall gewarnt hat. Endlich aber
erscheint dieses Verschulden des Beklagten auch als ursächliche Bedingung
des eingetretenen Schadens-, so dass sämtliche Voraussetzungen der
sDeliktsklage vorhanden sind und die Klage grundsätzlich gingeheissen
werden muss. Alsdann braucht nicht geprüft zu werben, ob tauch Art. 67
O.:lli. zutreffe.

5. Was nun das Quantitaiiv des dem Kläger zuzusprechenden Schadenersatzes
betrifft, so hat die Vorinstanz zunächst anbelangend den Anspruch wegen
dauernder Verminderung der Erwerbs-V. Obligaiionenrecht. N° 26. 213

fähigkeit ausgeführt: Von den von den Erperten angenommenen 42 U/Ü
Verminderung seien 81/2 0/0, die für die Entstellung und Verstümmelung
durch die Narben angesetzt sind, in Abzug zu Bringen, da durchaus nicht
dargethan und auch nicht wahrscheinlich sei, dass diese Narben das
Fortkommen des Knaben Horlacher erschweren. Abgesehen davon, ob dieser
Abzug nicht schon aus einem andern Grunde wegen eines Mitverschuldens
des Knaben Horlacher oder seiner Mutter sich rechtfertigt, entspricht
die Annahme der Vorinftanz der Aktenlage und einer richtigen rechtlichen
Würdigung derselben, so dass ihr beizupflichten ist. Weiter führt die
Vorinstanz aus: Der vom Kläger angenommene Jahresverdienst von 900
Fr. sei nicht zu hoch, so dass ein jährlicher Ausfall von 301 Fr. 50
Cis anzunehmen sei. Dabei sei aber nicht ausser acht zu lassen,
dass der volle Verdienst für den Knaben Horlacher nicht vor dem
18. Altersjahre beginne und daher zu berechnen sei, welches Kapital
im Juli 1894 (dem Zeitpunkt der Betreibung und daher der Verzinsung)
in eine Rentenanstalt eingelegt, nach 10 Jahren eine jährliche Rente
von 301 Fr. 50 Ets. verschaffen würde; als solches Kapital ergehe nach
der Basis für 100 Fr. Rente 1580 Fr. Kapital, für 301 Fr. 50 Cis. 4703
Fr. 40 Ets. Die Vorinstanz hat jedoch diese Summe auf 3000 Fr. reduziert,
einmal, weil das Lebensalter des Knaben Horlacher unsicher sei, sodann
und namentlich aber auch deshalb, weil der Unfall nicht vom Beklagten
allein derschuldet sei, sondern der Mutter Horlacher ein ganz erhebliches
Mitverschulden, bestehend in mangelnder Aufsicht, zur Last gelegt werden
müsse. Der erstere dieser Reduktionsgründe nun erscheint ohne weiteres
als richtig. Zum zweiten Grunde ist zu bemerken: Ein Verschulden des
Knaben Horlacher selbst, der ja bezüglich dieses Anspruchs materiell
als Partei anzusehen ist, kann, entgegen den Ausführungen des Beklagten,
nicht angenommen werden; denn er war zur Zeit des Unfalls Unzweifelhaft
noch unzurechnungsund daher auch schuldunfähig Dagegen ist durch die
Akten nachgewiesen, dass der Mutter ein ganz bedeutendes Mitverschulden
zur Last fällt, indem sie ihren Knaben gänzlich ungenügend beaufsichtigte
und an den das Fenstergericht tragenden Steinen herummanipulieren liess,
ohne einen Blick auf ihn zu werfen, obschon ihr die Baufälligkeit des
Fenstergerichtes und die drohende Gefahr

214 Givilrechtspflege .

augenscheinlich sein mussten. Nicht dagegen könnte ein Mitverschulden
schon darin erblickt werden, das; sie überhaupt in jenen Garten
getreten, wie der Betlagte meint; denn Unzweiselhaft war es nicht
das erste Mal, dasz sie das that, und hat der Beklagte dieses
Betreten immer geduldet. Zu um so grösserer Achtsamkeit war sie
dann aber. verpflichten Dieses Verschulden der Mutter nun ist bei
der Ausmessung des Schadenersatzes in Anrechnung zu bringen, analog
der Praxis, wonach bei der Schadenersatzklage der Hinterlassenen wegen
Tötung ihres Versorgers auch das Selbstbezw. Mitverschulden des letztern
berücksichtigt wird. Es folgt dies daraus, dass das Verschulden der
Mutter ein weiteres, zum Verschulden des Beklagten hinzukommendes,
kausales Moment für den Eintritt des Unfalles bildet, die Schuld des
Beklagten somit nicht die alleinige rechtlich in Betracht kommende
Ursache des Unfalls ist. Dazu kommt, dass nach Art. 61 O.-R. derjenige,
der rechtlich verpflichtet isf, die häusliche Aufsicht über eine Person zu
führen und das trifft in casu für die Mutter Horlacher ohne Zweifel zu -
für den von dieser Person verursachten Schaden haftet; diesem Rechtssatz
aber liegt der Gedanke zu Grunde, dass der Mangel der Beaufsichtigung,
ein Verschulden in dieser Beziehung, als hauptsächlichstes kausales Moment
für den Eintritt des Schadens angesehen wird, und aus diesem Grundgedanken
folgt, dass das Verschulden des zur Aufsicht Verpflichteten auch dann
von rechtlicher Bedeutung sein muss, wenn sich dasselbe als Mitschuld
bei Verursachung eines Schadens darstellt. Für diese Anrechnung des
Mitverschuldens der Eltern bezw. der Mutter spricht endlich noch der
rein praktische Gesichtspunkt, dass es in erster Linie die Eltern sind,
welchen die zu zahlende Entschädigung, wenigstens mittelbar, zu gut kommt
(vgl. Revue des Bundescivilrechts IV, Nr. 46). In Anbetracht dieses ganz
erheblichen Mitverschuldens der Mutter Horlacher nun rechtfertigt sich,
noch unter den von der Vorinstanz festgesetzten Betrag zu gehen und den
Beklagten aus dem Titel verminderte Erwerbsfähigkeit zur Bezahlung von
2500 Fr. zu verpflichten; diese Summe ist, in Übereinstimmung mit dem
angefochtenen Urteil, zu 5 Osz seit 9. Juli 1894 zu verzinsen.

8. Die Forderung von 1500 Fr. für Heilungskosten ze, ist
von der Vorinstanz als übersetzt befunden worden, weil das
Kost-V. Obligationenrecht. N° 26. 215

gelb für den Aufenthalt in der Anstalt Biberstein als zu hoch und
als tarifwidrig zu bezeichnen sei, und diese Ausführung entspricht der
Aktenlage. Der nach Abzug dieser Überforderung ver- bleibende Betrag von
944 Fr. 50 Ets. ist mit der Vorinstanz in Anbetracht des oben besprochenen
Mitverschuldens der Mutter Horlacher aus 900 Fr. zu reduzieren, wobei
es bei den Bestimrgungen des Vorderrichters betreffend Verzinsung sein
Bewertden at.

7. Der Vorbehalt der Nachklage dagegen kann nicht gutgeheissen
werden. Es mag dahingestellt bleiben, ob ein derartiger nach Analogie der
Bestimmungen der Haftpflichtgefetze gedachter Vorbehalt nach dem Sinne
und Geiste der Art. 50 ff. O.-R. Überhaupt zulässig ist. Jedenfalls
wäre Voraussetzung eines solchen Vorbehaltes der Umstand, dass eine
gewisse Wahrscheinlichkeit für den Eintritt einer spätern Verschlimmerung
vorläge. Diese Voraussetzung ist in casu nicht gegeben; denn der Vorbehalt
ist lediglich verlangt für eventuell später auftretende Nervenoder
Geistes kra1:kheit, und hierüber ein Urteil abgeben zu können, erklären
die Experten als unmöglich

Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargan vom 23. Dezember 1897
wird in Abweifung der Berufung des Klägers und teilweiser Gutheissung
der Berufung des Beklagten dahin abgeändert, dass die dem Kläger unter
dem Titel Entschädigung für Minderung der Erwerbssähigkeit zu zahlende
Summe auf 2500 Fr. reduziert und der Nachklagevorbehalt abgewiesen
wird; im übrigen wird das angefochtene Urteil in allen Teilen (Hauptund
Neben...pun'ften) bestätigt