Urteilskopf

139 V 335

43. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Sozialversicherungen gegen M. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) 8C_109/2013 vom 8. Juli 2013

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Sachverhalt ab Seite 336

BGE 139 V 335 S. 336

Der kosovarische Staatsangehörige M., geb. 1963, wohnhaft in der Schweiz, ist verheiratet und Vater von sechs Kindern (geb. 1986, 1987, 1990, 1992, 1994 und 1994), die in Kosovo leben. Die IV-Stelle des Kantons Aargau (nachfolgend: IV-Stelle) sprach ihm mit Verfügung vom 12. Juli 2011 rückwirkend ab 1. August 2009 eine Dreiviertelsrente auf der Grundlage einer Invalidität von 67 % zu. Kinderrenten wurden keine zugesprochen. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 13. Dezember 2012 in
BGE 139 V 335 S. 337

Bezug auf den Anspruch auf Kinderrenten für die 1992 und 1994 geborenen Kinder gut und wies die Verwaltung an, M. Kinderrenten zuzusprechen. Das Bundesgericht weist die vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) erhobene Beschwerde ab. (Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Gemäss Art. 35 Abs. 1
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 35 Kinderrente - 1 Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente zusteht, haben für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung beanspruchen könnte, Anspruch auf eine Kinderrente.
1    Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente zusteht, haben für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung beanspruchen könnte, Anspruch auf eine Kinderrente.
2    ...224
3    Für Pflegekinder, die erst nach Eintritt der Invalidität in Pflege genommen werden, besteht kein Anspruch auf Kinderrente, es sei denn, es handle sich um Kinder des andern Ehegatten.225
4    Die Kinderrente wird wie die Rente ausbezahlt, zu der sie gehört. Vorbehalten bleiben die Bestimmungen über die zweckgemässe Verwendung (Art. 20 ATSG226) und abweichende zivilrichterliche Anordnungen. Der Bundesrat kann die Auszahlung für Sonderfälle in Abweichung von Artikel 20 ATSG regeln, namentlich für Kinder aus getrennter oder geschiedener Ehe.227
IVG haben Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente zusteht, für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung beanspruchen könnte, Anspruch auf eine Kinderrente. Diese beträgt 40 % der dem massgebenden durchschnittlichen Jahreseinkommen entsprechenden Invalidenrente, wobei die gleichen Berechnungsregeln gelten wie für die jeweilige Invalidenrente (Art. 38
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 38 - 1 Die Kinderrente beträgt 40 Prozent der dem massgebenden durchschnittlichen Jahreseinkommen entsprechenden Invalidenrente.238 Haben beide Elternteile einen Anspruch auf Kinderrente, so sind die beiden Kinderrenten zu kürzen, soweit ihre Summe 60 Prozent der maximalen Invalidenrente übersteigt. Für die Durchführung der Kürzung ist Artikel 35 AHVG239 sinngemäss anwendbar.240
1    Die Kinderrente beträgt 40 Prozent der dem massgebenden durchschnittlichen Jahreseinkommen entsprechenden Invalidenrente.238 Haben beide Elternteile einen Anspruch auf Kinderrente, so sind die beiden Kinderrenten zu kürzen, soweit ihre Summe 60 Prozent der maximalen Invalidenrente übersteigt. Für die Durchführung der Kürzung ist Artikel 35 AHVG239 sinngemäss anwendbar.240
2    Es gelten die gleichen Berechnungsregeln wie für die jeweilige Invalidenrente.
IVG). Nach Art. 6 Abs. 2
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 6 Versicherungsmässige Voraussetzungen - 1 Schweizerische und ausländische Staatsangehörige sowie Staatenlose haben Anspruch auf Leistungen gemäss den nachstehenden Bestimmungen. Artikel 39 bleibt vorbehalten.53
1    Schweizerische und ausländische Staatsangehörige sowie Staatenlose haben Anspruch auf Leistungen gemäss den nachstehenden Bestimmungen. Artikel 39 bleibt vorbehalten.53
1bis    Sieht ein von der Schweiz abgeschlossenes Sozialversicherungsabkommen die Leistungspflicht nur des einen Vertragsstaates vor, so besteht kein Anspruch auf eine Invalidenrente, wenn die von Schweizerinnen und Schweizern oder Angehörigen des Vertragsstaates in beiden Ländern zurückgelegten Versicherungszeiten nach der Zusammenrechnung einen Rentenanspruch nach dem Recht des andern Vertragsstaates begründen.54
2    Ausländische Staatsangehörige sind, vorbehältlich Artikel 9 Absatz 3, nur anspruchsberechtigt, solange sie ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 13 ATSG55) in der Schweiz haben und sofern sie bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet oder sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten haben. Für im Ausland wohnhafte Angehörige dieser Personen werden keine Leistungen gewährt.56
3    Bei Personen, die mehrere sich ablösende Staatsangehörigkeiten besessen haben, ist für die Leistungsberechtigung die Staatsangehörigkeit während des Leistungsbezugs massgebend.57
IVG werden für im Ausland wohnhafte Angehörige von ausländischen Rentenberechtigten keine Leistungen gewährt. Abweichende staatsvertragliche Regelungen bleiben vorbehalten.
3.2 Streitig und zu prüfen ist, ob sich der in der Schweiz lebende Beschwerdegegner als kosovarischer Staatsangehöriger und Hauptrentenberechtigter bezüglich des Anspruchs auf Kinderrenten für seine in Kosovo lebenden Kinder auf das Abkommen vom 8. Juni 1962 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der (ehemaligen) Föderativen Volksrepublik Jugoslawien über Sozialversicherung (SR 0.831.109.818.1 [in Kraft getreten am 1. März 1964]; nachfolgend: Sozialversicherungsabkommen) berufen kann. Während die Vorinstanz dies bejaht, sprechen sich BSV und IV-Stelle dagegen aus.
4. (...)

4.2 Im Grundsatzurteil BGE 139 V 263 hat das Bundesgericht erkannt, dass die ehemals serbische Provinz und heutige Republik Kosovo mit ihrer Sezession eine - sowohl in territorialer als auch (vertrags-)rechtlicher Hinsicht - völkerrechtlich wirksame Änderung herbeigeführt hat und die Nichtweiteranwendung des Sozialversicherungsabkommens durch die Schweiz auf die neue Gebietskörperschaft ab 1. April 2010 rechtmässig ist (E. 2-8).
5.

5.1 Im Weiteren wurde in BGE 139 V 263 erwogen, aus der Tatsache, dass die Republik Kosovo die multiple Staatsbürgerschaft
BGE 139 V 335 S. 338

zulasse, könne nicht abgeleitet werden, dass kosovarische Staatsangehörige ohne weiteres kosovarisch-serbische Doppelbürger seien. Ein Automatismus oder der Grundsatz, dass Personen aus dem Kosovo neben der Staatsangehörigkeit des Kosovos auch die serbische Staatsangehörigkeit besässen, sei zu verneinen. Dennoch könne das Vorliegen einer kosovarisch-serbischen Doppelbürgerschaft aber nicht ausgeschlossen werden. Eine solche sei indessen nicht nur überzeugend zu behaupten, sondern rechtsgenüglich zu belegen (E. 9-12, insb. E. 12.2; vgl. auch Mitteilungen des BSV an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen Nr. 326 vom 20. Februar 2013).
(...)

6.

6.1 Die Nichtweiterführung des Sozialversicherungsabkommens mit Kosovo hat zur Folge, dass Staatsangehörige des Kosovos künftig nicht mehr die Rechtsstellung als Vertragsausländerinnen und -ausländer innehaben. Sie gelten neu als Nichtvertragsausländerinnen und -ausländer. Dieser Statuswechsel hat einerseits Auswirkungen auf die Anspruchsvoraussetzungen (versicherungsmässige Voraussetzungen) und führt anderseits dazu, dass Renten der Invalidenversicherung von Staatsangehörigen des Kosovos, die für den Zeitraum nach dem 31. März 2010 zugesprochen werden, gemäss Art. 6 Abs. 2
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 6 Versicherungsmässige Voraussetzungen - 1 Schweizerische und ausländische Staatsangehörige sowie Staatenlose haben Anspruch auf Leistungen gemäss den nachstehenden Bestimmungen. Artikel 39 bleibt vorbehalten.53
1    Schweizerische und ausländische Staatsangehörige sowie Staatenlose haben Anspruch auf Leistungen gemäss den nachstehenden Bestimmungen. Artikel 39 bleibt vorbehalten.53
1bis    Sieht ein von der Schweiz abgeschlossenes Sozialversicherungsabkommen die Leistungspflicht nur des einen Vertragsstaates vor, so besteht kein Anspruch auf eine Invalidenrente, wenn die von Schweizerinnen und Schweizern oder Angehörigen des Vertragsstaates in beiden Ländern zurückgelegten Versicherungszeiten nach der Zusammenrechnung einen Rentenanspruch nach dem Recht des andern Vertragsstaates begründen.54
2    Ausländische Staatsangehörige sind, vorbehältlich Artikel 9 Absatz 3, nur anspruchsberechtigt, solange sie ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 13 ATSG55) in der Schweiz haben und sofern sie bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet oder sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten haben. Für im Ausland wohnhafte Angehörige dieser Personen werden keine Leistungen gewährt.56
3    Bei Personen, die mehrere sich ablösende Staatsangehörigkeiten besessen haben, ist für die Leistungsberechtigung die Staatsangehörigkeit während des Leistungsbezugs massgebend.57
Satz 2 IVG nicht mehr ins Ausland exportierbar sind. Sie werden nurmehr innerhalb der Schweiz gewährt. Die laufenden Renten geniessen demgegenüber gemäss Art. 25 des Sozialversicherungsabkommens den Besitzstand.
6.2 Die IV-Stelle hat dem Beschwerdegegner mit Verfügung vom 12. Juli 2011 rückwirkend per 1. August 2009 eine Dreiviertelsrente zugesprochen. Die versicherungsmässigen Voraussetzungen für die Ausrichtung einer Rente waren mithin ab Anfang August 2009 gegeben. In zeitlicher Hinsicht sind regelmässig diejenigen Rechtssätze massgebend, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 130 V 445 E. 1.2.1 S. 447; BGE 127 V 466 E. 1 S. 467). Dieser auch im vorliegenden Fall geltende Grundsatz führt zum Schluss, dass im Moment der Entstehung des Rentenanspruchs des Beschwerdegegners das Sozialversicherungsabkommen für ihn noch Gültigkeit besass. Keine relevante Bedeutung beizumessen ist im betreffenden Zusammenhang demgegenüber dem Zeitpunkt des Verfügungserlasses, haftet diesem doch stets eine gewisse Willkür an bzw. hängt er stark von nicht oder nur durch die
BGE 139 V 335 S. 339

Verwaltung beeinflussbaren Faktoren ab. Soweit dem IV-Rundschreiben des BSV Nr. 290 vom 29. Januar 2010 in Bezug auf den zeitlich relevanten Anknüpfungspunkt etwas Gegenteiliges zu entnehmen ist, kann darauf nicht abgestellt werden. Findet das Sozialversicherungsabkommen auf den Beschwerdegegner nach dem Gesagten intertemporalrechtlich dennoch Anwendung, woraus die Zulässigkeit eines Exports von ihm zustehenden Kinderrenten in den Kosovo resultiert, erweist sich der vorinstanzliche Entscheid im Ergebnis als rechtens.