Urteilskopf

138 III 261

40. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. E. gegen F. (Beschwerde in Zivilsachen) 4A_720/2011 vom 15. März 2012

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Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 262

BGE 138 III 261 S. 262

Mit Strafurteil vom 3. Oktober 2008 verurteilte das Landgericht Paola (Italien) F. (Beschwerdegegner) wegen sexueller Übergriffe auf seinen Sohn zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren, sprach seiner Exfrau E. (Beschwerdeführerin), die als Privatklägerin aufgetreten war, Schadenersatz in der Höhe von 50'000 Euro zu und erklärte diese Summe für sofort vollstreckbar. Der Beschwerdegegner hat gegen dieses Urteil appelliert. Während der Einzelrichter des Kantonsgerichts Zug auf Antrag der Beschwerdeführerin das Urteil des Landgerichts Paola gemäss Art. 26 ff. und 31 ff. des Übereinkommens vom 16. September 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (aLugÜ; AS 1991 2436) hinsichtlich des zugesprochenen Schadenersatzes von 50'000 Euro und der Parteientschädigung von 1'500 Euro anerkannte und für vollstreckbar erklärte, verweigerte das Obergericht des Kantons Zug die Anerkennung gestützt auf Art. 27 Ziff. 3 aLugÜ. Das Bundesgericht heisst die dagegen erhobene Beschwerde in Zivilsachen teilweise gut und weist die Sache an das Obergericht zurück, damit dieses die weiteren vom Beschwerdegegner gegen die Anerkennung erhobenen Einwände prüft. (Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Die Vorinstanz erkannte unter Hinweis auf die Literatur, Art. 27 Ziff. 3 aLugÜ setze nicht voraus, dass die inländische Entscheidung in den Anwendungsbereich des Übereinkommens falle. Er setze weder eine Identität des Streitgegenstandes noch einen Rechtskraftkonflikt voraus; auch Widersprüche in der an der Rechtskraft nicht teilnehmenden Begründung könnten ausreichen. Es genüge, wenn die Entscheidungen Rechtsfolgen hätten, die sich gegenseitig ausschlössen. Auch auf die zeitliche Reihenfolge komme es nicht an (FRIDOLIN WALTHER, in: Kommentar zum Lugano-Übereinkommen [LugÜ], Dasser/Oberhammer [Hrsg.], 2. Aufl. 2011, N. 80 ff. zu Art. 34 LugÜ). Die Justizkommission des Obergerichts des Kantons Zug habe mit Urteil
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vom 2. Juni 1999 im Verfahren zwischen den Parteien betreffend vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsverfahren gemäss aArt. 145 ZGB gestützt auf ein Gutachten festgehalten, es sei äusserst unwahrscheinlich, dass der Beschwerdegegner sein Kind missbraucht habe. Das Gericht habe in der Folge das erstinstanzliche Urteil bestätigt, in welchem dem Beschwerdegegner ein unbegleitetes Besuchs- und - wie schliesslich auch im Einvernehmen mit der Beschwerdeführerin im Scheidungsurteil des Kantonsgerichts Zug vom 14. November 2001 - ein unbegleitetes Ferienrecht eingeräumt worden sei. Diese beiden Entscheide stünden dem Urteil des Landgerichts Paola diametral entgegen, weshalb dieses mit in der Schweiz ergangenen Entscheidungen unvereinbar sei. Aus diesem Grunde versagte die Vorinstanz dem Urteil des Landgerichts Paola die Anerkennung in Anwendung von Art. 27 Ziff. 3 aLugÜ, was die Beschwerdeführerin vor Bundesgericht beanstandet.
1.1 Gemäss Art. 27 Ziff. 3 aLugÜ, der im Wesentlichen Art. 34 Nr. 3 LugÜ (SR 0.275.12) entspricht, wird eine Entscheidung nicht anerkannt, wenn die Entscheidung mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien in dem Staat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist. Art. 27 Ziff. 3 aLugÜ ist restriktiv auszulegen (DONZALLAZ, La Convention de Lugano, Bd. II, 1997, S. 476 Rz. 2995; DOMEJ/OBERHAMMER, in: Lugano-Übereinkommen [LugÜ] zum internationalen Zivilverfahrensrecht, Schnyder [Hrsg.], 2011, N. 58 zu Art. 34 LugÜ; BUCHER, in: Commentaire romand, Loi sur le droit international privé/Convention de Lugano, 2011, N. 48 zu Art. 34 LugÜ). Eine Unvereinbarkeit im Sinne dieser Vorschrift ist gegeben, wenn die betreffenden Entscheidungen Rechtsfolgen haben, die sich gegenseitig ausschliessen (Urteil des EuGH vom 4. Februar 1988 145/86 Hoffmann gegen Krieg, Slg. 1988 S. 645 Randnr. 22). Die Unvereinbarkeit muss sich bei den Wirkungen der gerichtlichen Entscheidungen zeigen (Urteil des EuGH vom 6. Juni 2002 C-80/00 Italian Leather, Slg. 2002 I-4995 Randnr. 44).
1.2 Die in einem Vertragsstaat ergangene gerichtliche Entscheidung, durch die die Verurteilung zur Erfüllung eines Vertrags ausgesprochen wird, kann im ersuchten Staat abgelehnt werden, wenn eine Entscheidung eines Gerichts dieses Staates vorliegt, die die Unwirksamkeit oder die Auflösung desselben Vertrags ausspricht (Urteil des EuGH vom 8. Dezember 1987 144/86 Gubisch Maschinenfabrik gegen Palumbo, Slg. 1987 S. 4861 Randnr. 18). Der Bestand des Vertrages ist mit Bezug auf die Leistungsklage eine an der Rechtskraft

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des Leistungsurteils nicht teilnehmende Vorfrage. Entsprechend wird in der Lehre festgehalten, auch Widersprüche in den an der Rechtskraft nicht teilnehmenden Entscheidgründen könnten für eine Anwendung von Art. 27 Ziff. 3 aLugÜ genügen (WALTHER, a.a.O., N. 81 zu Art. 34 LugÜ; GEIMER/SCHÜTZE, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl., München 2010, N. 168 zu Art. 34 EuGVVO). Die Formulierung, die Anwendung von Art. 27 Ziff. 3 aLugÜ setze keinen Rechtskraftkonflikt voraus (vgl. WALTHER, a.a.O., N. 81 zu Art. 34 LugÜ), ist, wie die Argumentation der Vorinstanz zeigt, missverständlich. Das vom EuGH genannte Beispiel setzt ein im anerkennenden Staat ergangenes Urteil voraus, das die Unwirksamkeit oder die Auflösung des Vertrags, aus dem auf Leistung geklagt wird, ausspricht (Urteil Gubisch Maschinenfabrik gegen Palumbo, Randnr. 18). Dieses Urteil ist der Rechtskraft zugänglich, so dass ein Konflikt zwischen einer Vorfrage des zu anerkennenden Entscheides mit der Rechtskraftwirkung eines im anerkennenden Staat ergangenen Urteils besteht. Dagegen genügt zur Anerkennungsversagung nicht, dass die Rechtsfolgen (oder eine Vorfragebeurteilung) der zu anerkennenden Entscheidung lediglich mit einer nicht in Rechtskraft erwachsenen Vorfragebeurteilung des inländischen Urteils unvereinbar sind, solange nicht auch dessen Rechtsfolgen von der Unvereinbarkeit erfasst werden (DOMEJ/OBERHAMMER, a.a.O., N. 60 zu Art. 34 LugÜ; vgl. auch SCHLOSSER, EU-Zivilprozessrecht, 3. Aufl., München 2009, N. 22 f. zu Art. 34-36 EuGVVO). Verlangt wird vielmehr, dass die ausländische Entscheidung entweder denselben Streitgegenstand abweichend entscheide oder aber auf Prämissen aufbaut, die mit der materiellen Rechtskraft (Urteil Gubisch Maschinenfabrik gegen Palumbo, Randnr. 18) oder der Gestaltungswirkung eines inländischen Urteils (Urteil Hoffmann gegen Krieg ) unvereinbar sind (SCHLOSSER, a.a.O., N. 22 zu Art. 34-36 EuGVVO).
1.3 Die in der Schweiz ergangenen Urteile, zu denen die Vorinstanz einen Widerspruch erblickt, regeln die Ausgestaltung des Besuchs- und Ferienrechts, während das zu anerkennende der Beschwerdeführerin Schadenersatz zuspricht. Dass prozessrelevante Vorfragen wie der Vorwurf sexueller Übergriffe Einfluss auf das Ergebnis des Verfahrens haben, liegt in ihrer Natur. Die Regelung des Besuchsrechts gemäss schweizerischem Urteil schliesst aber die Zusprechung von Schadenersatz gemäss italienischem Urteil nicht aus. Es war nicht das Ziel der in der Schweiz ergangenen Entscheide, zwischen den Parteien die Frage, ob es zu sexuellen Übergriffen des Beschwerdegegners auf seinen Sohn gekommen ist, abschliessend zu klären. Die
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Entscheide im Scheidungsverfahren stünden auch in der Schweiz einer Strafverfolgung oder der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen nicht entgegen. Dass solche je Gegenstand der in der Schweiz ergangenen Urteile waren, ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Die Differenzen zu dem zu anerkennenden Urteil betreffen somit ausschliesslich eine Vorfrage, über die in keinem der Urteile rechtskräftig entschieden worden ist, und damit nicht die Rechtsfolgen. Sie führen nicht zu unvereinbaren Wirkungen (DOMEJ/OBERHAMMER, a.a.O., N. 60 zu Art. 34 LugÜ; SCHLOSSER, a.a.O., N. 22 f. zu Art. 34-36 EuGVVO).