Urteilskopf

135 V 94

13. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen GastroSocial Ausgleichskasse (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) 8C_449/2008 vom 16. Dezember 2008

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Sachverhalt ab Seite 95

BGE 135 V 94 S. 95

A. A., geboren 1972, stammt aus der Volksrepublik China. Er reiste am 29. September 2002 in die Schweiz ein und ersuchte um Asyl. Am 11. April 2006 zog das Bundesamt für Migration (BFM) seine Verfügung vom 30. Juni 2004 in Wiedererwägung und nahm A. als Flüchtling vorläufig auf. A. war vom 1. November 2005 bis 31. März 2007 als Mitarbeiter im Restaurant K. angestellt. Am 4. Dezember 2006 bewilligte das BFM seiner Ehefrau und seinen beiden Söhnen (geboren 1997 und 2000) die Einreise in die Schweiz zwecks Familienvereinigung. Diese erfolgte am 19. Januar 2007. Mit Verfügung vom 5. November 2007 lehnte die GastroSocial Ausgleichskasse seinen Anspruch auf Kinderzulagen für die Zeit vom 1. November 2005 bis 18. Januar 2007 ab, sprach ihm hingegen vom 19. Januar bis 31. März 2007 Kinderzulagen zu.
B. Mit Entscheid vom 23. April 2008 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die hiegegen erhobene Beschwerde ab.
C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Ausgleichskasse sei zu verpflichten, ihm die Kinderzulagen auch für die Zeit vom 1. November 2005 bis 18. Januar 2007 zuzüglich Verzugszins auszurichten. Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege. Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das BFM beantragt die teilweise Gutheissung der Beschwerde. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit a
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 95 Schweizerisches Recht - Mit der Beschwerde kann die Verletzung gerügt werden von:
a  Bundesrecht;
b  Völkerrecht;
c  kantonalen verfassungsmässigen Rechten;
d  kantonalen Bestimmungen über die politische Stimmberechtigung der Bürger und Bürgerinnen und über Volkswahlen und -abstimmungen;
e  interkantonalem Recht.
BGG). Soweit sich der angefochtene Entscheid auf Quellen des kantonalen Rechts stützt, welche nicht in Art. 95 lit. c
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 95 Schweizerisches Recht - Mit der Beschwerde kann die Verletzung gerügt werden von:
a  Bundesrecht;
b  Völkerrecht;
c  kantonalen verfassungsmässigen Rechten;
d  kantonalen Bestimmungen über die politische Stimmberechtigung der Bürger und Bürgerinnen und über Volkswahlen und -abstimmungen;
e  interkantonalem Recht.
-e BGG genannt werden, beschränkt sich die Überprüfung durch das Bundesgericht demgegenüber thematisch auf die erhobenen und begründeten Rügen (Art. 106 Abs. 2
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 106 Rechtsanwendung - 1 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an.
1    Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an.
2    Es prüft die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist.
BGG) und inhaltlich auf die Frage, ob die Anwendung des kantonalen Rechts zu einer Bundesrechtswidrigkeit führt. Im Vordergrund steht dabei eine Verletzung verfassungsmässiger Rechte, insbesondere des Willkürverbots nach Art. 9
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 9 Schutz vor Willkür und Wahrung von Treu und Glauben - Jede Person hat Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden.
BV. Was die Feststellung des Sachverhalts anbelangt, kann gemäss Art. 97 Abs. 1
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 97 Unrichtige Feststellung des Sachverhalts - 1 Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann.
1    Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann.
2    Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung, so kann jede unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden.86
BGG nur gerügt werden, diese sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung nach Art. 95
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 95 Schweizerisches Recht - Mit der Beschwerde kann die Verletzung gerügt werden von:
a  Bundesrecht;
b  Völkerrecht;
c  kantonalen verfassungsmässigen Rechten;
d  kantonalen Bestimmungen über die politische Stimmberechtigung der Bürger und Bürgerinnen und über Volkswahlen und -abstimmungen;
e  interkantonalem Recht.
BGG (BGE 133 I 201 E. 1 S. 203 mit Hinweisen).
BGE 135 V 94 S. 96

2. Die Vorinstanz bestätigte die Ablehnung des Anspruchs auf Kinderzulagen durch die Ausgleichskasse, da der Beschwerdeführer als Staatsbürger der Volksrepublik China nach Art. 1 Abs. 5 des kantonalen Gesetzes vom 5. März 1961 über Kinderzulagen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (KZG; BSG 832.71) nur dann Anspruch auf Kinderzulagen habe, wenn er mit seinen Kindern in der Schweiz wohne oder sich auf ein Sozialversicherungsabkommen berufen könne. Art. 84
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 84 Kinderzulagen - Kinderzulagen für im Ausland lebende Kinder von Asylsuchenden werden während des Asylverfahrens zurückbehalten. Sie werden ausbezahlt, wenn die asylsuchende Person als Flüchtling anerkannt oder nach Artikel 83 Absätze 3 und 4 AIG233 vorläufig aufgenommen wird.
des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG; SR 142.31) stelle keine Anspruchsgrundlage dar, sondern regle lediglich die Auszahlungsmodalitäten resp. die Fälligkeit; ob ein Anspruch bestehe, richte sich aber nach kantonalem Recht. Vor Bundesgericht beruft sich der Beschwerdeführer nicht mehr auf Art. 84
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 84 Kinderzulagen - Kinderzulagen für im Ausland lebende Kinder von Asylsuchenden werden während des Asylverfahrens zurückbehalten. Sie werden ausbezahlt, wenn die asylsuchende Person als Flüchtling anerkannt oder nach Artikel 83 Absätze 3 und 4 AIG233 vorläufig aufgenommen wird.
AsylG. Er rügt hingegen, die Ausgleichskasse hätte ihm angesichts seiner Rechtsstellung als anerkannter Flüchtling Kinderzulagen wie einem schweizerischen oder privilegierten ausländischen Arbeitnehmer zusprechen müssen und die kantonale Regelung missachte das verfassungsmässige Gebot der Rechtsgleichheit sowie Völkerrecht, indem sie die besondere Rechtsstellung der Flüchtlinge nicht berücksichtige.
3. Art. 59
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 59 Wirkung - Personen, denen die Schweiz Asyl gewährt hat oder welche die Flüchtlingseigenschaft erfüllen, gelten gegenüber allen eidgenössischen und kantonalen Behörden als Flüchtlinge im Sinne dieses Gesetzes sowie des Abkommens vom 28. Juli 1951160 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge.
AsylG besagt, dass Personen, denen die Schweiz Asyl gewährt hat oder die als Flüchtlinge vorläufig aufgenommen wurden, gegenüber allen eidgenössischen und kantonalen Behörden als Flüchtlinge im Sinne des Asylgesetzes sowie des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingskonvention; SR 0.142.30) gelten. Gemäss Art. 24 Ziff. 1 der Flüchtlingskonvention gewähren die vertragsschliessenden Staaten den auf ihrem Gebiet rechtmässig sich aufhaltenden Flüchtlingen die gleiche Behandlung wie Einheimischen mit Bezug u.a. auf die Entlöhnung mit Einschluss der Familienzulagen, die Bestandteil des Lohnes sind (lit. a), und auf die soziale Sicherheit, einschliesslich der gesetzlichen Bestimmungen über Familienlasten, sofern diese Leistungen nicht ausschliesslich aus öffentlichen Mitteln vorgesehen sind (lit. b). Nach der Rechtsprechung kommt eine Person erst dann in den vollen Genuss der erweiterten Konventionsrechte, wenn der Staat nach Massgabe seines nationalen Rechts sie als Flüchtling anerkannt hat; zu diesen Konventionsrechten gehören namentlich die Ausgestaltung der Fürsorge, der sozialen Sicherheit und der Arbeitsgesetzgebung nach Art. 23 und 24 der Flüchtlingskonvention (Entscheid des Eidg. Justiz- und Polizeidepartementes vom
BGE 135 V 94 S. 97

19. November 1998 E. 11, in: VPB 63/1999 Nr. 3 S. 34 mit Hinweisen).
4. Der Beschwerdeführer ist vorläufig aufgenommener Flüchtling und hat deshalb gegenüber allen kantonalen und Bundesbehörden dieselbe Rechtsstellung wie eine Person mit Schweizer Bürgerrecht (Art. 59
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 59 Wirkung - Personen, denen die Schweiz Asyl gewährt hat oder welche die Flüchtlingseigenschaft erfüllen, gelten gegenüber allen eidgenössischen und kantonalen Behörden als Flüchtlinge im Sinne dieses Gesetzes sowie des Abkommens vom 28. Juli 1951160 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge.
AsylG). Diese Gleichstellung gilt kraft internationalem Recht ausdrücklich auch für den hier strittigen Bereich der Familienzulagen (Art. 24 Ziff. 1 lit. a Flüchtlingskonvention; vgl. etwa zum Bereich der Krankenversicherung RKUV 2005 S. 25, K 22/04 und zum Bereich der Arbeitslosenversicherung ARV 1981 S. 53, C 162/79). Allerdings gilt sie nicht rückwirkend auf den Tag der Einreise in die Schweiz oder den Tag der Erfüllung des Flüchtlingsbegriffs, sondern erst mit der Anerkennung als Flüchtling durch die Behörden. Dies bedeutet, dass der Beschwerdeführer von den eidgenössischen und kantonalen Behörden seit Erlass der Verfügung vom 11. April 2006 wie eine Person mit Schweizer Bürgerrecht zu behandeln ist und auch dieselben Ansprüche wie eine Person mit Schweizer Bürgerrecht hat. Abs. 5 von Art. 1 KZG ist somit auf ihn nicht anwendbar, und es ist unzulässig, wenn Verwaltung und Vorinstanz ihm für die Zeit vom 11. April 2006 bis 18. Januar 2007 Kinderzulagen absprechen, weil er eine ausländische Staatsbürgerschaft besitzt. Demnach sind die Verfügung vom 5. November 2007 sowie der kantonale Entscheid vom 23. April 2008 aufzuheben und die Sache ist an die Ausgleichskasse zurückzuweisen, damit sie den Anspruch des Beschwerdeführers auf Kinderzulagen ab 11. April 2006 prüfe, wie wenn dieser das Schweizer Bürgerrecht besitzen würde.