Urteilskopf

128 I 149

13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Bezirksanwaltschaft und Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) 1P.202/2002 vom 2. Mai 2002

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Sachverhalt ab Seite 150

BGE 128 I 149 S. 150

Die Bezirksanwaltschaft Zürich führt gegen X. ein Strafverfahren u.a. wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern und Drohung. Sie wirft ihm insbesondere vor, sich verschiedene Male an mehreren unter 16-jährigen Knaben vergangen zu haben und diesen für die geleisteten Dienste (gegenseitiges Onanieren, Oral- und Analverkehr) Geld und Haschisch gegeben zu haben. X. wurde am 22. Dezember 2000 verhaftet und am 25. Dezember 2000 in Untersuchungshaft gesetzt. Am 10. Juli 2001 bewilligte die zuständige Bezirksanwältin den vorzeitigen Strafantritt, widerrief diese Verfügung indessen tags darauf wieder, als bekannt wurde, dass X. versucht hatte, zwei Briefe an der Briefkontrolle vorbeizuschmuggeln. Am 29. Oktober 2001 bewilligte die Bezirksanwältin den vorzeitigen Strafantritt, wobei sie X. jeden Kontakt mit den
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Geschädigten untersagte. Am 7. März 2002 stellte X. ein Haftentlassungsgesuch, welches vom Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich am 14. März 2002 abgewiesen wurde. Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde im Sinne der Erwägungen ab.
Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Untersuchungshaft kann im Kanton Zürich (u.a.) angeordnet werden, wenn der Angeschuldigte eines Vergehens oder Verbrechens dringend verdächtig ist und die Gefahr besteht, dass er in Freiheit Spuren oder Beweismittel beseitigen, Dritte zu falschen Aussagen zu verleiten suchen oder die Abklärung des Sachverhaltes auf andere Weise gefährden könnte (§ 58 der Strafprozessordnung vom 4. Mai 1991, StPO). Liegt ausser dem allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachts Kollusionsgefahr vor, steht einer Inhaftierung auch unter dem Gesichtswinkel der persönlichen Freiheit von Art. 10 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 10 Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit - 1 Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. Die Todesstrafe ist verboten.
1    Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. Die Todesstrafe ist verboten.
2    Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.
3    Folter und jede andere Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung sind verboten.
BV grundsätzlich nichts entgegen. Der Beschwerdeführer bestreitet, dass Kollusionsgefahr vorliege und macht geltend, das Beschleunigungsgebot sei krass verletzt worden, weshalb er aus der Haft zu entlassen sei.
2.1 Kollusion bedeutet, dass sich der Angeschuldigte mit Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten ins Einvernehmen setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst. Die Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass ein Angeschuldigter die Freiheit dazu missbraucht, die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhaltes zu vereiteln oder zu gefährden. Dabei genügt nach der Rechtsprechung die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte nicht, um die Fortsetzung der Haft unter diesem Titel zu rechtfertigen, vielmehr müssen konkrete Indizien für eine solche Gefahr sprechen (BGE 123 I 31 E. 3c; BGE 117 Ia 257 E. 4b und c).
2.2 Nach Art. 5 Ziff. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 5 Recht auf Freiheit und Sicherheit - (1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a  rechtmässiger Freiheitsentzug nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;
b  rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug wegen Nichtbefolgung einer rechtmässigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung;
c  rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;
d  rechtmässiger Freiheitsentzug bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung vor die zuständige Behörde;
e  rechtmässiger Freiheitsentzug mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern;
f  rechtmässige Festnahme oder rechtmässiger Freiheitsentzug zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.
EMRK und Art. 31 Abs. 3
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 31 Freiheitsentzug - 1 Die Freiheit darf einer Person nur in den vom Gesetz selbst vorgesehenen Fällen und nur auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise entzogen werden.
1    Die Freiheit darf einer Person nur in den vom Gesetz selbst vorgesehenen Fällen und nur auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise entzogen werden.
2    Jede Person, der die Freiheit entzogen wird, hat Anspruch darauf, unverzüglich und in einer ihr verständlichen Sprache über die Gründe des Freiheitsentzugs und über ihre Rechte unterrichtet zu werden. Sie muss die Möglichkeit haben, ihre Rechte geltend zu machen. Sie hat insbesondere das Recht, ihre nächsten Angehörigen benachrichtigen zu lassen.
3    Jede Person, die in Untersuchungshaft genommen wird, hat Anspruch darauf, unverzüglich einer Richterin oder einem Richter vorgeführt zu werden; die Richterin oder der Richter entscheidet, ob die Person weiterhin in Haft gehalten oder freigelassen wird. Jede Person in Untersuchungshaft hat Anspruch auf ein Urteil innert angemessener Frist.
4    Jede Person, der die Freiheit nicht von einem Gericht entzogen wird, hat das Recht, jederzeit ein Gericht anzurufen. Dieses entscheidet so rasch wie möglich über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs.
Satz 2 BV darf eine an sich gerechtfertigte Untersuchungshaft die mutmassliche Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe nicht übersteigen (BGE 105 Ia 26 E. 4b mit Hinweisen).
2.2.1 Die Rüge, das Strafverfahren werde nicht mit der verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung geführt, ist im Haftprüfungsverfahren nur soweit zu beurteilen, als die Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft in Frage zu stellen und zu einer Haftentlassung zu führen.
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Dies ist nur der Fall, wenn sie besonders schwer wiegt und zudem die Strafverfolgungsbehörden, z.B. durch eine schleppende Ansetzung der Termine für die anstehenden Untersuchungshandlungen, erkennen lassen, dass sie nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, das Verfahren nunmehr mit der für Haftfälle verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung voranzutreiben und zum Abschluss zu bringen.
2.2.2 Ist die gerügte Verzögerung des Verfahrens weniger gravierend, kann offen bleiben, ob eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes vorliegt. Es genügt diesfalls, die zuständige Behörde zur besonders beförderlichen Weiterführung des Verfahrens anzuhalten und die Haft gegebenenfalls allein unter der Bedingung der Einhaltung bestimmter Fristen zu bestätigen. Ob eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes gegeben ist, kann in der Regel denn auch erst der Sachrichter unter der gebotenen Gesamtwürdigung (BGE 124 I 139 E. 2c) beurteilen, der auch darüber zu befinden hat, in welcher Weise - z.B. durch eine Strafreduktion - eine allfällige Verletzung des Beschleunigungsgebotes wieder gut zu machen ist.
3.

3.1 Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer schon aufgrund seiner weit gehenden Geständnisse (u.a.) dringend verdächtig ist, mehrere Knaben wiederholt missbraucht zu haben.
3.2 Kollusionsgefahr hat der Haftrichter im angefochtenen Entscheid angenommen, weil die Darstellung der umstrittenen Vorfälle durch den Beschwerdeführer in einigen zumindest für die Strafzumessung wesentlichen Punkten von derjenigen der Geschädigten abweiche, sodass er durchaus noch ein Interesse haben könne, auf deren Aussagen einzuwirken. Dass er nicht vor Kollusionshandlungen zurückschrecke, habe er bereits bewiesen, indem er versucht habe, Briefe an A. und B. an der Briefkontrolle der Bezirksanwältin vorbeizuschmuggeln. Vom Therapie-Zwischenbericht vom 25. Februar 2002, in welchem dem Beschwerdeführer bescheinigt wird, dass er sich heute "bewusst von den Beziehungen zu den jugendlichen Opfern" distanziere, zeigte sich der Haftrichter wenig überzeugt, da der Beschwerdeführer die Bezirksanwältin noch am 5. Dezember 2001 ersucht hatte, einem Teil der Opfer Briefe schreiben zu dürfen, da er an der Kontaktsperre sehr leide.
3.3 Der Beschwerdeführer wendet dagegen zwar insbesondere ein, er habe beim aktuellen Stand der Untersuchung gar keine Möglichkeit mehr, zu kolludieren, da die Untersuchung praktisch
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abgeschlossen sei. Es fehlten unbestrittenermassen nur noch das psychiatrische Gutachten und die Schlusseinvernahme. Sollten die jugendlichen Opfer bei diesem Stand des Verfahrens (unter seinem Einfluss) ihre Belastungen plötzlich zurückziehen, wäre dies völlig unglaubhaft und würde den Sachrichter mit Sicherheit nicht von seiner Unschuld überzeugen.
3.4 Für die Annahme von Kollusionsgefahr genügt es indessen bereits, dass - wie hier - konkret befürchtet werden muss, der Beschwerdeführer werde in Freiheit auf Opfer und Zeugen einwirken, um den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen. Ob dieses Unterfangen mehr oder weniger aussichtsreich ist, ist nicht entscheidend, da auch eine Gefährdung der Wahrheitsfindung genügt. Eine solche ist hier aufgrund der bei sexuellen Handlungen mit Kindern bestehenden besondern Beziehung zwischen Täter und Opfer zu bejahen. Der Haftrichter bemerkt in diesem Zusammenhang zudem zu Recht, dass zumindest eine Erschwerung und Verlängerung des Verfahrens eintreten könnte, wenn die Opfer ihre Belastungen unter dem Einfluss des Beschwerdeführers zurückzögen, da sie dann möglicherweise noch einmal befragt werden müssten. Der Haftrichter hat daher die Verfassung nicht verletzt, indem er Kollusionsgefahr annahm.
4.

4.1 Den Vorwurf der Verletzung des Beschleunigungsgebotes begründet der Beschwerdeführer damit, dass er bereits im März 2001 ein vollständiges Geständnis abgelegt habe, worauf die Bezirksanwältin am 11. Mai 2001 Dr. Arnuld Möller von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich mit seiner Begutachtung beauftragt habe. Am 5. Juli 2001 habe die letzte eigentliche Untersuchungshandlung - die Befragung von Zeugen und des Beschwerdeführers - stattgefunden. Da Dr. Möller bis zum September nichts von sich habe hören lassen, habe sich seine Verteidigerin mit ihm in Verbindung gesetzt und dabei die Zusicherung erhalten, er werde das Gutachten bis Ende Dezember 2001 fertigstellen. Am 20. Dezember 2001 habe Dr. Möller der Bezirksanwältin telefonisch mitgeteilt, er habe beim Aktenstudium festgestellt, dass ihm das Geschädigtenumfeld teilweise persönlich bekannt sei, weshalb er sich als befangen erachte und das Gutachten nicht erstellen könne. Die Bezirksanwältin habe daraufhin Frau Dr. Wyler van Laak mit seiner Begutachtung beauftragt, obwohl der von ihm vorgeschlagene Dr. Stephan Kauf in der Lage gewesen wäre, ein Gutachten innert kürzerer Frist zu erstellen.
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4.2 Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 22. Dezember 2000 und damit seit gut 1 1/3 Jahren in Haft. Überhaft droht daher zur Zeit noch nicht, da dem einschlägig vorbestraften Beschwerdeführer nach den zutreffenden Ausführungen des Haftrichters, auf die verwiesen werden kann, eine deutlich höhere Strafe droht.
4.3 Hingegen ist unbestritten, dass die Untersuchung faktisch 8 Monate ruhte, weil der mit der Begutachtung des Beschwerdeführers beauftragte Dr. Möller solange untätig blieb, nur um sich anschliessend nach einem ersten Aktenstudium für befangen zu erklären. Diese in einem Haftfall unentschuldbare Verzögerung haben objektiv die Strafverfolgungsbehörden zu vertreten, auch wenn der zuständigen Bezirksanwältin subjektiv kein Vorwurf zu machen ist. Diese hat nach der Absage Dr. Möllers auch prompt reagiert und am 14. Januar Frau Dr. Wyler van Laak mit der Begutachtung des Beschwerdeführers beauftragt, welche dessen Fertigstellung für den August 2002 in Aussicht stellt. Sie hat sich somit für die Erstellung des psychiatrischen Gutachtens rund 7 Monate ausbedungen, was angesichts der notorischen Überlastung zu derartigen Gutachten befähigter Sachverständiger als akzeptabel erscheint. Es lag auch im Ermessen der Bezirksanwältin, den vom Beschwerdeführer vorgeschlagenen Dr. Stephan Kauf abzulehnen, da dieser nach seinen eigenen Angaben nicht auf die Begutachtung von Sexualstraftätern spezialisiert ist.
4.4 Unter diesen Umständen erweist sich die Auffassung des Haftrichters als zutreffend, dass die von Dr. Möller verursachte 8-monatige Verfahrensverzögerung zwar gravierend ist und dementsprechend vom Sachrichter angemessen zu berücksichtigen sein wird, dass sie aber noch nicht derart krass ist, dass sie eine Haftentlassung rechtfertigen könnte. Es handelt sich indessen um einen Grenzfall, und die Strafverfolgungsbehörden sind dementsprechend gehalten, das Verfahren nunmehr mit besonderer Beförderung zu behandeln; weitere von ihnen zu vertretende erhebliche Verzögerungen wären unter dem Gesichtspunkt des verfassungs- und konventionsrechtlichen Beschleunigungsgebotes nicht mehr vertretbar und müssten zur Entlassung des Beschwerdeführers aus der Untersuchungshaft führen.