Urteilskopf

126 V 237

40. Auszug aus dem Urteil vom 29. Mai 2000 i. S. Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen gegen S. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
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Erwägungen ab Seite 238

BGE 126 V 237 S. 238

Aus den Erwägungen:

4. Im Falle einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung begründet die Stellung eines blossen Gesellschafters für sich alleine keine Kontroll- oder Überwachungspflichten. Dies ergibt sich aus Art. 819 Abs. 1
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 819 - Bei Mängeln in der Organisation der Gesellschaft sind die Vorschriften des Aktienrechts entsprechend anwendbar.
OR, der für von der Geschäftsführung ausgeschlossene Gesellschafter lediglich ein Einsichtsrecht vorsieht (vgl. JANGGEN/BECKER, Kommentar zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch [Berner Kommentar; Band VII, Teil 3], Bern 1939, N 28 zu Art. 819
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 819 - Bei Mängeln in der Organisation der Gesellschaft sind die Vorschriften des Aktienrechts entsprechend anwendbar.
OR; PEDROJA/WATTER, Kommentar zum schweizerischen Privatrecht [Basler Kommentar, Obligationenrecht II], Basel/Frankfurt a.M. 1994, N 1 und N 7 zu Art. 819
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 819 - Bei Mängeln in der Organisation der Gesellschaft sind die Vorschriften des Aktienrechts entsprechend anwendbar.
OR; LUKAS HANDSCHIN, Die GmbH, Zürich 1996, § 19 N 7; HERBERT WOHLMANN, Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, in: Schweizerisches Privatrecht, Band VIII/2, Basel/Frankfurt a.M. 1982, S. 427 f. und S. 430; derselbe, GmbH-Recht, Basel/Frankfurt a.M. 1997, S. 119 und S. 124). Hätte der Gesetzgeber darüber hinaus die blossen Gesellschafter zur Kontrolle der Geschäftsführung verpflichten wollen, hätte dies unzweifelhaft im Gesetz einen Niederschlag gefunden, was indessen nicht der Fall ist. Folgerichtig sieht Art. 827
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 827 - Für die Verantwortlichkeit der Personen, die bei der Gründung mitwirken oder mit der Geschäftsführung, der Revision oder der Liquidation befasst sind, sind die Vorschriften des Aktienrechts entsprechend anwendbar.
OR bezüglich der auf Pflichtverletzungen beruhenden Verantwortlichkeit nur für bei der
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Gesellschaftsgründung beteiligte und mit der Geschäftsführung und der Kontrolle betraute Personen sowie die Liquidatoren eine Normierung vor. Auch wenn die gesetzliche Lösung als wenig geglückt bezeichnet wird, weil die Kontrollstelle nicht nur im Interesse der Anteilsinhaber, sondern auch im Interesse der Gläubiger und des Rechtsverkehrs agiert (PEDROJA/WATTER, a.a.O.; WOHLMANN, a.a.O.), liegt darin kein triftiger Grund, der ein Abweichen von der vom Gesetzgeber getroffenen Regelung rechtfertigen würde (vgl. BGE 125 II 196 Erw. 3a, 244 Erw. 5a, BGE 125 V 130 Erw. 5, je mit Hinweisen). Soweit die Kasse in diesem Zusammenhang aus Art. 814 Abs. 1
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 814 - 1 Jeder Geschäftsführer ist zur Vertretung der Gesellschaft berechtigt.
1    Jeder Geschäftsführer ist zur Vertretung der Gesellschaft berechtigt.
2    Die Statuten können die Vertretung abweichend regeln, jedoch muss mindestens ein Geschäftsführer zur Vertretung befugt sein. Für Einzelheiten können die Statuten auf ein Reglement verweisen.
3    Die Gesellschaft muss durch eine Person vertreten werden können, die Wohnsitz in der Schweiz hat. Diese Person muss Geschäftsführer oder Direktor sein. Sie muss Zugang zum Anteilbuch sowie zum Verzeichnis über die wirtschaftlich berechtigten Personen nach Artikel 697l haben.698
4    Für den Umfang und die Beschränkung der Vertretungsbefugnis sowie für Verträge zwischen der Gesellschaft und der Person, die sie vertritt, sind die Vorschriften des Aktienrechts entsprechend anwendbar.
5    Die zur Vertretung der Gesellschaft befugten Personen haben in der Weise zu zeichnen, dass sie der Firma der Gesellschaft ihre Unterschrift beifügen.
6    ...699
OR etwas anderes ableiten will, ist dies nicht nachvollziehbar, wird in dieser Bestimmung doch einzig die Vertretungsbefugnis der Geschäftsführer näher umschrieben. Wenn daher ein nicht geschäftsführender Gesellschafter die Einhaltung der sozialversicherungsrechtlichen Abrechnungs- und Beitragszahlungspflichten (Art. 14 Abs. 1
SR 831.10 Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVG)
AHVG Art. 14 Bezugstermine und -verfahren - 1 Die Beiträge vom Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit sind bei jeder Lohnzahlung in Abzug zu bringen und vom Arbeitgeber zusammen mit dem Arbeitgeberbeitrag periodisch zu entrichten.
1    Die Beiträge vom Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit sind bei jeder Lohnzahlung in Abzug zu bringen und vom Arbeitgeber zusammen mit dem Arbeitgeberbeitrag periodisch zu entrichten.
2    Die Beiträge vom Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit, die Beiträge der Nichterwerbstätigen sowie die Beiträge der Arbeitnehmer ohne beitragspflichtige Arbeitgeber sind periodisch festzusetzen und zu entrichten. Der Bundesrat bestimmt die Bemessungs- und Beitragsperioden.69
2bis    Die Beiträge von Asylsuchenden, vorläufig Aufgenommenen und Schutzbedürftigen ohne Aufenthaltsbewilligung, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, sind erst dann festzusetzen und unter Vorbehalt von Artikel 16 Absatz 1 zu entrichten, wenn:
a  diese Personen als Flüchtlinge anerkannt wurden;
b  diesen Personen eine Aufenthaltsbewilligung erteilt wird; oder
c  auf Grund des Alters, des Todes oder der Invalidität dieser Personen ein Leistungsanspruch im Sinne dieses Gesetzes oder des IVG70 entsteht.71
3    In der Regel werden die von den Arbeitgebern zu entrichtenden Beiträge im formlosen Verfahren nach Artikel 51 ATSG72 eingefordert. Dies gilt in Abweichung von Artikel 49 Absatz 1 ATSG auch für erhebliche Beiträge.73
4    Der Bundesrat erlässt Vorschriften über:
a  die Zahlungstermine für die Beiträge;
b  das Mahn- und Veranlagungsverfahren;
c  die Nachzahlung zu wenig bezahlter Beiträge;
d  den Erlass der Nachzahlung, auch in Abweichung von Artikel 24 ATSG;
e  ...76.77
5    Der Bundesrat kann bestimmen, dass auf einem jährlichen massgebenden Lohn bis zum Betrag der maximalen monatlichen Altersrente keine Beiträge entrichtet werden müssen; er kann diese Möglichkeit für bestimmte Tätigkeiten ausschliessen. Der Arbeitnehmer kann jedoch in jedem Fall verlangen, dass der Arbeitgeber die Beiträge entrichtet.78
6    Der Bundesrat kann zudem bestimmen, dass auf einem jährlichen Einkommen aus einer nebenberuflich ausgeübten selbstständigen Erwerbstätigkeit bis zum Betrag der maximalen monatlichen Altersrente nur auf Verlangen des Versicherten Beiträge erhoben werden.79
AHVG; Art. 34 ff
SR 831.101 Verordnung vom 31. Oktober 1947 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV)
AHVV Art. 34 Zahlungsperioden - 1 Es haben der Ausgleichskasse die Beiträge zu zahlen:
1    Es haben der Ausgleichskasse die Beiträge zu zahlen:
a  Arbeitgeber monatlich oder, wenn die jährliche Lohnsumme 200 000 Franken nicht übersteigt, vierteljährlich;
b  Selbstständigerwerbende und Nichterwerbstätige sowie Arbeitnehmer nicht beitragspflichtiger Arbeitgeber, vierteljährlich;
c  Arbeitgeber im vereinfachten Verfahren nach den Artikeln 2 und 3 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005147 über Massnahmen zur Bekämpfung der Schwarzarbeit (BGSA), jährlich.
2    Die Ausgleichskasse kann in begründeten Fällen für Beitragspflichtige nach Absatz 1 Buchstaben a und b, deren Jahresbeitrag an die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung sowie an die Erwerbsersatzordnung 3000 Franken nicht übersteigt, längere, höchstens aber jährliche Zahlungsperioden festsetzen.148
3    Die für eine Zahlungsperiode geschuldeten Beiträge sind innert zehn Tagen nach deren Ablauf zu bezahlen. Im vereinfachten Verfahren nach den Artikeln 2 und 3 BGSA haben die Arbeitgeber die Beiträge innert 30 Tagen ab Rechnungsstellung zu bezahlen.149
. AHVV) durch die Firma nicht überprüft, kann er für den von der Kasse wegen der Beitragsausfälle erlittenen Schaden auch nicht haftbar gemacht werden. Ist er indessen statutarisch zur Kontrolle oder Überwachung der Geschäftsführertätigkeit verpflichtet, was nicht mit der Einsetzung einer (externen) Revisionsstelle nach Art. 819 Abs. 2
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 819 - Bei Mängeln in der Organisation der Gesellschaft sind die Vorschriften des Aktienrechts entsprechend anwendbar.
OR zu verwechseln ist, kann er wegen unterlassener oder unzureichender Kontrolle genauso in die Pflicht genommen werden, wie wenn er in Kenntnis mangelhafter Geschäftsführung keine Vorkehren trifft (in diesem Sinne nicht veröffentlichtes Urteil A. vom 17. Dezember 1999). Hat er innerhalb der GmbH gar eine Stellung inne, die einem Geschäftsführer entspricht, ist er weiter gehenden Pflichten unterworfen (Näheres hiezu: ROLF WATTER, Kommentar zum schweizerischen Privatrecht [Basler Kommentar, Obligationenrecht II], Basel/Frankfurt a.M. 1994, N 16 zu Art. 811
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 811 - 1 Die Statuten können vorsehen, dass die Geschäftsführer der Gesellschafterversammlung:
1    Die Statuten können vorsehen, dass die Geschäftsführer der Gesellschafterversammlung:
1  bestimmte Entscheide zur Genehmigung vorlegen müssen;
2  einzelne Fragen zur Genehmigung vorlegen können.
2    Die Genehmigung der Gesellschafterversammlung schränkt die Haftung der Geschäftsführer nicht ein.
OR mit Hinweis auf N 3 ff. zu Art. 717
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 717 - 1 Die Mitglieder des Verwaltungsrates sowie Dritte, die mit der Geschäftsführung befasst sind, müssen ihre Aufgaben mit aller Sorgfalt erfüllen und die Interessen der Gesellschaft in guten Treuen wahren.
1    Die Mitglieder des Verwaltungsrates sowie Dritte, die mit der Geschäftsführung befasst sind, müssen ihre Aufgaben mit aller Sorgfalt erfüllen und die Interessen der Gesellschaft in guten Treuen wahren.
2    Sie haben die Aktionäre unter gleichen Voraussetzungen gleich zu behandeln.
OR; WERNER VON STEIGER, Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Kommentar zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch [Zürcher Kommentar, Band V, Teil 5c], Zürich 1965, N 33 zu Art. 811
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 811 - 1 Die Statuten können vorsehen, dass die Geschäftsführer der Gesellschafterversammlung:
1    Die Statuten können vorsehen, dass die Geschäftsführer der Gesellschafterversammlung:
1  bestimmte Entscheide zur Genehmigung vorlegen müssen;
2  einzelne Fragen zur Genehmigung vorlegen können.
2    Die Genehmigung der Gesellschafterversammlung schränkt die Haftung der Geschäftsführer nicht ein.
OR; HANDSCHIN, a.a.O., § 19 N 40 ff.; WOHLMANN, Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, a.a.O., S. 419 ff.; derselbe, GmbH-Recht, S. 112 f.), deren Verletzung ebenfalls eine Verantwortlichkeitsklage nach sich ziehen kann (Art. 827
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 827 - Für die Verantwortlichkeit der Personen, die bei der Gründung mitwirken oder mit der Geschäftsführung, der Revision oder der Liquidation befasst sind, sind die Vorschriften des Aktienrechts entsprechend anwendbar.
in Verbindung mit Art. 754
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OR Art. 754 - 1 Die Mitglieder des Verwaltungsrates und alle mit der Geschäftsführung oder mit der Liquidation befassten Personen sind sowohl der Gesellschaft als den einzelnen Aktionären und Gesellschaftsgläubigern für den Schaden verantwortlich, den sie durch absichtliche oder fahrlässige Verletzung ihrer Pflichten verursachen.
1    Die Mitglieder des Verwaltungsrates und alle mit der Geschäftsführung oder mit der Liquidation befassten Personen sind sowohl der Gesellschaft als den einzelnen Aktionären und Gesellschaftsgläubigern für den Schaden verantwortlich, den sie durch absichtliche oder fahrlässige Verletzung ihrer Pflichten verursachen.
2    Wer die Erfüllung einer Aufgabe befugterweise einem anderen Organ überträgt, haftet für den von diesem verursachten Schaden, sofern er nicht nachweist, dass er bei der Auswahl, Unterrichtung und Überwachung die nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat.
OR). Als mit der Geschäftsführung befasst gelten nicht nur Personen, die ausdrücklich als Geschäftsführer ernannt worden sind (sog. formelle Organe); dazu gehören auch Personen, die faktisch die Funktion eines Geschäftsführers ausüben, indem sie
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etwa diesem vorbehaltene Entscheide treffen oder die eigentliche Geschäftsführung besorgen und so die Willensbildung der Gesellschaft massgebend beeinflussen (materielle oder faktische Organe; BGE 117 II 441 Erw. 2, 571 Erw. 3, BGE 114 V 78, 213). Darunter fallen typischerweise Personen, die kraft ihrer Stellung (z.B. Mehrheitsgesellschafter) dem formell eingesetzten Geschäftsführer Weisungen über die Geschäftsführung erteilen.