Urteilskopf

121 IV 340

55. Urteil des Kassationshofes vom 28. August 1995 i.S. R. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden (Nichtigkeitsbeschwerde)
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Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 341

BGE 121 IV 340 S. 341

A.- Das Kantonsgericht Graubünden verurteilte R. am 30. Januar 1995 im Verfahren gegen Abwesende wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu 4 1/2 Jahren Zuchthaus unter Anrechnung der Untersuchungshaft von 78 Tagen. Es verwies ihn für die Dauer von 10 Jahren des Landes. Den sichergestellten Erlös aus dem Drogenhandel in Höhe von Fr. 17'004.40 sowie von DM 100'000.-- zog es ein. Die geleistete Fluchtkaution von Fr. 180'000.-- wurde für verfallen erklärt.
B.- R. erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zur Mitbeurteilung der vom Angeklagten in Italien verübten Delikte zurückzuweisen, eventualiter das Urteil aufzuheben und die Sache an das Kantonsgericht zur Neubeurteilung des Strafmasses zurückzuweisen.
C.- Das Kantonsgericht führt in seinen Gegenbemerkungen aus, es handle sich beim angefochtenen Urteil um ein Abwesenheitsurteil. Das Gesuch von R. vom 8. Juni 1995 um Wiederaufnahme des Verfahrens sei noch nicht behandelt worden. Da in der Nichtigkeitsbeschwerde geltend gemacht werde, die Wiederaufnahme des Verfahrens und die Durchführung eines ordentlichen Verfahrens vor Kantonsgericht verletze übergeordnetes Recht, erscheine es angezeigt, dass zumindest diese Frage vorab durch das Bundesgericht entschieden werde.

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. a) Die Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichtes ist zulässig gegen Urteile der Gerichte, die nicht durch ein kantonales Rechtsmittel wegen Verletzung eidgenössischen Rechtes angefochten werden können (Art. 268 Ziff. 1 BStP). Die Nichtigkeitsbeschwerde ist nur dann zulässig, wenn der Beschwerdeführer vorher alle kantonalen Rechtsmittel, die eine freie Überprüfung des Bundesrechts ermöglichen, erschöpft hat. Wer im Abwesenheitsverfahren verurteilt wurde, kann eine Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht nicht erheben, wenn er nicht vorher ein zulässiges Wiederaufnahmebegehren gestellt hat und im gewöhnlichen Verfahren
BGE 121 IV 340 S. 342

verurteilt worden ist (BGE 102 IV 59 E. 1, BGE 103 IV 60 E. 1, BGE 107 Ia 325 E. 3). b) Der Beschwerdeführer wurde unbestrittenermassen im Verfahren gegen Abwesende gemäss Art. 123 des Gesetzes über die Strafrechtspflege des Kantons Graubünden (StPO/GR) vom 8. Juni 1958 beurteilt. Diese Bestimmung lautet wie folgt: "Erscheint ein Angeklagter, ohne dass die Voraussetzungen von Art. 122 erfüllt sind, trotz gehöriger Vorladung nicht zur Hauptverhandlung und kann er auch nicht vorgeführt werden, so fällt das Gericht auf Grund der Akten und der Parteivorträge ein Abwesenheitsurteil. Der Beurteilte kann innert sechzig Tagen, seit er von dem gegen ihn ausgefällten Urteil Kenntnis erhalten hat und in der Lage ist, sich zu stellen, beim urteilenden Gericht die Aufhebung des Abwesenheitsurteils und die Durchführung des ordentlichen Gerichtsverfahrens verlangen. Sind die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben, so setzt der Präsident eine neue Gerichtsverhandlung an. Er kann die Durchführung des ordentlichen Verfahrens von einer angemessenen Vorschussleistung für die bisher ergangenen Verfahrenskosten abhängig machen, wenn der Gesuchsteller der Vorladung zur ersten Hauptverhandlung schuldhaft keine Folge geleistet hat. Leistet der Angeklagte der Vorladung zur neuen Hauptverhandlung unentschuldigt keine Folge, so wird das Wiederaufnahmegesuch als erledigt abgeschrieben. Mit der Berufung gegen ein Abwesenheitsurteil kann der Beurteilte lediglich die Durchführung des Abwesenheitsverfahrens anfechten." Der Beschwerdeführer hatte somit die Möglichkeit, die Aufhebung des Abwesenheitsurteils und die Durchführung des ordentlichen Verfahrens zu verlangen. Er hat dies auch getan. Die Vorinstanz wartet jedoch, wie sich aus ihren Gegenbemerkungen ergibt, mit der Durchführung des ordentlichen Verfahrens zu, bis das Bundesgericht über die Zulässigkeit der Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Abwesenheitsurteil entschieden hat.
2. Im Lichte der bisherigen, in E. 1a dargelegten Rechtsprechung ist auf die Nichtigkeitsbeschwerde grundsätzlich nicht einzutreten. Zu untersuchen ist, ob die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Einwände eine Überprüfung und Änderung dieser Rechtsprechung rechtfertigen. a) Der im Abwesenheitsverfahren Verurteilte muss, wenn er gültig die Durchführung des ordentlichen Verfahrens verlangt hat, zur neuen Verhandlung persönlich vor Gericht erscheinen. Tut er dies unentschuldigt nicht, so wird das Wiederaufnahmegesuch als erledigt abgeschrieben
BGE 121 IV 340 S. 343

(Art. 123 Abs. 4 StPO/GR). Dies hat zur Folge, dass das Kontumazurteil rechtskräftig wird. Ein Abwesenheitsurteil, dessen Aufhebung der Beschwerdeführer verlangen kann, ist offensichtlich kein letztinstanzliches Urteil, und zwar auch dann nicht, wenn es, wie vorliegend vom Kantonsgericht, mithin der an sich letzten kantonalen Instanz, gefällt wurde. Auch die Lehre nimmt an, ein Kontumazurteil sei in der Regel kein letztinstanzlicher Entscheid, weil dem Verurteilten nach den meisten kantonalen Prozessordnungen das Recht zusteht, ein Wiederaufnahmegesuch zu stellen und die Durchführung des ordentlichen Verfahrens zu verlangen. Wenn der Verurteilte dieses Gesuch nicht oder nicht rechtzeitig stellt, erschöpft er den kantonalen Instanzenzug nicht. Das Kontumazurteil ist in diesem Falle mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde nicht anfechtbar (SCHWERI, Eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen, Bern 1993, N. 126; vgl. auch CORBOZ, Le pourvoi en nullité à la Cour de cassation du Tribunal fédéral, SJ 1991, S. 66). Das Kontumazurteil ist nur dann ein letztinstanzlicher kantonaler, mit Nichtigkeitsbeschwerde anfechtbarer Entscheid, wenn das kantonale Recht die Durchführung des ordentlichen Verfahrens vom Nachweis abhängig macht, dass der Verurteilte unverschuldet der ersten Gerichtsverhandlung ferngeblieben ist und wenn er diesen Nachweis nicht erbringen kann (SCHWERI, a.a.O., N. 127). Allerdings räumen Doktrin und Praxis ein, dass der öffentliche Ankläger und der Geschädigte gegen ein Kontumazurteil Nichtigkeitsbeschwerde erheben können, weil sie nicht voraussehen können, ob der Kontumax das Urteil anerkennen oder dessen Aufhebung verlangen werde (BGE 106 IV 227 E. 2, BGE 103 IV 60 E. 1; SCHWERI, a.a.O., N. 128). b) Was der Beschwerdeführer gegen diese Auffassung vorbringt, führt zu keinem anderen Ergebnis. Dass in der Wiederaufnahmeprozedur die gleiche kantonale Instanz urteilt, liegt in der Natur dieses Verfahrens und ist kein Grund, die Nichtigkeitsbeschwerde bereits gegen das erste Urteil zuzulassen. Weiter kann aus der EMRK nicht das Recht eines Angeklagten abgeleitet werden, der Verhandlung fernzubleiben. Das Risiko, verhaftet zu werden, stellt keine Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte dar. Dem Beschwerdeführer wird auch nicht das durch Art. 2 Abs. 1 des siebten Zusatzprotokolles garantierte Recht abgeschnitten, das Urteil von einem übergeordneten Gericht überprüfen zu lassen; es steht ihm ja frei, im Wiederaufnahmeverfahren korrekt vor der Vorinstanz zu erscheinen und dann gegebenenfalls das neue Urteil mit Nichtigkeitsbeschwerde anzufechten. Im
BGE 121 IV 340 S. 344

übrigen wird der Anspruch auf einen unbefangenen und unparteiischen Richter (Art. 58 Abs. 1
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 58 Armee - 1 Die Schweiz hat eine Armee. Diese ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert.
1    Die Schweiz hat eine Armee. Diese ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert.
2    Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Sie unterstützt die zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer ausserordentlicher Lagen. Das Gesetz kann weitere Aufgaben vorsehen.
3    Der Einsatz der Armee ist Sache des Bundes.18
BV und Art. 6 Ziff. 1
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
EMRK) nicht verletzt, wenn diejenigen Richter, die ein Abwesenheitsurteil gefällt haben, später bei der Neubeurteilung im ordentlichen Verfahren mitwirken (BGE 116 Ia 32). c) Für die bisherige Praxis spricht im übrigen die folgende Überlegung: Würde auf die vorliegende Nichtigkeitsbeschwerde eingetreten und würde sie abgewiesen, so könnte der Beschwerdeführer dennoch auf der Durchführung des bereits eingeleiteten Wiederaufnahmeverfahrens beharren und gegebenenfalls das neue Endurteil wiederum mit Nichtigkeitsbeschwerde beim Bundesgericht anfechten. Eine solche doppelte Belastung des Bundesgerichtes mit der gleichen Angelegenheit soll jedoch durch das in Art. 268 Ziff. 1 BStP festgelegte Subsidiaritätsprinzip verhindert werden. Würde das Bundesgericht die Nichtigkeitsbeschwerde ganz oder teilweise gutheissen und damit das Abwesenheitsurteil aufheben, müsste die kantonale Instanz zunächst ein neues Urteil fällen, das möglicherweise erneut als Kontumazurteil ausgefällt werden muss. Gegen dieses neue Urteil könnte der Beschwerdeführer die Wiederaufnahme verlangen und dann gegebenenfalls das im Wiederaufnahmeverfahren ergangene neue Urteil noch einmal beim Bundesgericht anfechten. Diese Konsequenzen zeigen mit aller Deutlichkeit, dass die Pflicht, das Wiederaufnahmeverfahren zu beantragen, und die Beschränkung, die Nichtigkeitsbeschwerde nur in bezug auf das neue kantonale Urteil zuzulassen, auf guten Gründen beruht.
3. Nach dem Gesagten ist auf die Nichtigkeitsbeschwerde nicht einzutreten, da sie sich nicht gegen ein letztinstanzliches kantonales Urteil richtet.