Urteilskopf

121 III 49

14. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 22. Februar 1995 i.S. A. X. gegen B. X. (Berufung)
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Erwägungen ab Seite 50

BGE 121 III 49 S. 50

Aus den Erwägungen:

1. a) Bei der Festsetzung der der Klägerin gestützt auf Art. 152 ZGB zugesprochenen Rente hat das Obergericht in grundsätzlicher Hinsicht bemerkt, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts der Bedürftigkeit des anspruchsberechtigten Ehegatten in der Regel Rechnung getragen sei, wenn der Unterhaltsbeitrag 20% über dem individuell zu berechnenden betreibungsrechtlichen Notbedarf liege. Es ist von dieser Praxis jedoch abgewichen und hat auf das soziale Existenzminimum gemäss den von der Schweizerischen Konferenz für öffentliche Fürsorge (SKöF) erarbeiteten Richtlinien für die Bemessung der Sozialhilfe abgestellt. Einerseits entspreche der erwähnte Ansatz von 20% nur einem Grundsatz und könne aufgrund der konkreten Verhältnisse, beispielsweise je nach Einkommen des Pflichtigen, auch unterschritten oder überhaupt nicht berücksichtigt werden; die 20%-Regel führe mithin zu einer gewissen Unsicherheit bezüglich ihrer Anwendbarkeit und des prozentualen Ansatzes. Andererseits wirke sich der prozentuale Zuschlag je nach Höhe des betreibungsrechtlichen Notbedarfs nominell unterschiedlich aus. Es sei nicht ersichtlich, weshalb bei einem höheren Existenzminimum der Bedürftigkeit mit einem nominell höheren Zuschlag Rechnung zu tragen sei. So könnten bei grundsätzlich, d.h. hinsichtlich Grundbeträge, Krankenkassenprämien, Radio/TV usw., vergleichbaren Verhältnissen zweier Anspruchsberechtigter die Wohnungsmieten aufgrund des Marktes unter Umständen stark variieren, so dass dem einen Berechtigten höhere Mietkosten angerechnet werden müssten als dem andern; die Existenzminima und damit die 20%-Zuschläge seien mithin unterschiedlich hoch, obwohl die Bedürftigkeit an sich bei beiden Berechtigten gleich zu veranschlagen sei. Werde demgegenüber vom sozialen Existenzminimum ausgegangen, bestehe Gewähr, dass die konkrete Bedürftigkeit im Einzelfall mehr oder weniger zuverlässig ermittelt werden könne. Dies gelte um so mehr, als die SKöF-Richtlinien im Gegensatz zum betreibungsrechtlichen Notbedarf verschiedene weitere Ausgaben, zum Beispiel einen Betrag zur freien Verfügung, für Information, Bildung, weitere Hilfen, berücksichtigten, den tatsächlichen Verhältnissen und Bedürfnissen deshalb näher kämen. Die Ansätze basierten denn auch auf Haushaltsbudgets von Einzelpersonen und Familien mit bescheidenen, aber zur wirtschaftlichen Selbständigkeit ausreichenden Einkommen. b) Die Klägerin beanstandet, dass die Berechnungsweise der Vorinstanz zu
BGE 121 III 49 S. 51

einer Nivellierung nach unten führe, was hier gerade in Anbetracht der ausserordentlich guten wirtschaftlichen Verhältnisse des Beklagten nicht gerechtfertigt sei. Es könne auch nicht angehen, dass die kantonalen Gerichte bei der Bemessung von Bedürftigkeitsrenten nach Gutdünken unterschiedliche Tarife zur Anwendung brächten. c) Gemäss bereits langjähriger Rechtsprechung des Bundesgerichts ist von Bedürftigkeit im Sinne von Art. 152 ZGB in der Tat grundsätzlich dann zu sprechen, wenn das Einkommen des betreffenden Ehegatten nicht mehr als 20% über dem - um die laufende Steuerlast erweiterten - betreibungsrechtlichen Notbedarf liegt (BGE 118 II 97 E. 4b/aa S. 99 mit Hinweisen). Diese Betrachtungsweise ist in der Lehre unangefochten geblieben (vgl. HAUSHEER, Neuere Tendenzen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Bereiche der Ehescheidung, in: Festschrift für Cyril Hegnauer, Bern 1986, S. 181, und ZBJV 122/1986, S. 63; SPÜHLER/FREI-MAURER, N. 10 zu Art. 152 ZGB; HEGNAUER/BREITSCHMID, Grundriss des Eherechts, 3. A., Rz. 11.22). Die vom Obergericht angerufenen Richtlinien stammen von der Schweizerischen Konferenz für öffentliche Fürsorge, d.h. von einer privatrechtlichen Vereinigung (vgl. WOLFFERS, Grundriss des Sozialhilferechts, Bern/Stuttgart/Wien 1993, S. 48). Das objektive Recht enthält keine Verweisung auf deren Richtlinien, so dass diese nicht etwa verbindlich sind. Freilich schliesst das an sich nicht aus, dass die Richtlinien im Sinne von Empfehlungen bei der Auslegung insbesondere des kantonalen Rechts (so etwa von Bestimmungen betreffend die unentgeltliche Rechtspflege) herangezogen werden. Was das Obergericht zu bedenken gibt, rechtfertigt jedoch nicht, in der hier zu beurteilenden Frage von der bisherigen Praxis abzuweichen. Diese hat sich allgemein eingebürgert und hilft, die bundesrechtliche Bestimmung des Art. 152 ZGB in allen Kantonen nach einheitlichen Kriterien anzuwenden. Die Zuschlagsregelung bietet hinreichend Gewähr dafür, dass den konkreten wirtschaftlichen Verhältnissen der betroffenen Ehegatten angemessen Rechnung getragen wird. Wohl mag es wegen der möglichen Unterschiede bei den Mietzinsen gewisse Unzulänglichkeiten geben, doch geht es letztlich nur um den Differenzbetrag von unterschiedlich hohen Mietzinsen. Die Auswirkungen beim Zuschlag sind prozentual gesehen deshalb verhältnismässig gering. Zudem lassen sich stossende Ergebnisse gegebenenfalls durch eine flexible Handhabung der Zuschlagsregel vermeiden.