Urteilskopf
121 I 93
13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 22. März 1995 i.S. K. gegen Generalprokurator-Stellvertreterin und II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):
- Art. 32 Abs. 3 und 4 lit. a, Art. 89, 96 Abs. 1 OG; Beschwerdefrist.
- Die Frist ist auch dann gewahrt, wenn eine staatsrechtliche Beschwerde innerhalb von 30 Tagen seit der Eröffnung oder Mitteilung der Verfügung an gerechnet, bei der kantonalen Behörde, welche den Entscheid gefällt hat, eingereicht worden ist.
Regeste (fr):
- Art. 32 al. 3 et 4 let. a, art. 89, 96 al. 1 OJ; délai de recours.
- Le délai est aussi observé lorsqu'un recours de droit public est déposé dans les trente jours dès la communication de la décision devant l'autorité cantonale qui a pris la décision.
Regesto (it):
- Art. 32 cpv. 3 e 4 lett. a, art. 89, 96 cpv. 1 OG; termine di ricorso.
- Il termine è rispettato anche quando un ricorso di diritto pubblico è proposto entro trenta giorni dalla comunicazione della decisione dinanzi all'autorità che ha preso la decisione.
Sachverhalt ab Seite 93
BGE 121 I 93 S. 93
Am 26. September 1994 reichte K. bei der II. Strafkammer des Berner Obergerichts "z.H. des Schweiz. Bundesgerichts" staatsrechtliche Beschwerde ein, welche der Präsident der II. Strafkammer dem Bundesgericht am 29. September 1994 zustellte. Mit Brief vom 7. Oktober 1994 teilte der Anwalt von K. dem Bundesgericht mit, dass er die staatsrechtliche Beschwerde versehentlich bei einer unzuständigen Behörde eingereicht habe. Er ersucht das Bundesgericht, auf die innert der Frist an die falsche Behörde eingereichte staatsrechtliche Beschwerde einzutreten.
BGE 121 I 93 S. 94
Erwägungen
Aus den Erwägungen:
1. Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang auf eine staatsrechtliche Beschwerde einzutreten ist (BGE 120 Ia 165 E. 1 S. 166 mit Hinweisen). Vorliegend stellt sich die Frage, ob die Beschwerdefrist eingehalten worden ist. a) Gemäss Art. 89 OG muss die staatsrechtliche Beschwerde binnen 30 Tagen, von der nach kantonalem Recht massgebenden Eröffnung oder Mitteilung der Verfügung an gerechnet, dem Bundesgericht schriftlich eingereicht werden. Art. 32 Abs. 3 OG verlangt allgemein:
"Prozessuale Handlungen sind innerhalb der Frist vorzunehmen. Eingaben müssen spätestens am letzten Tag der Frist der zuständigen Behörde eingereicht oder zu deren Handen der schweizerischen PTT oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung übergeben werden."
In Art. 32 Abs. 4 lit. a OG wird zudem folgendes statuiert:
"Bestimmt das Gesetz nichts anderes, so gilt die Frist als gewahrt: a. wenn eine beim Gericht einzulegende Eingabe rechtzeitig bei einer anderen Bundesbehörde oder bei der kantonalen Behörde, welche den Entscheid gefällt hat, eingereicht worden ist;"
Nach dem Wortlaut dieser bei der Revision vom 4. Oktober 1991 eingefügten Bestimmung wahrt die Einreichung beim Berner Obergericht die Beschwerdefrist. b) Im vierten Titel des OG, in den Artikeln betreffend die staatsrechtliche Beschwerde, bestimmt Art. 96 Abs. 1 OG, der bei der Revision vom 4. Oktober 1991 unverändert blieb: "Ist eine Beschwerde rechtzeitig beim Bundesgericht, beim Bundesrat oder bei einer besondern eidgenössischen Instanz der Verwaltungsrechtspflege eingereicht worden, so gilt die Beschwerdefrist als eingehalten, auch wenn die Beschwerde in die Zuständigkeit einer andern dieser Behörden fällt; die Beschwerde ist dieser von Amtes wegen zu übergeben."
Deshalb fragt es sich, wie sich dieser Artikel zur neuen Bestimmung von Art. 32 Abs. 4 lit. a OG ("Bestimmt das Gesetz nichts anderes, ...") verhält. c) In der alten Fassung lautete Art. 32 Abs. 3 OG:
"Eine Frist gilt nur dann als eingehalten, wenn die Handlung innerhalb derselben vorgenommen wird. Schriftliche Eingaben müssen spätestens am letzten Tag der Frist an die Stelle, bei der sie einzureichen sind, gelangt oder zu deren Handen der schweizerischen Post übergeben sein. ..."
BGE 121 I 93 S. 95
Das Bundesgericht hatte dazu in ständiger Praxis entschieden, dass eine staatsrechtliche Beschwerde nur dann rechtzeitig ist, wenn sie vor Ablauf der Beschwerdefrist beim Bundesgericht eingelangt oder von der kantonalen Behörde wenigstens vor Ablauf der Frist der Post übergeben worden war (BGE 103 Ia 53 E. 1 S. 54 mit Hinweisen). Diese Praxis kann seit der Revision des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 4. Oktober 1991, in Kraft seit 15. Februar 1992, nicht mehr aufrechterhalten werden. Im neuen Absatz 4 lit. a von Art. 32 OG wird nunmehr vorgesehen, dass die einzulegende Eingabe innerhalb der Frist bei der kantonalen Behörde, welche den Entscheid gefällt hat, eingereicht worden ist. Es kommt somit nicht mehr darauf an, ob die sachlich unzuständige Behörde die Eingabe mindestens noch innert Frist der Post zu übergeben vermag (BGE 118 Ia 241 E. 3c S. 243). d) Der Wortlaut von Art. 96 Abs. 1 OG geht weniger weit, aber in dieselbe Richtung, wie der neue Art. 32 Abs. 4 lit. a OG. Dieser erlaubt, die Frist auch durch Einreichung bei der kantonalen Vorinstanz zu wahren. Art. 96 Abs. 1 OG bestimmte schon bisher, durch Einreichung der staatsrechtlichen Beschwerde bei einer unzuständigen Instanz der Bundesverwaltungsrechtspflege sei die Frist gewahrt. Die neue gesetzliche Ordnung konkretisiert einen seit langem im Bereich der Rechtsmittelfristen vorherrschenden Gedanken, dass nämlich der Rechtsuchende nicht ohne Not um die Beurteilung seines Rechtsbegehrens durch die zuständige Instanz gebracht werden soll. Dabei handelt es sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der sich auf die gesamte Rechtsordnung bezieht (BGE 118 Ia 241 E. 3b und c S. 243 f. mit Hinweisen, insbesondere auf BGE 103 Ia 53 E. 1 S. 55). Soweit Art. 32 Abs. 4 lit. a OG von anderen gesetzlichen Bestimmungen spricht, können damit nur grosszügigere Regelungen gemeint sein (vgl. Art. 107 OG); d.h. die neue Bestimmung von Art. 32 Abs. 4 OG stellt eine Minimalbestimmung dar. Aufgrund der Entstehungsgeschichte des neuen Art. 32 OG drängt sich eine solche Auslegung der Fristbestimmungen zugunsten der Beschwerdeführenden auf: Ziel der Reform dieses Artikels war die Abschaffung einer übertriebenen Formstrenge (vgl. Stenographisches Bulletin der Bundesversammlung, Nationalrat, 97. Jahrgang, 1987, S. 351 f., auch wenn sich die dort beratene Fassung nicht durchsetzen konnte; vgl. auch JEAN-FRANÇOIS POUDRET, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Vol. I, S. 226 f., N. 5.4). Die Kommission des Ständerates war von der vom Nationalrat
BGE 121 I 93 S. 96
beschlossenen grosszügigen Formulierung, wonach die Frist auch als eingehalten gilt, wenn die Beschwerde bei einer unzuständigen Instanz eingereicht wurde, abgewichen und hatte die Einschränkung durchgesetzt, wonach die Beschwerde zumindest bei der kantonalen Behörde eingereicht werden müsse, welche den Entscheid gefällt hat. Damit will der Gesetzgeber, angesichts der grossen Zahl kantonaler Behörden, verhindern, dass die Beschwerde bei irgendwelcher kantonalen Stelle eingereicht werden kann. Es genügt jedoch, wenn die Beschwerde bei irgendeiner Bundesbehörde eingereicht wird (vgl. POUDRET, a.a.O., S. 226 unten).
Auch aus einer systematischen Auslegung des Gesetzes ist zu schliessen, die neuere Bestimmung von Art. 32 Abs. 4 lit. a OG werde nicht durch den älteren Art. 96 Abs. 1 OG eingeschränkt. Die Problematik der Beschwerdeeinreichung beim Bundesgericht stellt sich nämlich hauptsächlich für die staatsrechtliche Beschwerde. Sowohl für die Berufung (vgl. Art. 54 OG) wie auch für die Nichtigkeitsbeschwerde (Art. 272 ff . BStP), und schliesslich auch für Rekurse in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen (Art. 78 OG) sind die Rechtsmittel bei denjenigen Behörden einzureichen, die den angefochtenen Entscheid gefällt haben. Für die Erhebung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht statuiert Art. 107 Abs. 1 OG, dass die Beschwerdefrist auch dann als gewahrt gilt, wenn der Beschwerdeführer gegen die Verfügung fristgerecht an eine unzuständige Behörde gelangt ist. Der neue Art. 32 Abs. 4 lit. a OG würde somit seine hauptsächliche Bedeutung verlieren, wenn er nicht auf die Frist zur Einreichung der staatsrechtlichen Beschwerde angewendet werden könnte. Die dargelegte Auslegung des Gesetzes respektiert auch die Prinzipien von Treu und Glauben bzw. der Verhältnismässigkeit, kann sie doch u.a. auch eine "Prozessfalle" verhindern in den Fällen, in welchen mehrere Rechtsmittel gleichzeitig ergriffen, jedoch bei verschiedenen Behörden eingereicht werden müssen. Die 30tägige Beschwerdefrist wurde somit eingehalten. Da auch die übrigen Eintretensvoraussetzungen erfüllt sind, kann auf die staatsrechtliche Beschwerde eingetreten werden.