Urteilskopf

119 II 344

70. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 30. August 1993 i.S. X. AG in Nachlassliquidation gegen Bank Y. (Berufung)
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Regesto (it):


Erwägungen ab Seite 344

BGE 119 II 344 S. 344

Aus den Erwägungen:

2. Unbestritten ist, dass die Parteien verbindlich vereinbart haben, die Beklagte sei ermächtigt, die verpfändeten Aktien börsenmässig
BGE 119 II 344 S. 345

oder freihändig zu verwerten (Ziff. 6 "Pfandverschreibung" und Ziff. 8 der AGB der Beklagten). Das Handelsgericht hat aus den Abmachungen abgeleitet, die Beklagte sei auch zum Selbsteintritt berechtigt gewesen, da dieser in der Befugnis zur freihändigen Verwertung mitenthalten sei. Mit der Berufung wird dagegen eingewendet, dieser Schluss beruhe auf einer unhaltbaren Vertragsauslegung. Nach Auffassung der Klägerin wäre der Selbsteintritt nur dann zulässig gewesen, wenn das wörtlich in den Vertragstexten festgehalten worden wäre. a) Der Wortlaut der Vereinbarungen, auf den bei der Auslegung in erster Linie abzustellen ist, lässt den Schluss der Vorinstanz ohne weiteres zu. Zum einen fällt unter den Begriff "verwerten" jede Handlung, die es dem Pfandgläubiger erlaubt, sich den Wert des Pfandgegenstandes anzueignen. Dazu gehört offensichtlich auch der Selbsteintritt. Zum andern ergibt sich aus dem Textzusammenhang, dass der Begriff "freihändig" als Abgrenzung gegenüber der Verwertung an der Börse (Ziff. 6 "Pfandverschreibung") oder im Betreibungsverfahren (Ziff. 8 AGB) zu verstehen ist. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist somit die Auslegung der Vorinstanz nicht zu beanstanden. Dazu kommt, dass die Klägerin nach verbindlicher Feststellung des Handelsgerichts mit den Gebräuchen der Bankenbranche vertraut war. In dieser Branche ist indessen die Ansicht verbreitet, die Befugnis zur freihändigen Verwertung von Pfändern umfasse auch den Selbsteintritt (ZOBL, Berner Kommentar, N. 413 zu Art. 884
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 884 - 1 Fahrnis kann, wo das Gesetz keine Ausnahme macht, nur dadurch verpfändet werden, dass dem Pfandgläubiger der Besitz an der Pfandsache übertragen wird.
1    Fahrnis kann, wo das Gesetz keine Ausnahme macht, nur dadurch verpfändet werden, dass dem Pfandgläubiger der Besitz an der Pfandsache übertragen wird.
2    Der gutgläubige Empfänger der Pfandsache erhält das Pfandrecht, soweit nicht Dritten Rechte aus früherem Besitze zustehen, auch dann, wenn der Verpfänder nicht befugt war, über die Sache zu verfügen.
3    Das Pfandrecht ist nicht begründet, solange der Verpfänder die ausschliessliche Gewalt über die Sache behält.
ZGB; ALBISETTI und andere, Handbuch des Geld-, Bank- und Börsenwesens der Schweiz, 4. Aufl., S. 696, Stichwort: Wertpapierverpfändung; EMCH/RENZ/BÖSCH, Das schweizerische Bankgeschäft, 4. Aufl., S. 288). Dieser Umstand, der im Rahmen der Vertragsauslegung nach dem Vertrauensgrundsatz berücksichtigt werden kann (vgl. BGE 117 II 273 E. 5a S. 278 mit Hinweisen), spricht ebenfalls für die Richtigkeit der vorinstanzlichen Auslegung. Die Möglichkeit des Selbsteintritts brauchte somit entgegen der Auffassung der Klägerin nicht ausdrücklich in den Vertragstexten erwähnt zu werden. b) Unbegründet ist im weitern der Einwand der Klägerin, die erwähnten Vereinbarungen verletzten das Verbot des Verfallsvertrages und seien deshalb gemäss Art. 894
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 894 - Jede Abrede, wonach die Pfandsache dem Gläubiger, wenn er nicht befriedigt wird, als Eigentum zufallen soll, ist ungültig.
ZGB ungültig. Hauptzweck dieser Bestimmung ist es, eine wucherähnliche Ausbeutung des Verpfänders zu verhindern (OFTINGER/BÄR, Zürcher Kommentar, N. 4 zu Art. 894
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 894 - Jede Abrede, wonach die Pfandsache dem Gläubiger, wenn er nicht befriedigt wird, als Eigentum zufallen soll, ist ungültig.
ZGB). Wenn eine solche Übervorteilung aber durch die Bedingungen des Selbsteintrittes, mit denen im konkreten Fall auch
BGE 119 II 344 S. 346

die Interessen des Verpfänders angemessen berücksichtigt werden, ausgeschlossen wird, so bestehen unter dem Gesichtspunkt von Art. 894
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 894 - Jede Abrede, wonach die Pfandsache dem Gläubiger, wenn er nicht befriedigt wird, als Eigentum zufallen soll, ist ungültig.
ZGB keine Bedenken gegen die Gültigkeit der Vereinbarung. In der Literatur wird denn auch die grundsätzliche Zulässigkeit des Selbsteintritts einhellig bejaht (OFTINGER/BÄR, N. 62 zu Art. 891
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 891 - 1 Der Gläubiger hat im Falle der Nichtbefriedigung ein Recht darauf, sich aus dem Erlös des Pfandes bezahlt zu machen.
1    Der Gläubiger hat im Falle der Nichtbefriedigung ein Recht darauf, sich aus dem Erlös des Pfandes bezahlt zu machen.
2    Das Pfandrecht bietet ihm Sicherheit für die Forderung mit Einschluss der Vertragszinse, der Betreibungskosten und der Verzugszinse.
ZGB; ZOBL, Probleme bei der Verpfändung von Eigentümerschuldbriefen, ZBGR 59/1978, S. 212; RUDOLPH J. KADERLI, Die Sicherung des Bankkredites, Diss. Bern 1938, S. 39 f.; MAX HAFFTER, Das Fahrnispfandrecht und andere sachenrechtliche Sicherungsgeschäfte, Diss. Bern 1928, S. 88; BÖCKLI, Das Recht des Pfandgläubigers zum Selbsteintritt bei der Pfandverwertung, SJZ 20/1924, S. 301 ff.; ebenso BGE 119 II 326 E. 2c S. 328). Zur Begründung dieser Auffassung wird zu Recht auf die gesetzliche Regelung beim Kommissionsvertrag hingewiesen (Art. 436
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 436 - 1 Bei Kommissionen zum Einkauf oder zum Verkauf von Waren, Wechseln und anderen Wertpapieren, die einen Börsenpreis oder Marktpreis haben, ist der Kommissionär, wenn der Kommittent nicht etwas anderes bestimmt hat, befugt, das Gut, das er einkaufen soll, als Verkäufer selbst zu liefern, oder das Gut, das er zu verkaufen beauftragt ist, als Käufer für sich zu behalten.
1    Bei Kommissionen zum Einkauf oder zum Verkauf von Waren, Wechseln und anderen Wertpapieren, die einen Börsenpreis oder Marktpreis haben, ist der Kommissionär, wenn der Kommittent nicht etwas anderes bestimmt hat, befugt, das Gut, das er einkaufen soll, als Verkäufer selbst zu liefern, oder das Gut, das er zu verkaufen beauftragt ist, als Käufer für sich zu behalten.
2    In diesen Fällen ist der Kommissionär verpflichtet, den zur Zeit der Ausführung des Auftrages geltenden Börsen- oder Marktpreis in Rechnung zu bringen und kann sowohl die gewöhnliche Provision als die bei Kommissionsgeschäften sonst regelmässig vorkommenden Unkosten berechnen.
3    Im Übrigen ist das Geschäft als Kaufvertrag zu behandeln.
OR), da die dort sich gegenüberstehenden Interessen von Kommittent und Kommissionär ähnlich gelagert sind wie jene von Pfandgläubiger und Schuldner im Fall des Selbsteintritts. Eine allzu enge Anlehnung an die in Art. 436
SR 220 Erste Abteilung: Allgemeine Bestimmungen Erster Titel: Die Entstehung der Obligationen Erster Abschnitt: Die Entstehung durch Vertrag
OR Art. 436 - 1 Bei Kommissionen zum Einkauf oder zum Verkauf von Waren, Wechseln und anderen Wertpapieren, die einen Börsenpreis oder Marktpreis haben, ist der Kommissionär, wenn der Kommittent nicht etwas anderes bestimmt hat, befugt, das Gut, das er einkaufen soll, als Verkäufer selbst zu liefern, oder das Gut, das er zu verkaufen beauftragt ist, als Käufer für sich zu behalten.
1    Bei Kommissionen zum Einkauf oder zum Verkauf von Waren, Wechseln und anderen Wertpapieren, die einen Börsenpreis oder Marktpreis haben, ist der Kommissionär, wenn der Kommittent nicht etwas anderes bestimmt hat, befugt, das Gut, das er einkaufen soll, als Verkäufer selbst zu liefern, oder das Gut, das er zu verkaufen beauftragt ist, als Käufer für sich zu behalten.
2    In diesen Fällen ist der Kommissionär verpflichtet, den zur Zeit der Ausführung des Auftrages geltenden Börsen- oder Marktpreis in Rechnung zu bringen und kann sowohl die gewöhnliche Provision als die bei Kommissionsgeschäften sonst regelmässig vorkommenden Unkosten berechnen.
3    Im Übrigen ist das Geschäft als Kaufvertrag zu behandeln.
OR aufgezählten Voraussetzungen drängt sich jedoch nicht auf. So wird die Zulässigkeit des Selbsteintrittes zwar regelmässig zu bejahen sein, wenn es um Pfänder geht, die einen Markt- oder Börsenpreis haben. Gleiches gilt aber auch für den - hier vorliegenden - Fall, wo dieser Preis nur als Anhaltspunkt dient und aus anderen Gründen eine objektive Bewertung der Pfandgegenstände im Zeitpunkt des Selbsteintrittes möglich ist, denn auch dann kann in der Regel eine Übervorteilung des Schuldners ausgeschlossen werden. Zutreffend wird schliesslich in der Lehre darauf hingewiesen, der Gläubiger sei dazu verpflichtet, zuhanden des Schuldners eine Abrechnung zu erstellen, den Preis von seiner Forderung abzuziehen und einen allfälligen Überschuss herauszugeben. Nach den verbindlichen Feststellungen des Handelsgerichts waren die soeben erwähnten Voraussetzungen, die eine Übervorteilung der Klägerin ausschlossen, im vorliegenden Fall erfüllt. Das Handelsgericht durfte somit die von der Klägerin im kantonalen Verfahren erhobenen Hauptbegehren, welchen die Auffassung zugrunde lag, der Selbsteintritt zum damals geltenden Börsenkurs sei ungültig, abweisen, ohne damit Bundesrecht zu verletzen.