Urteilskopf

109 Ib 13

3. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23. Februar 1983 i.S. Einwohnergemeinde Bern gegen Ida Schenk-Käser und Verwaltungsgericht des Kantons Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
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Sachverhalt ab Seite 14

BGE 109 Ib 13 S. 14

Frau Ida Schenk-Käser ist Eigentümerin der Parzelle Nr. 846 des Kreises V im Halte von 21'663 m2 im sog. "Löchligut" in Bern. Die Liegenschaft stösst im Westen an die Aare und im Osten an die Worblaufenstrasse an. Auf der Südseite grenzt sie an eine Familiengartenanlage der Stadt Bern sowie an die Überbauung Löchligut. Auf der Parzelle befindet sich eine Autoreparaturwerkstätte. Das Grundstück wird in seinem oberen Teil vom Löchligutweg, der in die Worblaufenstrasse mündet, durchquert. Dieser asphaltierte Weg weist eine Breite von ca. 3,5 m auf. Das Löchligut war im städtischen Bauklassenplan 1955 der Bauklasse II für zweigeschossige Bauten zugewiesen. Ausserdem befand sich das Grundstück der Beschwerdegegnerin innerhalb des Schutzzonenperimeters der Aaretalhänge. Zu Beginn der 70er Jahre beabsichtigte Ida Schenk, ihre grosse Parzelle Nr. 846 der Überbauung zuzuführen. Der Gemeinderat der Stadt Bern beschloss demgegenüber am 17. November 1971, die Parzelle der Beschwerdegegnerin einer Grünzone zuzuweisen und mit ihr in Landerwerbsverhandlungen zu treten. Diese führten zu keiner Einigung. Ein gestelltes Baugesuch für die Erstellung von 72 Einfamilienhäusern und 4 unterirdischen Autoeinstellgaragen
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wurde am 5. September 1973 mangels ausreichender Erschliessung abgewiesen. Ausserdem war die Parzelle Nr. 846 bereits am 5. März 1973 gestützt auf den Bundesbeschluss über dringliche Massnahmen auf dem Gebiete der Raumplanung vom 17. März 1972 (BMR) dem provisorischen Schutzgebiet I zugewiesen worden. Der städtische Nutzungszonenplan 1974 teilte die Parzelle Nr. 846 der Zone zum Schutz des Landschafts- und Ortsbildes zu. In dieser Zone dürfen offene Areale nicht überbaut werden. Nach der städtischen Bauordnung 1979 liegt die Parzelle im Aaretalschutzgebiet I. Zufolge des Ausschlusses der Überbaubarkeit gelangte Ida Schenk am 9. September 1977 an die zuständige kantonale Enteignungs-Schätzungskommission mit dem Begehren, es sei ihr eine Entschädigung aus materieller Enteignung zuzusprechen. Die Kommission verneinte jedoch das Vorliegen einer materiellen Enteignung. Auch das Verwaltungsgericht des Kantons Bern verneinte für den grössten Teil des Grundstücks Nr. 846 die Baulandqualität. Es bejahte einzig die Möglichkeit der Bildung von 3 Bauplätzen zu je 1000 m2 im Bereiche des bestehenden, zum Abbruch bestimmten Gebäudes. Für die entsprechende Fläche von 3000 m2 bejahte es daher eine materielle Enteignung und wies die Streitsache zur Festsetzung der von der Stadt Bern geschuldeten Enteignungsentschädigung an die Enteignungskommission zurück. Die gegen diesen Entscheid erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Stadt Bern weist das Bundesgericht ab.
Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Der Regierungsrat ist von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ausgegangen, wonach eine materielle Enteignung dann vorliegt, wenn einem Eigentümer der bisherige oder ein voraussehbarer künftiger Gebrauch seiner Sache untersagt oder besonders stark eingeschränkt wird, weil dem Eigentümer eine wesentliche, aus dem Eigentum fliessende Befugnis entzogen wird. Geht der Eingriff weniger weit, so wird gleichwohl eine materielle Enteignung angenommen, falls ein einziger oder einzelne Grundeigentümer so betroffen werden, dass ihr Opfer gegenüber der Allgemeinheit unzumutbar erschiene und es mit der Rechtsgleichheit nicht vereinbar wäre, wenn hiefür keine Entschädigung geleistet würde (BGE 107 Ib 383 E. 2 mit Hinweisen). In beiden Fällen ist die Möglichkeit einer zukünftigen besseren Nutzung der Sache indessen nur zu berücksichtigen, wenn im massgebenden

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Zeitpunkt anzunehmen war, sie lasse sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft verwirklichen (BGE 107 Ib 223 E. 2 mit Hinweisen). Unter besserer Nutzung eines Grundstücks ist in der Regel die Möglichkeit seiner Überbauung zu verstehen. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Grundstück sehr wahrscheinlich in naher Zukunft besser hätte genutzt werden können, sind nach der Praxis alle rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, welche die Überbauungschance beeinflussen können. Dazu gehören die im fraglichen Zeitpunkt geltenden kommunalen und kantonalen Bauvorschriften, die Lage und Beschaffenheit des Grundstücks, die Erschliessungsverhältnisse, der Stand der kommunalen und kantonalen Planung und die bauliche Entwicklung in der Umgebung (BGE 106 Ia 373 E. 2b mit Hinweisen). Die verschiedenen Faktoren sind zu gewichten. Nur wo das Bauen rein rechtlich zulässig und tatsächlich möglich sowie nach den Umständen mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft zu erwarten gewesen wäre (BGE 96 I 357 mit Hinweis), kann in der Eigentumsbeschränkung, welche die Überbauung ausschliesst, ein besonders schwerer Eingriff gesehen werden, der eine Entschädigungspflicht auslöst. Als Gründe dafür, dass ein Grundstück nicht in verhältnismässig kurzer Zeit überbaut werden kann, nannte das Bundesgericht zum Beispiel die Voraussetzung einer Ausnahmebewilligung, die Notwendigkeit einer Änderung in der Zonenplanung, das Erfordernis eines Erschliessungs-, Überbauungs- oder Gestaltungsplanes, einer Baulandumlegung oder weitgehender Erschliessungsarbeiten (BGE 107 Ib 223 E. 3; BGE 106 Ia 373 E. 2b und 376 f. E. 3d und e). Auch genügt die Erschliessbarkeit einer Parzelle und unter Umständen selbst deren Erschliessung nicht ohne weiteres, um die Überbaubarkeit in naher Zukunft zu bejahen (BGE 103 Ib 222 E. 5b; BGE 101 Ia 227 E. 4b).
3. Für die Beurteilung der Frage, ob eine materielle Enteignung vorliege, hat die erste Instanz in Übereinstimmung mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Rechtskraft des Nutzungszonenplanes 1974 der Stadt Bern, somit auf den 10. Dezember 1976, abgestellt. Das Verwaltungsgericht bezeichnet demgegenüber den Zeitpunkt der Rechtskraft der provisorischen Schutzgebietanordnung, somit den 5. März 1973, als massgebend, weil die definitive Planungsmassnahme des Nutzungszonenplanes die logische Folge der Schutzgebietsbezeichnung bilde.
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Das Bundesgericht hat bereits in der nichtveröffentlichten Erwägung 2 seines Entscheides vom 10. November 1982 i.S. Einwohnergemeinde Wohlen c. Ernst Bergmann und Konsorten zur Betrachtung des Verwaltungsgerichts Stellung genommen. Es hat an seiner Auffassung festgehalten, dass als massgebender Stichtag mit den sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Anmeldung des Entschädigungsbegehrens, die Ermittlung des Entschädigungsschuldners, die Höhe der Entschädigung, die Verjährung und Verzinsung der Forderung die Rechtskraft der definitiven Planungsmassnahme gelte; mit einer vorgängigen provisorischen Massnahme dürfe hingegen nicht zum Nachteil des Betroffenen der Ausschluss der Entschädigungspflicht begründet werden. Auch der vorliegende Fall gibt zu keiner anderen Betrachtungsweise Anlass. Massgebend für die Beurteilung der Frage, ob eine materielle Enteignung vorliege, sind somit die Verhältnisse im Zeitpunkt der Rechtskraft des städtischen Nutzungszonenplanes am 10. Dezember 1976.
4. Die Beurteilung der umstrittenen Entschädigungsfrage nach den dargelegten Kriterien führt zu folgenden Ergebnissen: a) Das Verwaltungsgericht stellt zutreffend fest, dass der frühere Bauklassenplan der Stadt Bern aus dem Jahre 1955 keine Baugebietsausscheidung im Sinne einer raumplanerischen Massnahme vorgenommen hatte. Der Plan stellt daher keinen Zonenplan im Sinne des Art. 14 des Baugesetzes des Kantons Bern vom 7. Juni 1970 dar, der das Baugebiet vom übrigen Gemeindegebiet abzugrenzen hat. Die Auswirkungen der im Nutzungszonenplan von 1974 erstmals vorgenommenen Baugebietsausscheidung sind daher nicht unter dem Gesichtspunkt der Auszonung, sondern unter demjenigen der Nichteinzonung zu beurteilen. Im übrigen käme man - wie sich aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt - zu keinem andern Ergebnis, wenn man den vorliegenden Sachverhalt als Auszonung betrachten wollte. b) Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann die Auszonung oder die Nichteinzonung einen Eigentümer ausnahmsweise enteignungsähnlich treffen. Im Falle der Auszonung kann diese Folge etwa eintreten, wenn baureifes oder grob erschlossenes Land, für dessen Erschliessung und Überbauung der Eigentümer bereits erhebliche Kosten aufgewendet hat, betroffen wird. Auch für den Fall einer Nichteinzonung entsprechenden Landes, das im Bereich eines mit den Anforderungen der Gewässerschutzgesetzgebung übereinstimmenden generellen Kanalisationsprojekts liegt, ist
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eine enteignungsähnliche Wirkung nicht von vornherein auszuschliessen (BGE 105 Ia 338 E. 3d). In einem solchen Fall können Umstände vorliegen, welche die Einzonung des Landes geboten hätten. Trifft dies zu, so ist die Frage, ob am massgebenden Stichtag mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Überbauung hätte gerechnet werden dürfen, zu bejahen (BGE 107 Ib 225 E. 3d; BGE 106 Ia 189 E. 4c). c) Bei dieser Rechtslage ist für die Beurteilung der Frage, ob die umstrittene Fläche von 3000 m2 des Grundstücks der Beschwerdegegnerin zur Zeit der Rechtskraft des städtischen Nutzungszonenplanes sehr wahrscheinlich in naher Zukunft hätte überbaut werden können, wenn sie nicht einer Schutzzone zugewiesen worden wäre, massgebend auf die gewässerschutzrechtliche Situation abzustellen. Dabei darf die Dauer des provisorischen Bauverbots gemäss der Schutzgebietszuweisung nicht zum Nachteil der Beschwerdegegnerin berücksichtigt werden.
5. a) Gemäss dem am 1. Juli 1972 in Kraft getretenen Eidgenössischen Gewässerschutzgesetz (Art. 19 und 20 in der bis Ende 1979 geltenden Fassung) dürfen Baubewilligungen ausserhalb der Bauzonen bzw. des im generellen Kanalisationsprojekt abgegrenzten Gebietes nur erteilt werden, sofern der Gesuchsteller ein sachlich begründetes Bedürfnis nachweist. Da die Stadt Bern über keinen Zonenplan mit Baugebietsabgrenzung und im Jahre 1972 auch nicht über ein generelles Kanalisationsprojekt verfügte, hätte der Beschwerdegegnerin jedenfalls für eine grössere Überbauung keine Bewilligung erteilt werden können, wie dies auch das Verwaltungsgericht zufolge der fehlenden Erschliessung mit Recht angenommen hat. Eine bescheidene Überbauung hätte hingegen kaum aus gewässerschutzrechtlichen Gründen verweigert werden dürfen, hat doch die Stadt Bern den Löchligutweg auch für das vorhandene zweistöckige Haus als ausreichend erachtet (vgl. Art. 28 Allgemeine Gewässerschutzverordnung). Auch wäre dessen Ausbau - etwa durch Anlegung eines Kehrplatzes - mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand zweifellos möglich gewesen, wie dies der Augenschein gezeigt hat. Das Werkstattgebäude ist zwar noch nicht an die Kanalisation angeschlossen, doch ist ein Anschluss ohne besonderen Aufwand möglich und wird von der Stadt Bern auch verfügt werden, wie sich aus der vom Bundesgericht eingeholten Auskunft des städtischen Tiefbauamtes vom 15. November 1982 ergibt. b) Die Stadt Bern hat sodann Anfang 1977 ein generelles

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Kanalisationsprojekt aufgestellt, das am 23. Mai 1977 von der kantonalen Direktion für Verkehr, Energie und Wasserwirtschaft des Kantons Bern genehmigt wurde. Die umstrittene Fläche ist im Bereich des bestehenden Gebäudes in das generelle Kanalisationsprojekt einbezogen worden. Dieser Einbezug spricht für die Richtigkeit der Annahme des Verwaltungsgerichts, eine bescheidene teilweise Überbauung hätte sich westlich des Löchligutweges im Anschluss an das Siedlungsgebiet sowie um und anstelle des vorbestehenden Gebäudes verwirklichen lassen. Wenn die vom Verwaltungsgericht als überbaubar bezeichnete Fläche die Grenze des generellen Kanalisationsprojektes überschreitet, so liegt diese Abweichung innerhalb des vom Bundesgericht den kantonalen Instanzen zuzubilligenden Beurteilungsspielraumes. Das Verwaltungsgericht hat im übrigen einzig das Ausmass der Fläche bezeichnet, welche nach seiner Ansicht Baulandqualität aufweist. Diese Fläche umfasst auch den zu Wohnbauten gehörenden Umschwung wie Gartenareal, welches ohne die Baulandqualität zu verlieren, ausserhalb der Begrenzung des GKP liegen kann. c) Wenn im übrigen das Verwaltungsgericht von der Möglichkeit von Terrassenhäusern gesprochen hat, so handelt es sich bei der entsprechenden Erwägung lediglich um einen unverbindlichen Hinweis. Entsprechend der Überbauung des bestehenden Löchligutes wäre zweifellos auch eine Überbauung denkbar, die nicht den Erlass von Sonderbauvorschriften bedingen würde, allerdings wohl bei verminderter Rendite. Dass der Anschluss der Bauten an die Kanalisation einen besonders hohen Aufwand bedingen würde, ist aufgrund des Augenscheines kaum anzunehmen. Im übrigen werden diese Fragen bei der Ermittlung der Höhe der Entschädigung zu berücksichtigen sein. d) Auch die von der Stadt Bern vorgebrachten Einwendungen in bezug auf die Lärmimmissionen von Bahn und Strasse sind nicht stichhaltig. Diese Immissionen sind keineswegs derart stark, dass sie einer bescheidenen Überbauung entgegenstehen würden. Dies bestätigt auch die vorhandene Löchligutüberbauung.
6. Bei dieser Sach- und Rechtslage durfte das Verwaltungsgericht zu Recht annehmen, eine Überbauung des Abschnittes von 3000 m2 hätte sich im massgebenden Zeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit verwirklichen lassen. Die besonderen Umstände, welche im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung diese Annahme rechtfertigen (BGE 105 Ia 338 E. 3d), liegen im vorhandenen bestehenden Werkstatthaus, für welches der Löchligutweg
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als ausreichend erachtet wurde, und der Begrenzung des generellen Kanalisationsprojektes. Wäre die entsprechende Fläche im Nutzungszonenplan der Stadt Bern von 1974 nicht der Zone zum Schutz des Landschafts- und Ortsbildes zugewiesen worden, so hätte sie von der Beschwerdegegnerin, die den Willen zur besseren baulichen Nutzung ihres zum Teil bereits baulich genutzten Areals besass, der Überbauung zugeführt werden können. Die Einwendungen der Stadt Bern erweisen sich somit als unbegründet, weshalb die Beschwerde abzuweisen ist.