Urteilskopf

106 Ia 131

25. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10. Juni 1980 i.S. P. E. gegen Grosser Rat des Kantons Aargau (Staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 131

BGE 106 Ia 131 S. 131

P. E. wurde am 1. Juni 1977 vom Bezirksgericht Aarau zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von zwei Monaten verurteilt. Am 18. Mai 1979 reichte P. E. beim Grossen Rat des Kantons Aargau ein Begnadigungsgesuch ein. Dieser beschloss am 13. November 1977, auf das Gesuch nicht einzutreten, da die in § 5 der kantonalen Verordnung über die Begnadigung vorgesehene Frist von 30 Tagen zur Einreichung eines Gnadengesuches bereits abgelaufen sei. P. E. hat gegen den Nichteintretensbeschluss staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 2 ÜbBest. BV und Art. 4
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BV erhoben.
BGE 106 Ia 131 S. 132

Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. a) Der Beschwerdeführer macht mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend, der Beschluss des aargauischen Grossen Rates, auf das Begnadigungsgesuch nicht einzutreten, verletze Art. 2 ÜbBest. BV, da er auf einer kantonalrechtlichen Verordnung beruhe, die zum Bundesrecht in Widerspruch stehe. Nach Ansicht des Grossen Rates hätte der Nichteintretensbeschluss mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden müssen, weil die Begnadigung dem Bereich des Strafvollzuges zuzuordnen sei und letztinstanzliche Entscheide auf diesem Gebiete der Verwaltungsgerichtsbarkeit unterstünden. Dieser Auffassung kann jedoch nicht gefolgt werden. Dass sich die Begnadigung auf den Strafvollzug auswirkt, heisst nicht, dass der Entscheid über ein Gnadengesuch dem Strafvollzugsrecht angehöre. Der Gnadenentscheid ist vielmehr ein Akt "sui generis", der seiner Rechtsnatur nach keine Verfügung im Sinne des Art. 5
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des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren darstellt, welche gemäss Art. 97
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OG beim Bundesgericht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden könnte.
Es kann sich deshalb nur die Frage stellen, ob der Beschluss des Grossen Rates mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar sei. Da kein Rechtsanspruch auf Begnadigung besteht, ist der materielle Entscheid über ein Gnadengesuch der richterlichen Überprüfung weitgehend entzogen (vgl. BGE 95 I 544). Dagegen kann - wie im vorliegenden Falle - mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend gemacht werden, der Anspruch des Gesuchstellers auf Entgegennahme und Behandlung seines Begnadigungsgesuches sei verletzt worden. b) Nach ständiger Rechtsprechung kann die Rüge der Verfassungswidrigkeit eines Erlasses nicht nur nach dessen Veröffentlichung, sondern auch noch im Anschluss an einen konkreten Anwendungsakt erhoben werden. Auf die vorliegende Beschwerde ist daher einzutreten. Allerdings kann bei Gutheissung der Beschwerde nicht der Erlass als solcher, sondern nur die angefochtene konkrete Entscheidung aufgehoben werden (BGE 104 Ia 87 E. 5, BGE 103 Ia 86 E. 3 mit Hinweisen). Ob ein kantonaler Rechtssatz oder die ihm gegebene Auslegung mit dem Bundesrecht vereinbar sei, prüft das Bundesgericht frei (BGE 102 Ia 155 mit Hinweisen).
BGE 106 Ia 131 S. 133

2. a) Der angefochtene Nichteintretensbeschluss stützt sich auf § 5 Abs. 1 der aargauischen Verordnung über die Begnadigung vom 17. November 1941, welcher lautet: "Gesuche um Begnadigung sind bei der Justizdirektion innert 30 Tagen nachdem das Urteil Rechtskraft erlangt hat, schriftlich einzureichen." Eine Möglichkeit der Wiederherstellung der dreissigtägigen Frist ist nicht vorgesehen. Es handelt sich daher bei dieser Frist, wie auch der Grosse Rat eingeräumt hat, um eine Verwirkungsfrist. Mit dem Ablauf einer Verwirkungsfrist geht der Rechtsanspruch an sich und nicht nur eine prozessuale Befugnis unter. Der aargauische Grosse Rat führt daher zu Unrecht aus, dass § 5 Abs. 1 der Begnadigungsverordnung eine reine Verfahrensvorschrift darstelle, zu deren Erlass er ohne weiteres befugt gewesen sei. Indessen vertritt der Grosse Rat die Auffassung, dass er auch kompetent sei, materiellrechtliche Bestimmungen über die Voraussetzungen der Begnadigung zu erlassen. b) Bei der Schaffung der ins Strafgesetzbuch aufzunehmenden Bestimmungen über die Begnadigung ist der Bundesgesetzgeber davon ausgegangen, dass das Begnadigungsrecht grundsätzlich dem Bund, dessen Gesetzgebung den Strafanspruch geschaffen habe, zustehe und dass die Ausübung dieses Rechts nur aus praktischen Gründen - um die Bundesversammlung nicht zu überlasten - den Kantonen übertragen werde. Dementsprechend liege auch die Rechtsetzungsbefugnis beim Bund: der Gesetzgeber, der die Voraussetzungen und Wirkungen des staatlichen Strafanspruches normiere, umschreibe auch dessen Grenzen, das heisst die Voraussetzungen und Wirkungen der Aufhebung dieses Anspruches (vgl. Erläuterungen zum dritten Buch des Schweiz. Strafgesetzbuches, August 1915, S. 35 f.; Botschaft des Bundesrates zu einem Gesetzesentwurf enthaltend das schweizerische Strafgesetzbuch vom 23. Juli 1918, BBl 1918 IV S. 98; Sten.Bull. N 1930 S. 97 f. Votum Logoz, S 1931 S. 753 f. Votum Baumann). Auf diese Gedanken des historischen Gesetzgebers stützt sich das (nicht veröffentlichte) Urteil des Bundesgerichtes i.S. Flury vom 14. Juli 1944. Das Gericht hatte sich in diesem Entscheid mit Art. 20 des waadtländischen Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch zu befassen, nach welchem nur Zuchthaus-
BGE 106 Ia 131 S. 134

oder Gefängnisstrafen von mehr als einjähriger Dauer sowie die mit diesen Freiheitsstrafen verbundenen Nebenstrafen gnadenhalber erlassen werden konnten. Es erklärte diese Bestimmung als mit dem Bundesrecht, insbesondere mit Art. 396
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StGB unvereinbar und wies das Argument, der kantonale Gesetzgeber habe mit dem Erlass der umstrittenen Vorschrift lediglich von seinem Hoheitsrecht der Begnadigung in allgemeiner Weise Gebrauch gemacht, mit folgender Begründung zurück: Die Gnade sei zweifellos ein Hoheitsrecht, ein "fait du souverain"; über dieses zu verfügen stehe allein dem Bundesgesetzgeber zu. Zwar habe dieser das Begnadigungsrecht in den Fällen, in denen eine kantonale Behörde geurteilt habe, an den Kanton übertragen. Diese Delegation beschränke sich jedoch auf die Ausübung des Gnadenrechtes im konkreten Falle. Dagegen seien die Kantone nicht befugt, über den Inhalt und Umfang des Gnadenrechtes zu legiferieren. Nach dem Urteil Flury wäre es somit den Kantonen verwehrt, irgendwelche materiellen Normen über die Ausübung des Gnadenrechtes zu erlassen. Ob an dieser Rechtsprechung, die nicht ohne Kritik geblieben ist (vgl. CAVIN, Droit pénal fédéral et procédure cantonale, ZSR 65/1946 S. 57 a f.; s.a. CLERC, De l'exercice du droit de grâce par les cantons sous l'empire du Code pénal suisse, ZStR 73/1958 S. 111 f.), festzuhalten sei, kann im vorliegenden Falle offenbleiben. Selbst wenn nämlich die Kantone zum Erlass materiellrechtlicher Bestimmungen über die Ausübung des Begnadigungsrechtes kompetent wären, könnten diese Bestimmungen die Regelung, die der Bundesgesetzgeber auf diesem Bereich getroffen hat, nur ergänzen, nicht aber zu ihr in Widerspruch treten. c) Das Bundesrecht sieht keine Frist vor, innert welcher die Begnadigungsgesuche einzureichen wären, und ermächtigt auch die Kantone nicht, solche Fristen mit Verwirkungsfolge vorzusehen. In Art. 395 Abs. 2
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StGB wird der Begnadigungsbehörde einzig gestattet zu bestimmen, dass ein abgelehntes Begnadigungsgesuch vor Ablauf eines gewissen Zeitraumes nicht erneuert werden darf. Aus dem Umstand, dass der Bundesgesetzgeber in Art. 395 Abs. 2
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StGB die dort umschriebene Frist ausdrücklich als zulässig erklärt, ergibt sich e contrario, dass andere Fristen, die die Ausübung des Gnadenrechts beschränken, ausgeschlossen sein sollen. Aus den Gesetzesvorarbeiten geht denn auch insgesamt hervor, dass das Begnadigungsrecht
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nach dem Willen des Bundesgesetzgebers zwar mit grösster Zurückhaltung auszuüben ist, dass es aber an keine formellen oder materiellen Voraussetzungen gebunden werden soll, die es ausschliessen würden, dass im Einzelfall die Gesamtumstände und alle für eine Begnadigung sprechenden Gründe in Betracht gezogen werden könnten. Eine Regelung wie die in § 5 Abs. 1 der aargauischen Begnadigungsverordnung getroffene verunmöglicht es aber, einen Verurteilten aus Gründen zu begnadigen, die sich erst nach der Verurteilung, bzw. erst nach Ablauf von 30 Tagen seit der Verurteilung, verwirklichen. Der generelle Ausschluss dieser Begnadigungsgründe, denen in der Begnadigungspraxis der übrigen Kantone eine erhebliche Bedeutung zukommt (so beispielsweise vorbildliches Verhalten nach der Verurteilung und im bisherigen Strafvollzug, nachträgliche Änderung der rechtlichen Ordnung oder der persönlichen Verhältnisse des Verurteilten, nachträglicher Wegfall des Strafzweckes usw.; vgl. SCHLATTER, Die Begnadigung im Kanton Zürich, Diss. Zürich 1970, S. 49 ff.), lässt sich mit dem Gehalt der bundesrechtlichen Regelung nicht vereinbaren. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und der angefochtene Beschluss des Grossen Rates aufzuheben.

3. Ist die Beschwerde aus dem genannten Grunde gutzuheissen, erübrigt es sich zu prüfen, ob die umstrittene Bestimmung auch gegen kantonales Verfassungsrecht verstosse.
Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Beschluss des Grossen Rates des Kantons Aargau vom 13. November 1979 aufgehoben.