Urteilskopf

104 IV 58

18. Urteil des Kassationshofes vom 31. Mai 1978 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden
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Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 58

BGE 104 IV 58 S. 58

A.- Das Kreisgericht Chur hatte X. am 27. November 1975 wegen fortgesetzter vollendeter und versuchter Unzucht mit Kindern zu einer bedingt vollziehbaren, mit der Weisung verbundenen Gefängnisstrafe von drei Monaten verurteilt, sich während der Probezeit von zwei Jahren einer ambulanten ärztlichen Behandlung zu unterziehen. Die von X. gegen dieses Urteil eingelegte Berufung hatte der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden am 24. Mai 1976 abgewiesen. Die Urteilseröffnung erfolgte am 7. Januar 1977 schriftlich.

B.- Zum Zwecke angeblicher wissenschaftlicher Untersuchung führte X. am 12. Dezember 1976 mit dem 12jährigen Y. einen Farbentest durch, fotografierte Y. nackt und mass dessen Brustumfang sowie die Körpergrösse. Der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden verwarnte X. am 8. Februar 1978 wegen Täuschung des auf ihn gesetzten Vertrauens und verlängerte die Probezeit um ein Jahr.
C.- X. führt gegen den Beschluss des Kantonsgerichtsausschusses von Graubünden vom 8. Februar 1978 Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung desselben.
Erwägungen

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1. Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe dadurch, dass er am 12. Dezember 1976 den 12jährigen Y. nackt fotografierte, das auf ihn gesetzte Vertrauen nicht getäuscht. Sein Handeln falle ausserdem nicht in die Probezeit, die erst mit der schriftlichen Eröffnung des Berufungsurteils am 7. Januar 1977 zu laufen begonnen habe.
BGE 104 IV 58 S. 59

2. Die Anordnung des Strafvollzuges oder der für leichte Fälle vorgesehenen Ersatzmassnahmen setzt eine Täuschung des richterlichen Vertrauens während der dem Verurteilten bestimmten Probezeit voraus (Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 41 - 1 Das Gericht kann statt auf eine Geldstrafe auf eine Freiheitsstrafe erkennen, wenn:
1    Das Gericht kann statt auf eine Geldstrafe auf eine Freiheitsstrafe erkennen, wenn:
a  eine solche geboten erscheint, um den Täter von der Begehung weiterer Verbrechen oder Vergehen abzuhalten; oder
b  eine Geldstrafe voraussichtlich nicht vollzogen werden kann.
2    Es hat die Wahl der Freiheitsstrafe näher zu begründen.
3    Vorbehalten bleibt die Freiheitsstrafe anstelle einer nicht bezahlten Geldstrafe (Art. 36).
StGB). Diese beginnt frühestens mit der Eröffnung jenes Urteils zu laufen, das vollstreckbar wird (BGE 90 IV 242 E. 1 und 1b). Der Beschwerdeführer hat das ihn wegen Unzucht mit Kindern verurteilende Erkenntnis des Kreisgerichtes Chur durch Berufung vollumfänglich an den Kantonsgerichtsausschuss weitergezogen. Bei der Berufung handelt es sich nach graubündnerischem Strafprozessrecht um ein ordentliches, mit Suspensiv- und Devolutiveffekt ausgestattetes Rechtsmittel, dessen Ergreifung demnach den Eintritt der Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils hemmt. Das Urteil des Kantonsgerichtsausschusses tritt an die Stelle des angefochtenen Entscheides der ersten Instanz und erwächst allein in Rechtskraft (Art. 143
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 143 Durchführung der Einvernahme - 1 Zu Beginn der Einvernahme wird die einzuvernehmende Person in einer ihr verständlichen Sprache:
1    Zu Beginn der Einvernahme wird die einzuvernehmende Person in einer ihr verständlichen Sprache:
a  über ihre Personalien befragt;
b  über den Gegenstand des Strafverfahrens und die Eigenschaft, in der sie einvernommen wird, informiert;
c  umfassend über ihre Rechte und Pflichten belehrt.
2    Im Protokoll ist zu vermerken, dass die Bestimmungen nach Absatz 1 eingehalten worden sind.
3    Die Strafbehörde kann weitere Erhebungen über die Identität der einzuvernehmenden Person durchführen.
4    Sie fordert die einzuvernehmende Person auf, sich zum Gegenstand der Einvernahme zu äussern.
5    Sie strebt durch klar formulierte Fragen und Vorhalte die Vollständigkeit der Aussagen und die Klärung von Widersprüchen an.
6    Die einzuvernehmende Person macht ihre Aussagen aufgrund ihrer Erinnerung. Sie kann mit Zustimmung der Verfahrensleitung schriftliche Unterlagen verwenden; diese werden nach Abschluss der Einvernahme zu den Akten genommen.
7    Sprech- und hörbehinderte Personen werden schriftlich oder unter Beizug einer geeigneten Person einvernommen.
und 146
SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO) - Strafprozessordnung
StPO Art. 146 Einvernahme mehrerer Personen und Gegenüberstellungen - 1 Die einzuvernehmenden Personen werden getrennt einvernommen.
1    Die einzuvernehmenden Personen werden getrennt einvernommen.
2    Die Strafbehörden können Personen, einschliesslich solcher, die ein Aussageverweigerungsrecht haben, einander gegenüberstellen. Die besonderen Rechte des Opfers bleiben vorbehalten.
3    Sie können einvernommene Personen, die nach Abschluss der Einvernahme voraussichtlich weiteren Personen gegenübergestellt werden müssen, verpflichten, bis zur Gegenüberstellung am Ort der Verfahrenshandlung zu bleiben.
4    Die Verfahrensleitung kann eine Person vorübergehend von der Verhandlung ausschliessen, wenn:
a  eine Interessenkollision besteht; oder
b  diese Person im Verfahren noch als Zeugin, Zeuge, Auskunftsperson oder sachverständige Person einzuvernehmen ist.
StPO; LARDI, Die ordentlichen Rechtsmittel im Bündnerischen Strafprozessrecht, Diss. Zürich 1969, S. 115 f. und 132/133; unveröffentlichter Entscheid der staatsrechtlichen Kammer vom 25. Januar 1961 in Sachen AB gegen Staatsanwaltschaft und Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden). Das Berufungsurteil des Kantonsgerichtsausschusses vom 24. Mai 1976 ist nicht mündlich, sondern durch Zustellung einer Urteilsausfertigung schriftlich eröffnet worden. Das geschah unbestrittenermassen am 7. Januar 1977. Der Anlass zur Verwarnung des Beschwerdeführers und zur Verlängerung der ihm bestimmten Probezeit bildende Vorfall vom 12. Dezember 1976 fällt demnach noch vor deren Beginn; er hätte daher richtigerweise, wie das auch die Vorinstanz in ihrem Schreiben vom 28 April 1978 anerkennt die Einleitung eines Widerrufsverfahrens gar nicht auszulösen vermocht. Die dem Beschwerdeführer erteilte Verwarnung und die angeordnete Verlängerung der Probezeit verletzen demnach Art. 41 Ziff. 3
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 41 - 1 Das Gericht kann statt auf eine Geldstrafe auf eine Freiheitsstrafe erkennen, wenn:
1    Das Gericht kann statt auf eine Geldstrafe auf eine Freiheitsstrafe erkennen, wenn:
a  eine solche geboten erscheint, um den Täter von der Begehung weiterer Verbrechen oder Vergehen abzuhalten; oder
b  eine Geldstrafe voraussichtlich nicht vollzogen werden kann.
2    Es hat die Wahl der Freiheitsstrafe näher zu begründen.
3    Vorbehalten bleibt die Freiheitsstrafe anstelle einer nicht bezahlten Geldstrafe (Art. 36).
StGB, so dass der angefochtene Beschluss der Vorinstanz aufzuheben ist.
3. Es kann unter diesen Umständen ungeprüft gelassen werden, ob im Verhalten des Beschwerdeführers vom 12. Dezember 1976 ohne Rechtsverletzung überhaupt eine Täuschung des auf ihn gesetzten Vertrauens hätte erblickt werden können.
BGE 104 IV 58 S. 60

Dispositiv

Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss des Kantonsgerichtsausschusses von Graubünden vom 8. Februar 1978 aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.