Urteilskopf

102 Ib 45

9. Auszug aus dem Urteil vom 30. Januar 1976 i.S. Firma Z. gegen Eidg. Steuerverwaltung
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Regeste (fr):

Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 45

BGE 102 Ib 45 S. 45

Die Beschwerdeführerin betreibt ein Montageunternehmen, das seinen Kunden Arbeitskräfte für Montagearbeiten zur Verfügung stellt. Nachdem die Eidgenössische Steuerverwaltung (EStV) in Abänderung ihrer bisherigen Praxis entschieden hatte, das Zurverfügungstellen von Arbeitskräften an Dritte für Bauten gelte als steuerbare Warenlieferung, wurde die Beschwerdeführerin per 1. Juli 1972 als Hersteller-Grossist im Register der Warenumsatzsteuerpflichtigen eingetragen. Die für das 3. und 4. Quartal 1972 und für das 1. Quartal 1973 geschuldeten Steuerbeträge von Fr. 25'557.05 bezahlte sie vorbehaltlos. In den Abrechnungen für das 2. bis 4. Quartal 1973 brachte sie jedoch jeweils einen Rückforderungsvorbehalt an. Auf Beschwerde hin entschied das Bundesgericht am 28. März 1974 im Urteil Aktiengesellschaft X. gegen EStV (BGE 100 Ib 67), das Zurverfügungstellen von Arbeitskräften stelle keine steuerbare Warenlieferung dar, worauf die EStV die Steuerpflicht für derartige Leistungen mit Wirkung ab 1. April 1974 wieder aufhob. Die Beschwerdeführerin verlangte in der Folge
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die Rückerstattung der für die Zeit vom 1. Juli 1972 bis 31. Dezember 1973 bezahlten Warenumsatzsteuer von total Fr. 58'995.75 nebst Zins. Die EStV erstattete ihr die für das 2. bis 4. Quartal 1973 unter Vorbehalt bezahlten Warenumsatzsteuerbeträge samt Zins, lehnte jedoch eine Erstattung der Steuerleistungen für 1972 und für das 1. Quartal 1973 ab und hielt an diesem Standpunkt im Einspracheverfahren fest. Das Bundesgericht weist die dagegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde ab.
Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Die Beschwerdeführerin bestreitet, dass die von der EStV auf den 1. Juli 1972 verfügte, von der bisherigen abweichende steuerrechtliche Behandlung der mit "zur Verfügung gestellten" Arbeitskräften ausgeführten Bauarbeiten überhaupt eine neue Praxis habe begründen können. Ihre aufgrund der neuen Weisungen erfolgte Selbstveranlagung sei deshalb als irrtümlich, und die Zahlung der Steuerbeträge für die Zeit vom 1. Juli 1972 bis 31. März 1973 als Zahlung einer Nichtschuld zu betrachten.
a) Ob die Beschwerdeführerin eine Schuld oder eine Nichtschuld bezahlt hat, muss sich zunächst aus einer Prüfung der Frage ergeben, ob die Steuerforderung gesetzmässig begründet wurde. Da der WUStB recht knapp gefasst ist, kommt dabei der Praxis der EStV wesentliche - im vorliegenden Fall nach Auffassung beider Parteien entscheidende - Bedeutung zu. Die Verwaltung muss bei der Auslegung des Gesetzes und in der Handhabung ihres Ermessens auf Grund des Rechtsgleichheitsgebotes nach einheitlichen, über den Einzelfall hinaus gültigen Kriterien vorgehen. Verwaltungspraxis ist daher der von der Überzeugung der Gesetz- und Zweckmässigkeit getragene Wille zu einer bestimmten, konstanten Rechts- und Ermessensanwendung gegenüber jedermann. Ihrer Verwirklichung dienen insbesondere die generellen administrativen Weisungen. Die Praxis und damit die Weisungen sind zu ändern, wenn immer die Verwaltung nach gründlicher und ernsthafter Untersuchung zur Überzeugung gelangt, der wirkliche Sinn des Gesetzes sei ein anderer als der bisher angenommene (BGE 100 Ib 71; H. DUBS, Praxisänderungen, S. 138 ff.), oder Veränderungen in den tatsächlichen Gegebenheiten
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erforderten eine andere Betätigung des pflichtgemässen Ermessens. Hat sich die Verwaltung zu einer Praxisänderung entschlossen, ist die neue Praxis im Grundsatz sofort und überall anzuwenden. Die neue Praxis gilt, und dies ohne Rücksicht darauf, ob sie allgemein gebilligt, ob ihre Begründung angezweifelt, bestritten oder ob sie gar als rechtswidrig angefochten wird, bis die Verwaltung selbst sie durch eine neue ersetzt, die - wie im vorliegenden Fall - vielleicht mit der ursprünglichen identisch ist. Die veränderte Praxis der EStV in der Zeit vom 1. Juli 1972 bis 31. März 1974 ist daher als Praxis im Rechtssinn anzuerkennen. Der Entscheid BGE 100 Ib 67, auf den sich die Beschwerdeführerin beruft, spricht keineswegs gegen diese Auffassung: Er hat die Anwendung der neuen Praxis in einem konkreten Fall zwar ausgeschlossen, die Praxis als solche aber weder rückwirkend noch für die Zukunft nichtig erklärt oder aufgehoben, wenn er auch indirekt ihre Aufhebung durch die Verwaltung selbst mit Wirkung auf den 1. April 1974 veranlasst hat. Der Einwand der Beschwerdeführerin, wonach sich eine neue Praxis nach dem 1. Juli 1972 überhaupt nicht habe herausbilden können, geht daher fehl. Verwaltungspraxis ist weder Gewohnheitsrecht noch bewährte Lehre und Überlieferung; weder der allgemeine Konsens noch die zeitliche Komponente sind für sie Wesensmerkmale, bedeutet ja eine Praxisänderung schon rein logisch einen Neubeginn, den Schritt vom Hergebrachten zum Neuen. Etwas Gegenteiliges lässt sich auch nicht aus dem von der Beschwerdeführerin zitierten Wortlaut von Erw. 2c des genannten Bundesgerichtsentscheides ableiten, wo auf Anwendbarkeit der "bisherigen Praxis" entschieden wurde. Dieser Satz konnte sich naturgemäss nur auf den damals beurteilten Einzelfall beziehen, abgesehen davon, dass in den Erwägungen 2a und 2c auch von der "neuen Praxis" der EStV die Rede ist. Die Beschwerdeführerin hat ihre Warenumsatzsteuerschuld bis zum 31. Dezember 1973 - die für das 1. Quartal 1974 geschuldete Steuer wurde nicht mehr einverlangt - aufgrund des Gesetzes und der damals geltenden Praxis beglichen; sie hat keine Nichtschuld bezahlt. b) Waren die Steuern zur Zeit ihrer Entrichtung geschuldet, ist weiter zu prüfen, ob angesichts der Praxisänderung die Beschwerdeführerin dennoch Anspruch auf Erstattung der entrichteten Warenumsatzsteuer hat.
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Die EStV verneint in ihrem Einspracheentscheid und in ihrer Vernehmlassung einen solchen Anspruch. Gestützt auf ein Urteil des Bundesgerichtes vom 23. Juni 1950 (ASA 19 S. 185 ff., 189) macht sie geltend, eine Steuerveranlagung, die unangefochten oder im Kontrollverfahren abgeändert worden sei, erlange formelle und materielle Rechtskraft; die Festsetzung der Steuerschuld werde damit für den Steuerpflichtigen wie für das Gemeinwesen endgültig. Dies gelte nicht nur für die durch Verwaltungsentscheid festgesetzte Steuerschuld, sondern auch für die aufgrund der Selbstdeklaration des Pflichtigen erhobene und ohne Vorbehalt bezahlte Steuer. Diese Rechtsprechung ist insoweit kritisiert worden, als sie die vorbehaltlose Zahlung einer selbstveranlagten Steuer der Steuerfestsetzung durch rechtskräftigen Entscheid gleichgestellt hat. Die Selbstveranlagung sei kein hoheitlicher Akt, daher könne ihr keine Rechtskraft zukommen (B. ZINGG, Die Rückerstattung nicht geschuldeter Warenumsatzsteuer, ASA 28 S. 81 ff., insbes. 89 ff.). Die Frage der Rechtskraft einer durch Selbstveranlagung festgesetzten und nicht angefochtenen Steuer braucht jedoch nicht neu entschieden zu werden, denn sowohl nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes als auch nach der Auffassung der Kritiker dieser Rechtsprechung kann nämlich die Rückerstattung nur in Frage kommen, wenn der Steuerpflichtige die nach der früheren Praxis geforderten Steuern schon damals rechtswirksam angefochten oder nur unter Vorbehalt bezahlt hat. Dagegen bekundet der Pflichtige, der die Steuer vorbehaltlos bezahlt, seinen Willen, sich der zur Zeit der Zahlung geltenden Praxis zu unterziehen, und seinen endgültigen Verzicht, einen Entscheid über die Steuerschuld zu verlangen. Eine Praxisänderung, die durch ein bundesgerichtliches Urteil veranlasst wird, hat nicht zur Folge, dass eine der früheren Praxis entsprechende Taxation aufgehoben oder neu anfechtbar wird (ASA 19 S. 189 f.; ZINGG, a.a.O., S. 97 f.).
2. Unter diesen Umständen könnte das Begehren der Beschwerdeführerin auf Aufhebung des angefochtenen Einspracheentscheides und Rückzahlung der noch nicht erstatteten Steuerbeträge nur gutgeheissen werden, wenn besondere Gründe dafür vorlägen. Solche macht die Beschwerdeführerin denn auch geltend. a) Die Beschwerdeführerin sieht darin, dass die EStV sie

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nicht auf den Widerstand aufmerksam gemacht habe, dem die neue Praxis begegne, einen Verstoss gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Der Vorwurf ist unbegründet. Die Verwaltung ist bei jedem Schritt der Gefahr ausgesetzt, dass ihre Praxis angefochten wird; es ist ihr nicht zuzumuten, jedem allfälligen Interessenten von beabsichtigten oder bereits eingeleiteten Anfechtungshandlungen Dritter von Amtes wegen Mitteilung zu machen und damit noch zusätzliche Opposition gegen eine Praxis, die sie selbst als richtig erkannt hat, zu provozieren. Es hätte der Beschwerdeführerin freigestanden, schon ihre Eintragung in das Grossistenregister anzufechten und - wie andere - auch ihre Steuerpflicht schon bei der ersten Abrechnung durch den Richter abklären zu lassen. Sie hat dies nicht getan in der - richtigen - Erkenntnis, dass die neue Praxis allgemein gehandhabt werde; sie war insoweit auch keineswegs in einem Irrtum befangen, für den sie nachträglich die Verwaltung verantwortlich machen könnte. b) Weiter beruft sich die Beschwerdeführerin aber auch auf besondere Zusicherungen, welche die EStV mit Bezug auf die allfällige Erstattung von Warenumsatzsteuerbeträgen gegenüber den bei ihr intervenierenden Industrieunternehmen abgegeben habe. Soweit sich diese Zusicherungen auf "unter Vorbehalt" bezahlte Steuern beziehen, ist dieser Einwand unbeachtlich; denn diese Beträge sind ja der Beschwerdeführerin erstattet worden und nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Dass auch für die vorbehaltslos entrichteten Beträge von der EStV Erstattungszusicherungen in irgendeiner als verbindlich zu betrachtenden Form erteilt worden seien, wird aber von der Verwaltung bestritten und ist auch nicht nachgewiesen. Selbst wenn die Sachverhaltsdarstellung der Beschwerdeführerin über die Verhandlungen zwischen der EStV und Industrievertretern zutreffen sollte, wäre dieser Nachweis nicht erbracht. Es erübrigt sich damit, zu untersuchen, ob und inwieweit aus Zusicherungen an die Vertreter bestimmter Unternehmen auch die Beschwerdeführerin etwas zu ihren Gunsten ableiten könnte.