Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas

Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts

Prozess
{T 7}
I 530/02

Urteil vom 23. April 2003
III. Kammer

Besetzung
Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Kernen; Gerichtsschreiberin Durizzo

Parteien
M._______, 1952, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Franz Hollinger, Stapferstrasse 28, 5201 Brugg AG,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdegegnerin

Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 29. Mai 2002)

Sachverhalt:
A.
M._______, geboren 1952, verheiratet und Mutter zweier erwachsener Kinder, meldete sich am 26. August 1997 unter Hinweis auf Kopf-, Rücken-, Bein- und Armbeschwerden sowie Schwindel bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (berufliche Massnahmen) an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau zog die Akten der Unfallversicherung X.________ bei, holte einen Bericht des Hausarztes Dr. med. B.________ vom 4. Juni 1998 ein, liess die Versicherte psychiatrisch untersuchen (Gutachten des Dr. med. H.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 2. September 1999) und klärte die berufliche und erwerbliche Situation ab. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens lehnte sie einen Rentenanspruch mit Verfügung vom 19. Oktober 2001 ab, weil der Invaliditätsgrad lediglich 30 % betrage.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 29. Mai 2002 ab.
C.
M._______ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Zusprechung einer halben Invalidenrente beantragen.

Während die IV-Stelle des Kantons Aargau auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze zu den Begriffen der Invalidität (Art. 4 Abs. 1
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 4 Invalidität - 1 Die Invalidität (Art. 8 ATSG46) kann Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall sein.47
1    Die Invalidität (Art. 8 ATSG46) kann Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall sein.47
2    Die Invalidität gilt als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat.48
IVG; BGE 116 V 249 Erw. 1b), Erwerbsunfähigkeit (BGE 121 V 331 Erw. 3b mit Hinweisen) und Arbeitsunfähigkeit (BGE 115 V 133 Erw. 2) sowie zur Aufgabe des Arztes im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 115 V 134 Erw. 2 mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 28 Grundsatz - 1 Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
1    Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
a  ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern können;
b  während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG206) gewesen sind; und
c  nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 Prozent invalid (Art. 8 ATSG) sind.
1bis    Eine Rente nach Absatz 1 wird nicht zugesprochen, solange die Möglichkeiten zur Eingliederung im Sinne von Artikel 8 Absätze 1bis und 1ter nicht ausgeschöpft sind.207
2    ...208
und 1bis
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 28 Grundsatz - 1 Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
1    Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
a  ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern können;
b  während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG206) gewesen sind; und
c  nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 Prozent invalid (Art. 8 ATSG) sind.
1bis    Eine Rente nach Absatz 1 wird nicht zugesprochen, solange die Möglichkeiten zur Eingliederung im Sinne von Artikel 8 Absätze 1bis und 1ter nicht ausgeschöpft sind.207
2    ...208
IVG) sowie die Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2
SR 831.20 Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (IVG)
IVG Art. 28 Grundsatz - 1 Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
1    Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die:
a  ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen, erhalten oder verbessern können;
b  während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG206) gewesen sind; und
c  nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 Prozent invalid (Art. 8 ATSG) sind.
1bis    Eine Rente nach Absatz 1 wird nicht zugesprochen, solange die Möglichkeiten zur Eingliederung im Sinne von Artikel 8 Absätze 1bis und 1ter nicht ausgeschöpft sind.207
2    ...208
IVG; vgl. auch BGE 104 V 136 Erw. 2a und b) und bei Teilerwerbstätigen nach der gemischten Methode (Art. 27bis Abs. 1
SR 831.201 Verordnung vom 17. Januar 1961 über die Invalidenversicherung (IVV)
IVV Art. 27bis Bemessung des Invaliditätsgrades von Teilerwerbstätigen - 1 Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades von Teilerwerbstätigen werden folgende Invaliditätsgrade zusammengezählt:
1    Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades von Teilerwerbstätigen werden folgende Invaliditätsgrade zusammengezählt:
a  der Invaliditätsgrad in Bezug auf die Erwerbstätigkeit;
b  der Invaliditätsgrad in Bezug auf die Betätigung im Aufgabenbereich.
2    Für die Berechnung des Invaliditätsgrades in Bezug auf die Erwerbstätigkeit wird:
a  das Einkommen ohne Invalidität auf eine Erwerbstätigkeit, die einem Beschäftigungsgrad von 100 Prozent entspricht, hochgerechnet;
b  das Einkommen mit Invalidität auf der Basis einer Erwerbstätigkeit, die einem Beschäftigungsgrad von 100 Prozent entspricht, berechnet und entsprechend an die massgebliche funktionelle Leistungsfähigkeit angepasst;
c  die prozentuale Erwerbseinbusse anhand des Beschäftigungsgrades, den die Person hätte, wenn sie nicht invalid geworden wäre, gewichtet.
3    Für die Berechnung des Invaliditätsgrades in Bezug auf die Betätigung im Aufgabenbereich wird:
a  der prozentuale Anteil der Einschränkungen bei der Betätigung im Aufgabenbereich im Vergleich zur Situation, wenn die versicherte Person nicht invalid geworden wäre, ermittelt;
b  der Anteil nach Buchstabe a anhand der Differenz zwischen dem Beschäftigungsgrad nach Absatz 2 Buchstabe c und einer Vollerwerbstätigkeit gewichtet.
IVV in der am 1. Januar 2001 in Kraft getretenen Fassung vom 2. Februar 2000; BGE 104 V 136 Erw. 2a). Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 19. Oktober 2001) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt
werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).
2.
Die Vorinstanz hat sich zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit auf das Gutachten des Dr. med. H.________ vom 2. September 1999 gestützt und ein Pensum von 70 % als zumutbar erachtet. Damit kontrastiert die Einschätzung des Dr. med. U.________, Innere Medizin FMH, in seinem von der Versicherten letztinstanzlich eingereichten Bericht vom 22. April 2002 zuhanden der Pensionskasse, wonach Verdacht auf eine konversionsneurotische Entwicklung bestehe. Schon die Ärzte der Neurologischen Klinik des Spitals Y.________ hatten in ihrem Bericht vom 24. Februar 1998 einen solchen Verdacht geäussert. Die Beschwerdeführerin begab sich in der Folge - am 3. April 1998 - in die Sprechstunde von Dr. med. S.________, Psychiatrischer Dienst Z.________, der ihr offenbar eine medikamentöse Behandlung vorgeschlagen hat. Allerdings blieb es bei dieser einen Konsultation (Bericht des Dr. med. S.________ vom 23. Juni 1998); die Versicherte setzte die verordneten Antidepressiva ab und stand seither nicht mehr in psychiatrischer Behandlung, weil sie einer solchen opponiert.

Es fragt sich, ob in dieser Beweislage Bedarf nach weiteren Abklärungen besteht. Zwar konnte Dr. med. H.________ den Verdacht der Konversionsneurose nicht bestätigen, weil sich ein psychodynamischer Zusammenhang mit der Lebensgeschichte, der psychosozialen Situation und der Körpersymptomatik nicht finden lasse; lebensgeschichtlich relevante Befunde, welche die Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur beeinflusst haben könnten, seien von der Patientin "mangels psychologischer Offenheit" nicht zu haben. Daher ergebe sich "anamnestisch ein einseitig auf Körpersymptome beschränktes Bild". Gerade weil aber Dr. med. H.________ die erwähnten psychodynamischen Zusammenhänge als für die Diagnose einer Konversionsneurose "entscheidend" bezeichnete, konnte er es bei der Feststellung mangelnder Zugänglichkeit zur Explorandin nicht bewenden lassen, sondern er hätte diesen Umstand aus psychiatrischer Sicht kritisch hinterfragen und diskutieren müssen. Das ist nicht der Fall gewesen. Zum andern sind bis Verfügungserlass (19. Oktober 2001) über zwei Jahre vergangen, in deren Verlauf sich die psychischen Verhältnisse entscheidend geändert haben können. Dass das Beschwerdebild aus internmedizinischer Sicht gleich geblieben ist (Bericht des Dr. med.
U.________ vom 22. April 2002), schliesst nicht aus, dass sich hinter der darin erneut beschriebenen uneinsichtigen, obstruktiven Haltung der Versicherten eine krankhafte Entwicklung verbirgt, zum Beispiel eine larvierte Depression. Daher ist eine ergänzende psychiatrische Untersuchung unumgänglich.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 29. Mai 2002 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 19. Oktober 2001 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf Invalidenrente neu verfüge.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 23. April 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: