Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}

6B 487/2015

Urteil vom 1. Dezember 2015

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Oberholzer,
Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiber Moses.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Franz Hollinger,
Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Rechtliches Gehör,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 26. März 2015.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Brugg erklärte X.________ am 24. April 2013 des Mordes, der Gefährdung des Lebens und des Vergehens gegen das Waffengesetz schuldig. Es bestrafte ihn mit einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren und ordnete eine vollzugsbegleitende ambulante psychotherapeutische Massnahme an. Dagegen erhoben sowohl X.________ als auch die Staatsanwaltschaft Berufung. Das Obergericht des Kantons Aargau wies beide Berufungen am 26. März 2015 ab.

B.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

C.
Das Obergericht beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichtet auf eine Vernehmlassung. X.________ replizierte am 7. September 2015.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, sowohl er als auch die Staatsanwaltschaft hätten Vernehmlassungen zu den jeweiligen Berufungsantworten eingereicht. Während seine Eingabe der Staatsanwaltschaft zur Stellungnahme zugestellt worden sei, habe er von derjenigen der Staatsanwaltschaft erst mit dem angefochtenen Urteil Kenntnis erhalten. Auf diese Weise habe ihn die Vorinstanz gegenüber der Staatsanwaltschaft benachteiligt und sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden.

1.2. Das Obergericht räumt im Rahmen seiner Beschwerdeantwort ein, dass die Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer erst nach Ergehen des angefochtenen Urteils zugestellt und das rechtliche Gehör verletzt worden sei. Der Beschwerdeführer habe sich aber in seinen verschiedenen Eingaben eingehend zu den sich stellenden Fragen äussern können. Die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zur Berufungsantwort des Beschwerdeführers beinhalte weder relevante Ausführungen zum Sachverhalt noch zur Beweiswürdigung, weshalb sich ausnahmsweise eine Heilung der Gehörsverletzung im bundesgerichtlichen Verfahren aufdränge.

1.3.

1.3.1. Gemäss Art. 29 Abs. 2
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 29 Allgemeine Verfahrensgarantien - 1 Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
1    Jede Person hat in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist.
2    Die Parteien haben Anspruch auf rechtliches Gehör.
3    Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand.
BV und Art. 6 Ziff. 1
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren - (1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
a  innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b  ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c  sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d  Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e  unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
EMRK haben die Parteien eines Gerichtsverfahrens Anspruch auf rechtliches Gehör. Diese Garantie umfasst auch das Recht, von den beim Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können. Die Wahrnehmung des Replikrechts setzt voraus, dass die fragliche Eingabe der Partei zugestellt wird. Das Bundesgericht hat wiederholt festgehalten, dass den Verfahrensbeteiligten ein Anspruch auf Zustellung von Vernehmlassungen zusteht, unabhängig davon, ob diese Eingaben neue und erhebliche Gesichtspunkte enthalten. Das Gericht muss vor Erlass seines Urteils eingegangene Vernehmlassungen den Beteiligten zustellen, damit diese sich darüber schlüssig werden können, ob sie sich dazu äussern wollen oder nicht.
Eine nicht besonders schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs kann ausnahmsweise als geheilt gelten, wenn die betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Rechtsmittelinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie auch die Rechtslage frei überprüfen kann. Unter dieser Voraussetzung ist darüber hinaus - im Sinne einer Heilung des Mangels - selbst bei einer schwerwiegenden Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör von einer Rückweisung der Sache an die Vorinstanz abzusehen, wenn und soweit die Rückweisung zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde, die mit dem (der Anhörung gleichgestellten) Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären (BGE 137 I 195 E. 2.3 mit Hinweisen).

1.3.2. In ihrer Berufungserklärung vom 18. Februar 2014 beantragte die Staatsanwaltschaft, der Beschwerdeführer sei zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe zu verurteilen. Ebenso beantragte sie dessen Verwahrung. In der Berufungsbegründung vom 29. Juli 2014 machte sie unter anderem geltend, die erste Instanz habe dem Beschwerdeführer eine minimal leichte bis gar mittelgradige Verminderung der Schuldfähigkeit attestiert. Sie weiche dabei vom psychiatrischen Gutachten ab, welches lediglich von einer leichtgradigen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit ausgehe. Ausserdem habe der Beschwerdeführer Alkohol konsumiert, um sich Mut für die bevorstehende und bereits lange zuvor geplante Tat anzutrinken. Er habe somit seine Schuldunfähigkeit - soweit diese mit der Alkoholintoxikation im Zusammenhang stand - wissentlich und willentlich herbeigeführt. Nach Art. 19 Abs. 4
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 19 - 1 War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar.
1    War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar.
2    War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so mildert das Gericht die Strafe.
3    Es können indessen Massnahmen nach den Artikeln 59-61, 63, 64, 67, 67b und 67e getroffen werden.15
4    Konnte der Täter die Schuldunfähigkeit oder die Verminderung der Schuldfähigkeit vermeiden und dabei die in diesem Zustand begangene Tat voraussehen, so sind die Absätze 1-3 nicht anwendbar.
StGB sei diese deshalb unbeachtlich. Die Staatsanwaltschaft stellt überdies die Massnahmefähigkeit des Beschwerdeführers und insbesondere dessen Bereitschaft, sich einer Therapie ernsthaft zu unterziehen, in Frage. Innert fünf Jahren bestehe keine hinreichende Wahrscheinlichkeit auf eine deutliche Verringerung der Gefahr weiterer Straftaten, weshalb die Verwahrung
anzuordnen sei. Der Beschwerdeführer erwiderte in seiner Berufungsantwort vom 7. Januar 2015 unter anderem, er trinke regelmässig und nicht nur am Tattag bereits am Morgen mehrere Biere. Es liege deshalb kein Vorsatz bezüglich Herabsetzung der Schuldfähigkeit vor. Ein Vorsatz hinsichtlich der Tat entfalle ebenfalls, weil er zu diesem Zeitpunkt von der späteren Tat noch nichts wusste. Die Staatsanwaltschaft nahm dazu am 3. Februar 2015 Stellung. Sie hält insbesondere fest, der Beschwerdeführer habe noch am Tag der Tötung erklärt, er sei am Morgen nervös gewesen und habe ab vier Uhr zwanzig bis dreissig Bier getrunken. Üblich sei aber nur gewesen, dass er zum Frühstück eine Flasche Bier trank. Daraus folge, dass der Beschwerdeführer sich Mut für die bevorstehende Tat angetrunken habe.
Nach Art. 97 Abs. 1
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 97 Unrichtige Feststellung des Sachverhalts - 1 Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann.
1    Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann.
2    Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung, so kann jede unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden.86
BGG kann vor Bundesgericht die Feststellung des Sachverhalts nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung nach Art. 95
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 95 Schweizerisches Recht - Mit der Beschwerde kann die Verletzung gerügt werden von:
a  Bundesrecht;
b  Völkerrecht;
c  kantonalen verfassungsmässigen Rechten;
d  kantonalen Bestimmungen über die politische Stimmberechtigung der Bürger und Bürgerinnen und über Volkswahlen und -abstimmungen;
e  interkantonalem Recht.
BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann. In der Berufung der Staatsanwaltschaft und in dem darauffolgenden Schriftenwechsel - einschliesslich der Vernehmlassung vom 3. Februar 2015 - ging es auch um Sachverhaltsfragen. Das Bundesgericht kann diese nicht frei überprüfen, weshalb eine Heilung der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ausgeschlossen ist. Ob die Ausführungen der Staatsanwaltschaft in der dem Beschwerdeführer nicht zugestellten Stellungnahme von Bedeutung waren, ist nicht relevant.

2.
Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2
SR 173.110 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG) - Bundesgerichtsgesetz
BGG Art. 68 Parteientschädigung - 1 Das Bundesgericht bestimmt im Urteil, ob und in welchem Mass die Kosten der obsiegenden Partei von der unterliegenden zu ersetzen sind.
1    Das Bundesgericht bestimmt im Urteil, ob und in welchem Mass die Kosten der obsiegenden Partei von der unterliegenden zu ersetzen sind.
2    Die unterliegende Partei wird in der Regel verpflichtet, der obsiegenden Partei nach Massgabe des Tarifs des Bundesgerichts alle durch den Rechtsstreit verursachten notwendigen Kosten zu ersetzen.
3    Bund, Kantonen und Gemeinden sowie mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betrauten Organisationen wird in der Regel keine Parteientschädigung zugesprochen, wenn sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis obsiegen.
4    Artikel 66 Absätze 3 und 5 ist sinngemäss anwendbar.
5    Der Entscheid der Vorinstanz über die Parteientschädigung wird vom Bundesgericht je nach Ausgang des Verfahrens bestätigt, aufgehoben oder geändert. Dabei kann das Gericht die Entschädigung nach Massgabe des anwendbaren eidgenössischen oder kantonalen Tarifs selbst festsetzen oder die Festsetzung der Vorinstanz übertragen.
BGG). Diese ist praxisgemäss dem Rechtsvertreter auszurichten. Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 26. März 2015 wird aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Franz Hollinger, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 1. Dezember 2015

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: Moses