1994 / 17 - 132

17. Auszug aus dem Urteil der ARK vom 5. Januar 1994
i.S. B. T., Türkei

Art. 3 AsylG: Reflexverfolgung ("Sippenhaft"); objektiver Nachfluchtgrund.

Ein objektiver Nachfluchtgrund kann vorliegen, wenn durch das Verhalten eines Familienmitgliedes die ganze Familie - und somit auch die sich im Ausland befindenden Familienangehörigen - oppositioneller Aktivitäten verdächtigt wird.

Art. 3 LA : persécution réfléchie ("coresponsabilité familiale"); motifs objectifs postérieurs à la fuite.

Le fait que toute la famille, y compris la parenté se trouvant à l'étranger, soit soupçonnée d'opposition active en raison du comportement de l'un de ses membres peut constituer un motif objectif postérieur à la fuite.

Art. 3 LA: persecuzione riflessa (corresponsabilità familiare); motivi oggettivi insorti dopo la fuga.

Può costituire motivo oggettivo insorto dopo la fuga il fatto che tutti i membri di una famiglia, compresi i parenti residenti all'estero, siano sospettati d'attività d'opposizione in ragione del comportamento di uno di essi.

Zusammenfassung des Sachverhaltes:

Die Beschwerdeführerin verliess die Türkei am 5. Mai 1988 und gelangte am 17. Mai 1988 in die Schweiz, wo sie am 20. Mai 1988 ein Asylgesuch stellte. Nach einer Kurzbefragung in der Empfangsstelle Basel wurde sie für die Dauer des Verfahrens dem Kanton Basel-Landschaft zugewiesen. Die kantonale Fremdenpolizei befragte sie am 18. September 1989 zu den Asylgründen. Im wesentlichen machte die Beschwerdeführerin dabei geltend, sie sei wegen ihrer drei Brüder, welche in der Schweiz um Asyl nachgesucht hätten, wieder-


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holt von den türkischen Sicherheitskräften belästigt worden, indem man sie nach deren Aufenthaltsorten gefragt habe. Auch hätten in ihrem Heimatdorf Razzien stattgefunden und man habe ihr Haus nach Waffen durchsucht. Sie sei jedoch nie verhaftet worden.

Am 9. August 1988 wurde das Asylgesuch des Bruders V. T. der Beschwerdeführerin letztinstanzlich abgewiesen und dessen Wegweisung aus der Schweiz verfügt. Einige Monate nach der Ausschaffung von V. T. in die Türkei wurde dieser in ein Ermittlungsverfahren verwickelt, in dessen Folge er am 29. Juni 1989 festgenommen und misshandelt wurde. Die gegen ihn am 10. Juli 1989 erhobene Anklage beim Staatssicherheitsgericht Malatya wegen Hilfeleistung für eine Bande (in casu PKK) wurde am 12. Dezember 1989 mangels Beweisen abgewiesen und V. T., der sich seit 14. November 1989 wieder auf freiem Fuss befand, freigesprochen. Am 3. Mai 1990 reiste V. T. erneut in die Schweiz ein. Aufgrund der begründeten Furcht von V. T., in Zukunft weiteren Verfolgungsmassnahmen ausgesetzt zu werden, wurde dessen zweites Asylgesuch am 14. September 1990 durch den Delegierten für das Flüchtlingswesen (neu: BFF) gutgeheissen.

Mit Verfügung vom 22. Mai 1992 lehnte das BFF das Asylgesuch der Beschwerdeführerin ab.
Mit Eingabe vom 16. Juni 1992 beantragte die Beschwerdeführerin durch ihren Rechtsvertreter, es sei die Verfügung des BFF vom 22. Mai 1992 aufzuheben und es sei ihr Asyl zu gewähren.

Im November 1992 fanden in der Schweiz die Delegiertenwahlen für ein kurdisches Nationalparlament statt, für welches unter anderem auch die Beschwerdeführerin kandidierte.

Im Rahmen der Vernehmlassung hob das BFF seine Verfügung vom 22. Mai 1992 am 5. März 1993 wiedererwägungsweise auf und stellte die Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführerin aufgrund ihres politischen Engagements in der Schweiz fest. Gleichzeitig wurde verfügt, das Asylgesuch bleibe gestützt auf Artikel 8a AsylG als Asylausschlussgrund abgelehnt. Die Beschwerdeführerin werde aus der Schweiz weggewiesen. Der Vollzug der Wegweisung werde jedoch durch eine vorläufige Aufnahme ersetzt, da eine Rückschaffung in den Heimatstaat im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zulässig sei.


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Auf entsprechende Anfrage der Kommission vom 10. März 1993 liess die Beschwerdeführerin mit Eingabe vom 2. April 1993 ausführen, dass sie an den Anträgen in ihrer Beschwerde festhalte.

Die ARK heisst die Beschwerde gut.

Aus den Erwägungen:

3. - Die Vorinstanz hat das Asylgesuch mit der Begründung abgelehnt, die von der Beschwerdeführerin angeführten Behelligungen seien zu wenig intensiv, um als ernsthafte Nachteile im Sinne von Artikel 3
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
3    Keine Flüchtlinge sind Personen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Vorbehalten bleibt die Einhaltung des Abkommens vom 28. Juli 19514 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingskonvention).5
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
AsylG zu gelten. Weiter bestünden keine Hinweise dafür, dass die Beschwerdeführerin habe befürchten müssen, künftig asylrelevanten staatlichen Verfolgungsmassnahmen ausgesetzt zu werden, da sie zum einen nie festgenommen worden sei und zum anderen vor ihrer Ausreise einen Reisepass erhalten habe.

a) - Demgegenüber wird in der Rechtsmitteleingabe geltend gemacht, die Flüchtlingseigenschaft müsse an objektiven Kriterien gemessen werden, an die sich auch die entscheidenden Asylbehörden zu halten hätten.

Dazu ist generell festzuhalten, dass nicht alle Benachteiligungen durch staatliche Behörden genügend intensiv sind, um als asylrelevante Verfolgung eingestuft zu werden. Diese Betrachtungsweise entspricht nicht nur der Praxis der schweizerischen Asylbehörden, sondern auch der Meinung der herrschenden Doktrin (vgl. dazu W. Kälin, Grundriss des Asylverfahrens, Basel und Frankfurt am Main 1990, S. 49, 75, 83 ff. und 95; Handbuch UNHCR, Ziffer 70; A. Achermann/Ch. Hausammann, Handbuch des Asylrechts, 2. Aufl., Bern und Stuttgart 1991, S. 77 und 92). Den von der Beschwerdeführerin angeführten Behelligungen - Befragungen nach dem Aufenthaltsort der Brüder, Razzien im Dorf und Hausdurchsuchungen - mangelt es in casu an der zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorausgesetzten Intensität.

b) - Weiter wird in der Beschwerdeschrift angeführt, es bestünden genügend Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerin auch künftig behördliche Verfolgungsmassnahmen zu befürchten habe. Insbesondere würde sie bei einer allfälligen Einreise in die Türkei sofort verhaftet werden. Dies sei auch ihrem in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Bruder A. T. bei dessen Rückkehr in das Heimatland widerfahren. Zudem sei dessen türkischer Pass konfisziert und erst nach sechs Monaten wieder zurückgegeben worden. Auch ihr


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Bruder V. T. sei nach dessen Rückschiebung in die Türkei in menschenrechtswidriger Art und Weise behandelt worden, so dass sein zweites Asylgesuch in der Schweiz schliesslich gutgeheissen worden sei. Aufgrund der in der Türkei in politischen Angelegenheiten praktizierten Sippenhaft sei die Gefährdung der Beschwerdeführerin offensichtlich. In der Eingabe vom 2. April 1993 wird ferner angeführt, dass weitere Brüder im Ausland Asyl erhalten hätten. Sämtliche Familienmitglieder der Beschwerdeführerin seien aufgrund der politischen Aktivitäten der Brüder auf das Aeusserste gefährdet.

(...) Objektive Nachfluchtgründe nehmen Bezug auf Ereignisse im Heimatland, welche sich erst nach der Ausreise des Ausländers und unabhängig von dessen Verhalten ereignet haben und ihn bei einer Rückkehr in den Heimatstaat in eine asylrelevante Verfolgungssituation bringen würden. Bei diesen Fällen wird bezüglich der Beurteilung der begründeten Furcht vor Verfolgung auf den Zeitpunkt der Entscheidfällung abgestellt (vgl. W. Kälin, a.a.O., S. 131).

Zunächst stellt sich die Frage, ob die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt ihrer Ausreise begründete Furcht hatte, in asylrelevanter Weise verfolgt zu werden. (...)

[Ausführungen zum Begriff der "begründeten Furcht".]

Aufgrund der Aktenlage ergeben sich indessen keinerlei Hinweise dafür, dass die Beschwerdeführerin gestützt auf die erlebten Behelligungen Grund zur Annahme haben musste, künftig Nachteilen im Sinne von Artikel 3
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
3    Keine Flüchtlinge sind Personen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Vorbehalten bleibt die Einhaltung des Abkommens vom 28. Juli 19514 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingskonvention).5
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
AsylG ausgesetzt zu werden.

Die Beschwerdeführerin hat im Jahre 1988 die Türkei verlassen. Gegen ihren Bruder V. T. wurde 1989 in der Türkei - nach dessen Rückschiebung - Anklage wegen Hilfeleistungen an die PKK erhoben. Insbesondere wurde er verdächtigt, von der PKK zu Spitzelzwecken zurück in die Türkei geschickt worden zu sein. Trotz Freispruch fühlte sich V. T. durch die türkischen Sicherheitskräfte weiterhin observiert, so dass er 1990 sein Heimatland erneut verliess. Dieses Ereignis trug sich erst nach der Ausreise der Beschwerdeführerin zu, weshalb zu prüfen ist, ob damit ein objektiver Nachfluchtgrund für die Beschwerdeführerin begründet wurde. Bei Vorliegen eines objektiven Nachfluchtgrundes wird im Ergebnis Asyl gewährt, wenn die Furcht vor Verfolgung im Zeitpunkt des Asylentscheides begründet ist (vgl. W. Kälin, a.a.O., S. 131). Ein objektiver Nachfluchtgrund wird unter anderem darin gesehen, wenn durch das Verhalten eines Familienmitgliedes die ganze Familie - und


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somit auch die sich im Ausland befindenden Familienangehörigen - in Ungnade gefallen ist (vgl. A. Achermann/Ch. Hausammann, a.a.O., S. 111).

Es ist bekannt, dass die türkischen Behörden und insbesondere die Sicherheitskräfte äusserst rigoros gegen Mitglieder der PKK vorgehen. Auch Personen, die in irgendeiner Weise in Verbindung mit der PKK gebracht werden, z.B. wenn sie in Verdacht stehen, deren Mitglieder aktiv oder logistisch zu unterstützen, werden teilweise massiv behelligt. Diese Behelligungen erstrecken sich nicht selten auch auf nahe Angehörige. Auch wenn die Sippenhaft im juristisch-technischen Sinn (als gesetzlich erlaubte Haftbarmachung einer ganze Sippe/Familie für Vergehen einzelner Angehöriger) in der Türkei nicht existiert, ist bekannt, dass "Sippenhaft" (als polizeiliche Repressalien gegen Familienangehörige politischer Aktivisten) in der Form der Reflexverfolgung angewandt wird. Diese Art der "Sippenhaft" im Sinne einer Reflexverfolgung ist insbesondere für die Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne von Artikel 3
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AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
3    Keine Flüchtlinge sind Personen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Vorbehalten bleibt die Einhaltung des Abkommens vom 28. Juli 19514 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingskonvention).5
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
AsylG relevant. Der Bruder der Beschwerdeführerin, V. T., ist nach seiner Rückführung in die Türkei im Jahre 1988 in ein Strafverfahren betreffend Unterstützungsleistungen an die PKK verwickelt worden. Aufgrund der besonderen Umstände wurde das Schicksal von V. T. nicht nur in der Schweiz, sondern auch in der Türkei einer
breiteren Oeffentlichkeit bekannt. Allein der Umstand, dass die Beschwerdeführerin mit V. T. verwandt ist, vermag für sich allein zwar noch nicht die Annahme einer begründeten Furcht zu rechtfertigen. Gemäss Angaben der Beschwerdeführerin wohnen zwei ihrer Brüder, beide Schwestern sowie ihre Mutter in der Türkei, wobei alle bis auf eine Schwester im Heimatdorf geblieben sind. Ob diese Familienangehörigen aufgrund ihrer Verwandtschaft zu V. T. in asylrelevanter Weise behelligt worden sind, steht zwar nicht mit Sicherheit fest. Indessen ergeben sich aus den beigezogenen Akten von V. T. Indizien hiefür. Sodann ist festzustellen, dass insgesamt vier Brüder der Beschwerdeführerin seit längerer Zeit im Ausland leben, wovon mindestens einer von den türkischen Behörden mit der PKK in Verbindung gebracht wird beziehungsweise gebracht worden ist. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr in die Türkei durch die dortigen Sicherheitskräfte nach dem Verbleib ihrer Brüder und insbesondere nach demjenigen des Bruders V. T. sowie nach dessen politischen Aktivitäten befragt und auch unter Druck gesetzt würde. Insbesondere scheint es durchaus nachvollziehbar, dass die türkischen Behörden
davon überzeugt sein werden, die Beschwerdeführerin sei während ihres Aufenthaltes in der Schweiz in Kontakt mit V. T. gestanden und besitze somit auch - im Gegensatz zu den im Heimatland verbliebenen Geschwistern - Kenntnisse über seine Beziehungen zur PKK. Dies umso mehr,


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als es den türkischen Behörden bekannt geworden sein dürfte, dass die Beschwerdeführerin im November 1992 als Delegierte für ein kurdisches Nationalparlament gewählt und somit mit der "kurdischen" Sache in Verbindung gebracht wird. Weiter scheint der Beschwerdeführerin die Möglichkeit, den zu erwartenden Behelligungen durch Wohnsitznahme in einer anderen Region der Türkei zu entgehen, nicht offenzustehen, da anzunehmen ist, dass ihre Identität und somit ihre verwandtschaftliche Beziehung zu V. T. bereits bei den streng durchgeführten Einreisekontrollen festgestellt werden. Diese Annahme wird insbesondere bestätigt durch die Festnahme des in Deutschland lebenden Bruders A. T. bei seiner Einreise in die Türkei im Jahre 1991 sowie die Konfiszierung seines Passes.

Aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls ist davon auszugehen, dass durch das Verhalten des Bruders V. T. und die damit zusammenhängenden Begleitumstände ein objektiver Nachfluchtgrund für die Beschwerdeführerin gegeben ist, aufgrund dessen sie im heutigen Zeitpunkt begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Artikel 3
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AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
3    Keine Flüchtlinge sind Personen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Vorbehalten bleibt die Einhaltung des Abkommens vom 28. Juli 19514 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingskonvention).5
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
AsylG hat.

4. - Die Vorinstanz hat mit Verfügung vom 5. März 1993 in der Annahme eines subjektiven Nachfluchtgrundes die Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführerin zuerkannt, aber gleichzeitig unter Hinweis auf Artikel 8a AsylG festgestellt, dass das Asylgesuch abgelehnt bleibe.

In ihrer Eingabe vom 2. April 1993 bestreitet die Beschwerdeführerin, dass ein Asylausschlussgrund vorliege. Aufgrund ihrer Stellung als Frau in der Türkei sei es ihr verwehrt gewesen, in ihrem Heimatland politisch in Erscheinung zu treten. Dies sei ihr erst in der Schweiz möglich gewesen. Das Asylgesuch sei aufgrund ihrer politischen Tätigkeit gutzuheissen.

(...) Die Beschwerdeführerin hat zur Begründung ihres Asylgesuches anlässlich der Befragung weder politische Ambitionen noch staatliche Verfolgung aufgrund ihrer politischen Anschauungen geltend gemacht. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin diesbezüglich bei ihrer Ausreise keinerlei asylrelevante Befürchtungen hatte. Aus den Akten ist weiter zu ersehen, dass die Beschwerdeführerin erst Jahre nach ihrer Einreise in die Schweiz politisch aktiv geworden ist. Damit hat die Beschwerdeführerin - wie die Vorinstanz zu Recht festgestellt hat - einen subjektiven Nachfluchtgrund geschaffen, welcher für sich allein betrachtet jedoch nicht zur Gutheissung des Asylgesuches führen könnte (vgl. Art. 8a AsylG). Aus den Erwägungen in Ziffer 3 ergibt sich indessen, dass die Beschwerdeführerin heute aufgrund eines


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objektiven Nachfluchtgrundes begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Artikel 3 Absatz 1
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
3    Keine Flüchtlinge sind Personen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Vorbehalten bleibt die Einhaltung des Abkommens vom 28. Juli 19514 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Flüchtlingskonvention).5
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
in fine AsylG hat. Die Verfügung des BFF vom 5. März 1993 ist deshalb bezüglich der Ziffern 2 bis 5 aufzuheben und der Beschwerdeführerin ist Asyl zu gewähren.


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Document : 1994-17-132-138
Date : 05. Januar 1994
Published : 05. Januar 1994
Source : Vorgängerbehörden des BVGer bis 2006
Status : Publiziert als 1994-17-132-138
Subject area : Türkei
Subject : Art. 3 AsylG: Reflexverfolgung ("Sippenhaft"); objektiver Nachfluchtgrund.


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AsylG: 3  8a
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