Urteilskopf

2008/4

Auszug aus dem Urteil der Abteilung V i. S. K. gegen Bundesamt für Migration
E-6982/2006 vom 22. Januar 2008


Regeste Deutsch

Schutzfähigkeit und Schutzwille der kurdischen Behörden im Nordirak. Lageanalyse. Grundsatzurteil.
Art. 3
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
AsylG.
1. Die Sicherheits- und Justizbehörden der drei irakisch-kurdischen Nordprovinzen sind grundsätzlich in der Lage (E. 6.1-6.5) und willens (E. 6.6-6.7), den Einwohnern der drei nordirakischen Provinzen Schutz vor Verfolgung zu gewähren.
2. Vorbehalte sind namentlich in Bezug auf Kritiker der beiden Mehrheitsparteien, kritische Medienschaffende, Islamisten, aus dem Zentralirak eingewanderte alleinstehende arabische Männer und allenfalls in Bezug auf sich gegen den kurdischen Machtanspruch stellende Angehörige von ethnischen oder religiösen Minderheiten angebracht. Auch bezüglich der Effektivität der Schutzgewährung für von privater Seite Verfolgte bestehen Vorbehalte (E. 6.6-6.7).
3. Eine innerkurdische Fluchtalternative ist nur mit Zurückhaltung anzunehmen (E. 6.7).
4. Für Araber und andere nicht-kurdische Iraker aus dem Zentral- und Südirak kann nicht automatisch vom Bestehen der innerstaatlichen Niederlassungsfreiheit und der Schutzgewährung durch die kurdischen Behörden ausgegangen werden; das Bestehen einer allfälligen Fluchtalternative im Nordirak bedarf einer Einzelfallprüfung (E. 6.6.1).


Regeste en français

Capacité et volonté de protection des autorités kurdes dans le nord de l'Irak. Analyse de la situation. Arrêt de principe.
Art. 3 LAsi.
1. Les forces de l'ordre et les autorités judiciaires des trois provinces kurdes du nord de l'Irak ont, en principe, la capacité (consid. 6.1-6.5) et la volonté (consid. 6.6-6.7) de protéger les habitants de ces trois provinces contre des persécutions.
2. Des réserves s'imposent toutefois, particulièrement en ce qui concerne les personnes qui critiquent les deux partis majoritaires, les journalistes critiques, les islamistes, les hommes arabes seuls émigrés du centre de l'Irak, éventuellement aussi les membres de minorités ethniques ou religieuses qui s'opposent au pouvoir kurde. Des réserves se justifient aussi en ce qui concerne l'efficacité de la protection des personnes persécutées par des personnes privées (consid. 6.6-6.7).
3. L'existence d'une possibilité de refuge interne en pays kurde ne doit être admise qu'avec circonspection (consid. 6.7).
4. Il ne peut être automatiquement admis que les Arabes et les autres Irakiens non kurdes provenant du centre et du sud de l'Irak jouissent de la liberté d'établissement interne et d'une garantie de protection de la part des autorités kurdes; c'est donc au cas par cas qu'il faut examiner l'existence d'une éventuelle possibilité de refuge dans le nord de l'Irak (consid. 6.6.1).


Regesto in italiano

Capacità e volontà di protezione delle autorità curde nell'Iraq del nord. Analisi della situazione. Sentenza di principio.
Art. 3 LAsi.
1. Le forze dell'ordine e le autorità giudiziarie delle tre province curde del nord dell'Iraq hanno, di principio, la capacità (consid. 6.1-6.5) e la volontà (consid. 6.6-6.7) di garantire agli abitanti delle tre province la protezione dalle persecuzioni.
2. Delle riserve s'impongono segnatamente per le persone che biasimano i due partiti maggioritari, per i giornalisti critici, per gli islamisti, per gli uomini arabi soli emigrati dal centro dell'Iraq, ed eventualmente per i membri delle minoranze etniche o religiose che si oppongono alle rivendicazioni di potere dei curdi. Ulteriori riserve si giustificano pure per quanto attiene all'efficacia della protezione delle persone perseguitate da privati (consid. 6.6-6.7).
3. Un'alternativa di rifugio interna nel Curdistan iracheno va ammessa con cautela (consid. 6.7).
4. Non si può automaticamente ritenere che gli arabi e gli altri iracheni non curdi originari del centro e del sud dell'Iraq fruiscano della libertà di domicilio interna e di un'appropriata protezione da parte delle autorità curde; l'esistenza di un'eventuale alternativa di rifugio nell'Iraq del nord necessita d'un esame individualizzato (consid. 6.6.1).


Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit aus Suleimaniya im Nordirak, stellte am 23. Juni 1999 in der Schweiz ein Asylgesuch.
Er machte im Wesentlichen geltend, er sei seit 1995 Mitglied der Kommunistischen Partei Kurdistans (Hizbi Schuyii Kurdistani Irak, KCP-I). Deren Ziel sei die Entmachtung der irakischen Regierung, die Stärkung der Frauenrechte sowie die Verhinderung der Gründung einer islamischen Republik gewesen. Am 29. Mai 1999 hätten er und sein Bruder an einem von der islamischen Frauenunion von Suleimaniya organisierten öffentlichen Seminar zum Thema « Gerechtigkeit und Rechte der Frauen im Islam » teilgenommen. Nach einigen Äusserungen von Islamisten habe er das Wort ergriffen und Kritik an der Unterdrückung und Benachteiligung der Frauen im Islam, an der Polygamie sowie an Zwangsheiraten geübt. Seine Bemerkungen hätten für Aufruhr gesorgt und man habe ihm das Mikrofon weggenommen. Von einigen Fundamentalisten seien Todesdrohungen gegen ihn ausgesprochen worden, so dass er den Saal aus Sicherheitsgründen habe verlassen müssen. Er sei nicht mehr nach Hause gegangen, sondern habe sich zum Sitz seiner Partei begeben und dort auch die Nacht verbracht. Am nächsten Tag habe eine islamistische Partei (Harakai Islam, heute Jund al-Islam), zu welcher auch die Frauenunion gehöre, zu seiner Tötung aufgerufen, weil er durch seine Äusserungen gegen die
Scharia verstossen habe. Dieser Mordaufruf sei im Radio und in einigen Moscheen verlesen sowie an politische Parteien und Organisationen verschickt worden. Sein Vater habe ihm geraten, nicht mehr nach Hause zurückzukehren, da die Islamisten in ihrem Quartier stark organisiert seien. Auch aus Angst um seine als kommunistisch bekannte und politisch denkende Familie habe er die Stadt und am folgenden Tag Kurdistan Richtung Iran verlassen. Ein Aufenthalt in einer anderen Region Nordiraks sei nicht möglich gewesen, da sowohl die Baathisten als auch die Islamisten überall aktiv seien, und auch im von der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) kontrollierten Teil Nordiraks keine Demokratie und kein Schutz herrsche. Aus der Türkei wäre er ausserdem wieder in den Irak zurückgeschoben worden.
Der Beschwerdeführer machte weiter geltend, dass sowohl die Patriotische Union Kurdistans (PUK), die seine Heimatregion kontrolliere, als auch die Islamisten von Teheran unterstützt würden. Aus diesem Grund habe er sich nicht um Schutzgewährung vor den Islamisten an die PUK wenden können, da es sich diese nicht mit ihrem Geldgeber habe verderben wollen. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Kurdistans sei er zudem ein erklärter Feind des Saddam-Regimes gewesen und habe folglich keinen Schutz vom irakischen Staat erwarten können.
Mit Verfügung vom 27. November 2002 verneinte das Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers und lehnte sein Asylgesuch ab. Die Vorinstanz erachtete den Wegweisungsvollzug indessen als unzulässig und ordnete die vorläufige Aufnahme des Beschwerdeführers in der Schweiz an.
Als Begründung führte das BFF im Wesentlichen an, der Schutzwille der PUK, der machthabenden Partei in der Region des Beschwerdeführers, sei zu bejahen. Die Partei des Beschwerdeführers habe - im Gegensatz zu anderen kommunistischen Parteien - nie spezifische Probleme mit den PUK-Behörden gehabt; sie habe vielmehr eine konstruktive Vermittlerrolle zwischen den rivalisierenden kurdischen Parteien eingenommen. Der Beschwerdeführer habe auch keine Probleme mit der PUK geltend gemacht. Angesichts der geltend gemachten Exponierung des Beschwerdeführers erscheine die Schutzfähigkeit der PUK-Behörden gegenüber islamistischen Übergriffen jedoch fraglich, womit dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Heimatstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine durch Art. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, SR 0.101) verbotene Strafe oder Behandlung drohe. Deshalb erachte das BFF den Vollzug der Wegweisung als nicht zulässig und sei der Beschwerdeführer in der Schweiz vorläufig aufzunehmen.
Mit Beschwerde vom 28. Dezember 2002 an die Schweizerische Asylrekurskommission (ARK) beantragte der Beschwerdeführer die Aufhebung der vorinstanzlichen Verfügung, die Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft und die Gewährung von Asyl.
Mit Vernehmlassung vom 5. März 2003 beantragte die Vorinstanz die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) heisst die Beschwerde gut, hebt die angefochtene Verfügung auf und weist das Bundesamt für Migration (BFM) an, dem Beschwerdeführer in der Schweiz Asyl zu gewähren.
Die unter Ziffern 5-6 aufgeführten Erwägungen bildeten Gegenstand eines von der Vereinigung der Abteilungen IV und V im Sinne von Art. 25 Abs. 2
SR 173.32 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG) - Verwaltungsgerichtsgesetz
VGG Art. 25 Praxisänderung und Präjudiz - 1 Eine Abteilung kann eine Rechtsfrage nur dann abweichend von einem früheren Entscheid einer oder mehrerer anderer Abteilungen entscheiden, wenn die Vereinigung der betroffenen Abteilungen zustimmt.
1    Eine Abteilung kann eine Rechtsfrage nur dann abweichend von einem früheren Entscheid einer oder mehrerer anderer Abteilungen entscheiden, wenn die Vereinigung der betroffenen Abteilungen zustimmt.
2    Hat eine Abteilung eine Rechtsfrage zu entscheiden, die mehrere Abteilungen betrifft, so holt sie die Zustimmung der Vereinigung aller betroffenen Abteilungen ein, sofern sie dies für die Rechtsfortbildung oder die Einheit der Rechtsprechung für angezeigt hält.
3    Beschlüsse der Vereinigung der betroffenen Abteilungen sind gültig, wenn an der Sitzung oder am Zirkulationsverfahren mindestens zwei Drittel der Richter und Richterinnen jeder betroffenen Abteilung teilnehmen. Der Beschluss wird ohne Parteiverhandlung gefasst und ist für die Antrag stellende Abteilung bei der Beurteilung des Streitfalles verbindlich.
des Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005 (VGG, SR 173.32) getroffenen Entscheides.


Aus den Erwägungen:

4.

4.1 In seiner Beschwerde und mittels der eingereichten Dokumente zeichnete der Beschwerdeführer folgendes Bild seiner Bedrohungslage: In der auf das Frauenseminar folgenden Nacht sei das Haus seiner Familie von Islamisten durchsucht und seine Familie bedroht worden. Zwei Tage später, nachdem der Beschwerdeführer Kurdistan schon verlassen habe, habe sich sein Vater schriftlich an die Asaish, die Sicherheitsbehörde der PUK, gewandt und um Schutz ersucht. In ihrem Antwortschreiben hätten die Behörden festgehalten, dass es ihnen nicht gelungen sei, Informationen über die Verfolger beizubringen. Der Beschwerdeführer müsse sich jedoch in Acht nehmen und bei einem allfälligen Übergriff versuchen, die Gruppe zu identifizieren und sie der Asaish melden, damit sie festgenommen werden könnte.
Der Beschwerdeführer hielt fest, dieses Schreiben erhelle, dass die Sicherheitsbehörden der PUK nicht gegen die Morddrohung der Islamisten und ihre politischen Aktivitäten hätten vorgehen wollen, da sie keine Anstrengungen gegen die Bedrohungen unternommen hätten. Die Asaish, welche die Funktion einer Polizei in den von der PUK kontrollierten Gebieten einnehme, hätte sich zumindest vor Ort ein Bild machen und die Urheber des Mordaufrufs zur Rede stellen sollen. Indem die Sicherheitsbehörde nicht einmal gegen den Aufruf protestiert, bei der islamistischen Bewegung interveniert oder dem Beschwerdeführer und seiner Familie Schutz angeboten habe, habe sie die Übergriffe tatenlos hingenommen und implizit sogar gebilligt. Vor diesem Hintergrund sei vorliegend die publizierte Feststellung der ARK nicht anwendbar, wonach aufgrund der kämpferischen Auseinandersetzungen zwischen der PUK und der islamistischen Bewegung im Halabja-Gebiet nicht geschlossen werden könne, dass die Übergriffe der Islamisten von der PUK gebilligt würden (Entscheide und Mitteilungen der ARK EMARK 2002 Nr. 16 E. 5.c.bb S. 132 f.). Diese ausschliesslich militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PUK und den Islamisten könnten im Übrigen nicht in jedem Fall als
Hinweis dienen, dass die PUK auch politisch ihren polizeilichen Pflichten nachkomme und den Willen habe, öffentlich gegen die Islamisten vorzugehen.
Als Mitglied einer kommunistischen Partei, deren Ziel die Errichtung eines « demokratisch-sozialistischen Systems » sei und welche die geltenden hierarchisch-feudalistischen Machtverhältnisse in Frage stelle, sei der Beschwerdeführer immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, dass den machthabenden Parteien (KDP und PUK) nicht zu trauen sei. Die Schutzunfähigkeit der PUK und ihr mangelnder Wille einzugreifen sei durch verschiedene Übergriffe von Islamisten gegen Kommunisten bestätigt worden. Im Übrigen habe auch die ARK festgestellt, dass in Bezug auf den Willen und die Fähigkeit der PUK (und der KDP), Schutz gegen Verfolgungen oder Bedrohungen durch islamistische Gruppen zu gewähren, Vorbehalte angezeigt seien. So seien namentlich im PUK-kontrollierten Gebiet islamistische Kreise in der Regierung mitvertreten, und es bestehe mit Rücksichtnahme auf iranische Interessen ein gewisser Druck, islamistische Aktivitäten zu tolerieren EMARK 2000 Nr. 15 E. 11d S. 127).
Die Verfolgung des Beschwerdeführers durch die islamistische Bewegung sei asylrechtlich relevant. Die mittelbare Verfolgung werde vom machthabenden Quasistaat gebilligt und tatenlos hingenommen, weshalb dem Beschwerdeführer aufgrund der erlittenen Verfolgung in der Schweiz Asyl zu gewähren sei.

4.2 Dem hielt die Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung entgegen, es treffe nicht zu, dass die Asaish die islamistischen Übergriffe gegen den Beschwerdeführer implizit gebilligt hätten. Eine solche Interpretation des Schreibens der Behörde an den Vater des Beschwerdeführers werde dem Wortlaut des Textes nicht gerecht. Diesem sei unmissverständlich zu entnehmen, dass die Sicherheitsbehörden sehr wohl die Absicht gehabt hätten, den Beschwerdeführer zu schützen und nach der Identifikation die Angreifer zu verhaften. Der Schutzwille der PUK-Behörden müsse daher eindeutig bejaht werden.

4.3 In seiner Replik hielt der Beschwerdeführer an seiner Position fest, dass es den PUK-Sicherheitsbehörden sowohl am Schutzwillen als auch an der Schutzfähigkeit mangele. Durch den Brief seines Vaters - der einem Strafantrag gleichkomme - sei die Behörde sehr wohl informiert gewesen, welche Islamistengruppe für den Überfall auf das Haus seiner Familie verantwortlich gewesen sei. Dennoch habe die Asaish nicht reagiert, wie man das von einer Sicherheitsbehörde bei Kenntnisnahme einer Straftat erwarten würde, denn es seien keine Untersuchung eingeleitet und keine Schutzmassnahmen angeboten worden.

4.4 In seiner abschliessenden Eingabe hielt der Beschwerdeführer fest, dass die Lage im Jahr 2007 im Nordirak nach wie vor sehr angespannt sei und die soziale Situation von Unsicherheit und Angst geprägt sei. Bombenanschläge, schwerste Misshandlungen sowie Totschlag auf offener Strasse ohne Einschreiten der lokalen Polizei prägten das Bild im Nordirak. Es gebe nach wie vor keine öffentliche Sicherheit und es bestehe kein effektiver Schutz seitens der Polizei vor Verfolgung.

5.

5.1 Zunächst ist im Hinblick auf die vorzunehmende Prüfung, ob die Vorinstanz zu Recht die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers verneint und sein Asylgesuch abgewiesen hat, festzustellen, dass die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Umstände, die zum Entschluss der Ausreise aus dem Heimatstaat geführt haben, als erstellt im Sinne der oben geschilderten Fluchtgeschichte zu erachten sind. Die Vorinstanz hat in ihrem Entscheid denn auch in keiner Weise die Glaubhaftigkeit der Asylbegründung in Frage gestellt, erachtete sie doch einen Vollzug der Wegweisung des Beschwerdeführers in seinen Heimatstaat als unzulässig, da Anhaltspunkte dafür bestünden, dass ihm im Falle einer Rückkehr eine menschenrechtswidrige Behandlung oder Strafe (gemäss Art. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK) drohe. Der nachfolgenden Beurteilung werden daher die im Asylverfahren geltend gemachten Fluchtgründe zugrunde gelegt.

5.2 Mit dem Grundsatzentscheid EMARK 2006 Nr. 18 wurde in der Zwischenzeit (seit dem vorliegend angefochtenen Bundesamts-Entscheid) im schweizerischen Asylrecht in Abwendung von der Zurechenbarkeitstheorie die sogenannte Schutztheorie anerkannt. Dergemäss kann heute die private Verfolgung im schutzunfähigen Staat ebenfalls flüchtlingsrelevant sein. Die Schutztheorie besagt, dass die Flüchtlingseigenschaft von Asylsuchenden, welche im Herkunftsland - unter asylrechtlich im Übrigen relevanten Umständen - von nichtstaatlicher Verfolgung bedroht sind, zu verneinen ist, wenn in diesem Staat Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung erhältlich ist. Dieser kann sowohl durch den Heimatstaat als auch durch einen im Sinne der Rechtsprechung besonders qualifizierten Quasi-Staat gewährt werden. Der Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung auf tieferem institutionellem Niveau - beispielsweise durch einen Clan, durch eine (Gross-) Familie oder auf individuell-privater Basis - wäre jedenfalls nicht als ausreichend zu beurteilen (vgl. EMARK 2006 Nr. 18 E. 10.2.3 S. 202 f.).
In Bezug auf das vorliegende Verfahren bedeutet dies, dass sich die Frage der mittelbaren Verfolgung durch die PUK-Behörden durch Billigung der Verfolgung durch private Dritte (in casu Islamisten) - wie vom Beschwerdeführer geltend gemacht - erübrigt, da nicht mehr untersucht werden muss, ob das private Verhalten allenfalls den staatlichen Strukturen zuzurechnen ist; massgebend ist einzig, ob der Beschwerdeführer vor einer drohenden privaten Verfolgung beim Staat Schutz finden kann.
Bei der Beurteilung, welche Art beziehungsweise welcher Grad von Schutz im Heimatland als « genügend » zu qualifizieren ist, kann gemäss erwähntem Grundsatzentscheid vollumfänglich auf die bisherige Rechtsprechung abgestellt werden. Zunächst ist nicht eine faktische Garantie des Schutzgewährers für langfristigen individuellen Schutz des von nichtstaatlicher Verfolgung Bedrohten zu verlangen: Keinem Staat gelingt es, die absolute Sicherheit aller seiner Bürger jederzeit und überall zu garantieren. Erforderlich ist vielmehr, dass eine funktionierende und effiziente Schutz-Infrastruktur zur Verfügung steht, wobei in erster Linie an polizeiliche Aufgaben wahrnehmende Organe sowie an ein Rechts- und Justizsystem zu denken ist, das eine effektive Strafverfolgung ermöglicht. Die Inanspruchnahme eines solchen innerstaatlichen Schutzsystems muss dem Betroffenen einerseits objektiv zugänglich sein (unabhängig, bspw., vom Geschlecht oder von der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Minderheit); andererseits muss sie für den Schutzbedürftigen auch individuell zumutbar sein, was beispielsweise dann zu verneinen ist, wenn der Betroffene sich mit einer Strafanzeige der konkreten Gefahr weiterer (oder anderer) Verfolgungsmassnahmen
aussetzen würde. Auch über diese Zumutbarkeitsfrage ist im Rahmen der individuellen Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung des länderspezifischen Kontexts zu entscheiden. Analog der Einwendung einer sicheren innerstaatlichen Fluchtalternative obliegt es der entscheidenden Behörde, die Effektivität des Schutzes vor nichtstaatlicher Verfolgung im Heimatland abzuklären und zu begründen EMARK 2006 Nr. 18 E. 10.3.1 und 10.3.2 S. 203 mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung).

5.3 Auch in tatsächlicher Hinsicht hat sich die Lage seit dem erstinstanzlichen Entscheid grundlegend verändert. Im Nordirak kann nicht mehr von zwei von der PUK beziehungsweise der KDP kontrollierten Quasi-Staaten ausgegangen werden (vgl. EMARK 2000 Nr. 15 und EMARK 2002 Nr. 16). Angesichts der Beteiligung beider Parteien an der irakischen Regierung trifft die Charakterisierung der Quasi-Staatlichkeit nicht mehr zu. Von der KDP oder der PUK beziehungsweise ihren Machtträgern und Behördenvertretern ausgehende Verfolgung wäre entsprechend als staatliche Verfolgung zu betrachten (vgl. dazu EMARK 2006 Nr. 19 E. 4.2 S. 208 f.; zu den staatlichen Strukturen im Nordirak vgl. die folgenden Ausführung in E. 6.1).

5.4 Massgeblich für die Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft ist - entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers - die Situation im Zeitpunkt des Asylentscheides. Ausgangspunkt der Prüfung ist die Frage nach der im Zeitpunkt der Ausreise vorhandenen Furcht vor einer absehbaren Verfolgung im Heimatstaat. Veränderungen der objektiven Situation im Heimatstaat zwischen Ausreise und Asylentscheid sind zugunsten und zulasten der Asylgesuch stellenden Person zu berücksichtigen (vgl. EMARK 2000 Nr. 2 E. 8a, EMARK 1994 Nr. 24 E. 8a; WALTER KÄLIN, Grundriss des Asylverfahrens, Basel/Frankfurt am Main 1990, S. 135 ff.).

5.5 Nach dem Gesagten wird im Folgenden der Frage nachzugehen sein, ob der Beschwerdeführer durch gezielt gegen ihn gerichtete Verfolgungshandlungen und aufgrund eines flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmotivs ernsthafte Nachteile erlitten hat oder er eine begründete Furcht hat, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. In diesem Zusammenhang ist die Frage zu beantworten, ob die nordirakisch-kurdischen Behörden willens und fähig sind, effektiven Schutz vor Verfolgung zu gewähren. Zu diesem Zweck wird in den nachstehenden Erwägungen die politische Lage im Nordirak einer eingehenden Analyse unterzogen.
Zur Lageanalyse wurden Quellen von schweizerischen und ausländischen Regierungs- und Verwaltungsstellen, der Vereinten Nationen (UNO) und des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), von verschiedenen Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen, wissenschaftlichen Instituten und aus der Tagespresse herangezogen. Inbesondere folgende Dokumente wurden der Lageeinschätzung zugrunde gelegt:
- UNHCR's Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Iraqi Asylum-Seekers, August 2007;
- GUIDO STEINBERG, Der Irak zwischen Föderalismus und Staatszerfall, Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin (SWP), Juli 2007;
- Human Rights Watch (HRW), Caught in the Whirlwind - Torture and Denial of Due Process by the Kurdistan Security Forces, Juli 2007;
- Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Irak-Update, 22. Mai 2007;
- UK-Home Office (Home Office), Country of Origin Information Report - Iraq, 30. April 2007;
- International Crisis Group (ICG), Iraq and the Kurds: Resolving the Kirkuk Crisis, Middle East Report N° 64, 19. April 2007;
- European Council on Refugees and Exiles (ECRE), Guidelines on the Treatment of Iraqi Asylum Seekers and Refugees in Europe, April 2007;
- United Nations Assistance Mission for Iraq (UNAMI), Human Rights Report, 1 January - 31 March 2007;
- Institute for War and Peace Reporting (IWPR), Above the Law, Iraq Crisis Report (ICR) 215, 16. März 2007;
- Minority Rights Group International (MRGI), Assimilation, Exodus, Eradication: Iraq's minority communities since 2003, 16. Februar 2007;
- IWPR, When Warriors Become Politicians, ICR 210, 1. Februar 2007;
- UNHCR-Hinweise zu den Schutzbedürfnissen und Möglichkeiten der Rückkehr von Irakern, die sich ausserhalb des Irak aufhalten, 18. Dezember 2006;
- UNHCR-Guidelines Relating to the Eligibility of Iraqi Asylum-Seekers, Oktober 2005;
- UNHCR-Country of Origin Information - Iraq (COI), Oktober 2005;
- ICG, Iraq and the Kurds: The brewing battle over Kirkuk, Middle East Report N° 56, 18. Juli 2006.

6. Die generelle Lage im kurdischen Nordirak stellt sich folgendermassen dar:

6.1 In den drei nordirakischen Provinzen Dohuk, Erbil und Suleimaniya, die seit 1992 die Autonome Region Kurdistan bilden, leben ca. 4 Millionen Menschen, von denen der überwiegende Teil kurdischer Ethnie und sunnitischen Glaubens ist. Daneben finden sich kleine Minderheiten von Arabern, Assyrern, Chaldäern, Turkmenen und Armeniern. Die schnell wachsende Bevölkerung der Region ist sehr jung: Über 50 % sind weniger als 20 Jahre alt, und nur gerade 4 % der Bevölkerung sind älter als 64 Jahre.
Der politische Umsturz im Zentral- und Südirak, der mit der Intervention der US-Armee und ihren Verbündeten sowie mit der anschliessenden Besetzung einherging, rüttelte nicht am autonomen Status der drei kurdischen Nordprovinzen Dohuk, Erbil und Suleimaniya (vgl. dazu schon EMARK 2006 Nr. 19 E. 4.1. S. 208). Artikel 117 der im Jahre 2005 in Kraft getretenen neuen irakischen Verfassung anerkennt Kurdistan denn auch als eine föderale Region Iraks, womit diese drei Provinzen gemeint sind. Faktisch üben die regionalen kurdischen Behörden jedoch ihre Macht auch in Teilen der angrenzenden Provinzen Diyala, Ninewa (inklusive der Stadt Mossul) und Kirkuk aus (siehe dazu unten E. 6.3).
Das im Januar 2005 gewählte kurdische Parlament ist zuständig zur Rechtsetzung in allen Gebieten ausser jenen der Aussenpolitik und diplomatischen Vertretungen, Sicherheit und Peschmerga (Verteidigung) sowie des Steuerwesens inklusive der Währung, welche dem Nationalstaat vorbehalten sind. Das Parlament wird durch die beiden grossen kurdischen Parteien (KDP und PUK), die als Democratic Patriotic Alliance of Kurdistan mit mehreren kleinen Gruppierungen (u.a. kurdisch-moderate Islamisten, Kommunisten, Chaldäer und Assyrer) eine Listenverbindung eingingen, dominiert: Die Allianz hält 104 der 111 Parlamentssitze, während sechs Sitze an kurdische Islamisten (Islamic Group of Kurdistan) und einer an die Arbeiterpartei (Kurdistan Toilers Party) gingen. Gemäss Wahlgesetz müssen mindestens ein Viertel aller Parlamentarier Frauen sein; an den Wahlen im Januar 2005 wurden - gemäss Homepage der Regionalregierung - 29 Frauen gewählt, was einen Anteil am Gesamtparlament von 27 % ausmacht.
In der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government [KRG]) mit Sitz in Erbil stehen die beiden grossen Parteien gemäss einer Abmachung vom Mai 2006, mit der ihre langjährige Rivalität zumindest offiziell beigelegt wurde und die die Absicht verfolgt, eine integrierte kurdische Regierung zu bilden, je 14 Ministerien vor. Einige Ministerien (Finanzen, Peschmerga, Justiz und Inneres) werden noch doppelt geführt, gemäss Übereinkommen zwischen der PUK und der KDP sollen sie jedoch innert Jahresfrist vereinigt werden - ein Vorhaben, welches bis heute noch nicht vollständig umgesetzt wurde. Islamisten, Turkmenen und Chaldo-Assyrer leiten die restlichen fünf Ministerien; soweit ersichtlich werden zwei Ministerien von Frauen angeführt. Als Präsident des irakischen Kurdistans amtet Massoud Barzani, langjähriger Anführer der eher national-konservativen und tribal-traditionellen KDP; Premierminister der KRG ist sein Neffe Nechirvan Idris Barzani. Der Gründer und Führer der progressiveren PUK, Jalal Talabani, seinerseits wurde am 6. April 2005 zum ersten kurdischen Präsidenten Iraks gewählt.
Angesichts der schwierigen Situation ergibt sich für den Nordirak insgesamt das Bild von vergleichsweise gut funktionierenden staatlichen Institutionen (Regierung und Parlament). Die Rivalität der beiden grossen Parteien KDP und PUK konnte im Grossen und Ganzen in den Hintergrund gestellt werden. Ihre Dominanz führt jedoch dazu, dass Parteimitglieder Privilegien und Bevorteilungen, insbes. auf dem Arbeitsmarkt und in der Ausbildung, geniessen (MRGI, S. 20; Home Office, Z. 17.03). Überdies gibt es Vorwürfe, wonach Richter gegenüber Nichtparteimitgliedern nicht unvoreingenommen urteilen würden. Ausserdem bringt es die demographische Struktur der kurdischen Gesellschaft (wie auch generell im Nahen und Mittleren Osten) mit sich, dass sich ein Grossteil der Bevölkerung (Junge, aber auch Frauen) in den Institutionen nicht vertreten fühlt. In Kurdistan wird dieses Phänomen noch durch die Tatsache verstärkt, dass die verantwortungsvollen Posten von aktiven oder ehemaligen Peschmerga-Kämpfern besetzt werden (IWPR, ICR 210).

6.2 Die Sicherheitslage im kurdischen Nordirak stellt sich um einiges stabiler und ruhiger dar als im Rest des Landes. Der Fall des Saddam-Regimes zeitigte keine unmittelbaren Auswirkungen, dennoch ist die Situation im Norden von gewissen Spannungen geprägt. Die Sicherheitskräfte in den drei Provinzen, die als gut ausgebildet und ausgerüstet sowie sehr wachsam gelten, haben strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Insbesondere haben die kurdischen Behörden zwischen den grösseren kurdischen Städten und auf den Verbindungsstrassen in den Zentralirak sowie in die Türkei zahlreiche permanente Checkpoints eingerichtet. Die « grüne Linie » im Süden an der Grenze zum Zentralirak sowie die irakisch-türkische Grenze im Norden gelten als straff kontrolliert (Home Office, Z. 8.63 mit weiteren Hinweisen). Besonderes Augenmerk wird auf arabische Männer gerichtet, um so den befürchteten Import von Extremismus und Terrorismus zu unterbinden. Damit sollen einerseits ein Überschwappen der Gewalt aus dem Zentralirak, insbes. aus den Regionen um Mossul und Kirkuk, und andererseits (Selbstmord-) Anschläge von (islamistischen) Terror-Organisationen gegen Einrichtungen der KRG oder der regierenden kurdischen Parteien verhindert werden (Home Office,
Z. 22.05 ff.; SFH, Irak-Update, S. 8).
Folge dieser Sicherheitsmassnahmen ist eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit in den kurdischen Gebieten des Irak und der Zugang zu diesen. Trotz aller Vorkehrungen kam es dennoch zu Anschlägen mit zahlreichen Todesopfern in den Städten von Erbil, Suleimaniya und Dohuk, gesamthaft jedoch in weitaus geringerer Anzahl und weniger zerstörerischem Ausmass als in anderen Gebieten des Landes. Für die meisten dieser Bomben- und Selbstmordanschläge haben verschiedene islamistische Terrororganisationen die Verantwortung übernommen. Diese betrachten die Kurden und die kurdischen Behörden als Kollaborateure der USA und ihrer Verbündeten sowie als Unterstützer der Invasion und Besetzung des Iraks.

6.3 Die Sicherheitslage hängt wesentlich auch von den Entwicklungen ausserhalb der drei autonomen kurdischen Regionen ab. Der Fall des Saddam-Regimes hat in den nordirakischen, traditionell gemischten Städten Mossul und insbes. im Erdöl-reichen Kirkuk ethnische Spannungen ausgelöst. Verschiedene ethnische und religiöse Gruppen sowie politische Parteien beanspruchen die Vorherrschaft über die südlich der kurdischen Nordprovinzen liegenden und von überwiegend von Kurden besiedeltem Gebiet umgebenen Städte. Das in der irakischen Verfassung (Art. 140) vorgesehene, bis Ende 2007 durchzuführende Referendum über die Zugehörigkeit Kirkuks birgt beträchtlichen Zündstoff. Im Dezember 2007 wurde die Volksabstimmung auf Vorschlag der Vereinten Nationen von der Kurdistan National Assembly jedoch um sechs Monate hinausgeschoben (vgl. Neue Zürcher Zeitung [NZZ] vom 10. Dezember 2007 und Pressemitteilung der KRG vom 28. Dezember 2007: Kurdistan's parliament approves Kirkuk referendum delay). Kurdische Peschmerga- und Sicherheitskräfte haben faktisch die Kontrolle über Kirkuk errungen, schiitische Milizen haben jedoch grosse Truppenbestände in den Norden verschoben. Um die 100'000 Kurden sind in die Stadt Kirkuk zurückgekehrt, um die
Arabisierungspolitik des Baath-Regimes unter Saddam Hussein rückgängig zu machen und haben sich offiziell als Bewohner Kirkuks registrieren lassen. Um im Hinblick auf das Referendum vollendete Tatsachen zu schaffen, sollen die KDP und PUK ausserdem Hunderte von Turkmenen und sunnitischen Arabern aus Kirkuk in die kurdischen Nordprovinzen verschleppt und dort in geheime Haftanstalten überführt haben. Dieses Phänomen sei zunehmend auch in Mossul zu beobachten (MRGI, S. 18; UNHCR-COI, S. 75 ff.; Home Office, Z. 8.58; ICG, Middle East Report N ° 56 und 65; UNHCR's Eligibility Guidelines 2007, S. 29 ff.). Die Ausdehnung des kurdischen Einflusses in den Süden, um die Städte Mossul und Kirkuk, stösst jedoch auf den Widerstand anderer ethnischer Gruppierungen in der Region, insbes. der Turkmenen und der Araber (vgl. NZZ vom 18. Juli 2007). Wegen der täglichen Übergriffe durch sunnitische Araber auf die kurdische Bevölkerung in Mossul sollen Zehntausende von Kurden die Stadt Richtung Irakisch-Kurdistan verlassen haben (New York Times, In North Iraq, Sunni Arabs Drive Out Kurds, 30. Mai 2007).
Für Spannungen in der Region sorgt auch die Drohung der Türkei, einen Zuschlag Kirkuks zum kurdischen autonomen Gebiet nicht zu akzeptieren und allenfalls - angeblich auch zum Schutz der zahlreichen Turkmenen in der Region - beim südlichen Nachbarn militärisch zu intervenieren. Dahinter steht die Befürchtung (welche im Übrigen vom Iran und von Syrien geteilt werden dürfte) eines zu starken und weitgehend unabhängigen Irakisch-Kurdistans, welches den Kurden im eigenen Land Motivation für weitere separatistische Aktivitäten sein könnte. Zum angespannten Verhältnis zwischen den beiden Ländern trägt ausserdem die Anwesenheit von mehreren Tausend PKK (Kurdische Arbeiterpartei des Volkes)-Kämpfern in ihrem Rückzugsgebiet an der Grenze auf irakischem Boden bei, was zur Verlegung von grossen Truppenbeständen der türkischen Armee an (und über) die Grenze zum Nordirak geführt hat (STEINBERG, a.a.O., S. 9 ff. und 23 ff.; UNHCR-Hinweise, S. 6; NZZ vom 21. Juni 2007 und vom 23./24. Juni 2007). Im Juni 2007 wurden Hunderte von irakischen Kurden gezwungen, ihre Häuser und Dörfer zu verlassen, nachdem es zu Angriffen der türkischen Armee gegen die PKK gekommen ist. Ausserdem wurden Familien durch PKK-Kämpfer aus ihren Häusern vertrieben, damit
sie den Rebellen als Ausgangsort für Angriffe und Trainingsbasen dienen können (Iraq: Hundreds flee homes as Turkish forces battle Kurdish fighters, IRIN, 21. Juni 2007). Zur Zeit fliegt die türkische Luftwaffe Angriffe auf irakisches Territorium und beschiesst PKK-Stellungen. Seitens der politischen und der militärischen Führung der Türkei wird regelmässig mit dem Einmarsch von Truppen in den Nordirak gedroht; dazu wurde die Armee mit einem Beschluss der türkischen Regierung inzwischen auch ermächtigt.

6.4 Die Polizei- und Sicherheitskräfte sowie die gerichtlichen Instanzen sind nach wie vor stark entlang der Parteigrenzen organisiert. Auf das Gerichts- und Rechtssystem üben zudem traditionelle Strukturen noch einen grossen Einfluss aus (zum Folgenden vgl. Home Office, Z. 10.82 ff., 12.46 ff., 13.10 ff. mit weiteren Hinweisen; SFH, Irak-Update, S. 15 f.).
Für die Sicherheit in den kurdischen Provinzen ist die um die 100'000 Mitglieder zählende, als sehr diszipliniert und gut organisiert geltende Peschmerga (Milizen der kurdischen Parteien) verantwortlich, die zur offiziellen Armee Irakisch-Kurdistans wurde. Gegenwärtig laufen Bemühungen, sie in die Strukturen der irakischen Armee zu integrieren, was sich angesichts der Tatsache, dass sich die kurdischen Kämpfer in erster Linie den kurdischen Führern verpflichtet fühlen und in arabischen Gebieten überdies als Aussenseiter betrachtet werden, als nicht einfach erweist. Als Teil der nationalen Armee unterstützen die Peschmerga unter anderem die US-amerikanischen Truppen im Zentralirak. Die Peschmerga gelten im Allgemeinen als wirkungsvoller und schlagkräftiger als andere Einheiten der irakischen Streitkräfte. Einen Einsatz der irakischen Polizei oder Armee in der kurdischen Region schliessen die kurdischen Führer demgegenüber ausdrücklich aus; das irakische Innenministerium hat denn auch offiziell keine Kompetenzen im Nordirak.
Neben der Peschmerga unterhalten die kurdischen Parteien eigene Polizeikorps (sog. Asaish) und Geheimdienste (KDP: Parastin, PUK: Zaniary), welche nicht denselben ethnischen Spannungen ausgesetzt sind wie die vergleichbaren Institutionen im Zentralirak. Im Grossen und Ganzen begegnet die kurdische Bevölkerung den auf 60'000 Angehörige geschätzten Sicherheitskräften mit einem gewissen Vertrauen, obwohl auch Meldungen bekannt sind, wonach es zu menschenrechtswidrigen und gewalttätigen Übergriffen gegenüber und willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen von Angehörigen von nicht-kurdischen Minderheiten, Unruhestiftern, politischen Oppositionellen, PKK-Mitgliedern und Sympathisanten islamistischer Gruppierungen kam oder kommen kann. Dies wird insbes. aus den von den jeweiligen Polizei- und Geheimdiensten eigens betriebenen Haftanstalten berichtet, wo Personen ohne richterliche Genehmigung, ohne Zugang zu einem Anwalt und ohne Anklage für längere Zeit festgehalten und Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden können. Diese Gefängnisse unterstehen denn auch kaum einer politischen oder gerichtlichen Kontrolle, sondern vielmehr jener der jeweils zuständigen Partei. Menschenrechtsorganisationen und das IKRK haben nur Zugang zu den von
der Asaish betriebenen Gefängnissen, die inoffiziellen Haftanstalten der Geheimdienste bleiben für internationale Beobachter nicht zugänglich. Besonders gefährdet sind Personen, die wegen Verdachts auf terroristische Aktivitäten festgenommen und in Gefängnissen der Geheimdienste festgehalten werden. Trotz Bemühungen der Regierung, der Korruption und den gewalttätigen Übergriffen durch die Sicherheitskräfte Einhalt zu gebieten und trotz konkreten Eingeständnissen durch die KRG, dass Personen in inoffiziellen Haftanstalten festgehalten werden, ist mangels spezifischen zuständigen Behörden und infolge fehlenden Einflusses der beiden Ministerien für Menschenrechte in Erbil und Suleimaniya nach wie vor davon auszugehen, dass Personen in Machtpositionen in vielen Fällen keine strafrechtliche Verfolgung zu gewärtigen haben (vgl. u.a. UNHCR-Hinweise, S. 7; Home Office, Z. 14.28 ff., 15.21 ff.; UNAMI, Z. 72 ff.; HRW, S. 25 ff.).
Seit der faktischen Autonomie der drei kurdischen Provinzen im Jahre 1991 vom irakischen Zentralstaat und infolge der Zweiteilung der kurdischen Gebiete Mitte der 1990er-Jahre haben sich zwei unterschiedliche Gerichts- und Rechtssysteme entwickelt, das eine in den KDP-kontrollierten Provinzen Dohuk und Erbil, das andere in der PUK-Provinz Suleimaniya. Aufgrund der im Mai 2006 getroffenen Regierungsvereinbarung zwischen den beiden grossen Parteien sollen ihre jeweiligen Justizministerien ebenfalls zusammengelegt werden - und somit auch die Gerichts- und Rechtsstrukturen vereinheitlicht werden, was sich jedoch in Anbetracht der unterschiedlichen Entwicklung der Rechtsprechung als problematisch erweisen dürfte. Vorderhand bestehen parallele Gerichtsinstitutionen auf je drei Niveaus: Fachgerichte auf erster Instanz (Straf-, Arbeits-, Zivil- und andere Gerichte), Berufungs- oder Kassationsgerichte auf zweiter Instanz sowie je ein oberster Gerichtshof. Gemäss erhältlichen Berichten gab es Ende 2006 in den Provinzen Erbil und Dohuk insgesamt 27 Gerichte mit knapp 100 Richtern. Zu Suleimaniya sind keine entsprechenden Daten erhältlich. In Erbil und Dohuk werden zivilrechtliche Angelegenheiten in der Regel gestützt auf das Personenrecht
(Personal Status Law) geregelt, welches bei Lücken auf die Scharia verweist; für andere religiöse, nicht-muslimische Gruppen gelten, sofern vorhanden, deren jeweilige Gesetze. In Suleimaniya gilt derweil in personenrechtlichen Streitigkeiten nur die Scharia, während das Personenrecht lediglich auf Andersgläubige (neben deren eigenen Gesetzen) anwendbar ist. Für die Mitglieder der kurdischen Streitkräfte bestehen separate Peschmerga-Gerichte. Neben der staatlichen Gerichtsbarkeit ist die traditionelle Stammesjustiz nach wie vor von grosser Bedeutung, da zahlreiche Menschen den Gerichten und Richtern gegenüber misstrauisch sind und ihre Unabhängigkeit und Integrität in Frage stellen. Insbesondere in ländlichen Gebieten geniessen die Stammesführer demgegenüber nach wie vor bedeutende Autorität. Der Schutz vor Racheakten des Opfers einer Straftat oder seiner Familie ist für manche Straftäter mit ein Grund, den Streitfall auf traditionelle Art und Weise zu regeln, da hier das Opfer - anders als in einem regulären Strafverfahren - in den Entscheid mit einbezogen wird und der Täter sich nach einer allfälligen Haftentlassung nicht vor Übergriffen zu fürchten hat. Aufgrund der weiten Verbreitung der Stammes-Versöhnung haben die grossen
Parteien eigens sog. Sozialbüros eingerichtet, die seither in Hunderten von Fällen vermittelt haben (IWPR, ICR 215).

6.5 Als Zwischenfazit kann an dieser Stelle - unter Bezugnahme auf die oben dargestellte Schutztheorie (siehe E. 5.2) - festgehalten werden, dass die nordirakischen Sicherheitsbehörden grundsätzlich in der Lage sind, Hinweisen auf Übergriffe nachzugehen und nötigenfalls eine Strafverfolgung einzuleiten. Die Sicherheits- und Polizeikräfte sind gut dotiert und gelten als gut und straff organisiert. Das Rechts- und Justizsystem ist zwar parallel strukturiert und wird teilweise durch die traditionelle Stammesjustiz konkurrenziert, trotzdem kann davon ausgegangen werden, dass Streitigkeiten im Regelfall gerichtlich beigelegt werden können. In Bezug auf die drei kurdischen Nordprovinzen kann entsprechend von einer funktionierenden Schutz-Infrastruktur gesprochen werden. Diese verhalten positive Bestandesaufnahme soll aber nicht von zahlreichen Unzulänglichkeiten ablenken, die insbes. gegenüber Personen manifest werden, die von der durch die PUK und KDP definierten politischen Hauptrichtung abweichen (vgl. dazu sogleich).

6.6 Die Menschenrechtslage stellt sich insgesamt ebenfalls, wie die Sicherheitslage, in den kurdischen Provinzen im Nordirak besser dar als im Süd- und Zentralirak. Es kann keine Gruppenverfolgung von ethnischen oder religiösen Minderheiten durch die kurdischen Behörden festgestellt werden. Für gewisse Bevölkerungsgruppen ist das Risiko jedoch beträchtlich höher, mit den Sicherheitskräften in Konflikt zu geraten und dabei menschenrechtswidriger oder diskriminierender Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. nachfolgende Erwägungen).

6.6.1 In Anbetracht der relativen Ruhe im Nordirak brachten sich Tausende von irakischen Arabern (sowie auch Christen) in den kurdischen Gebieten in Sicherheit. Bei vielen von ihnen handelt es sich um Freiberufliche wie Ärzte, Professoren und Ingenieure, jedoch befinden sich auch arme Arbeiter unter ihnen. Paradoxerweise entziehen sich auch ehemalige Regimeangehörige den anti-baathistischen Tendenzen anderswo im Irak durch einen Wegzug nach Kurdistan. Der Zustrom von Arabern löst bei den Kurden jedoch gemischte Gefühle aus und nährt die alten kurdisch-arabischen Spannungen, da Araber als mögliche Agenten der irakischen aufständischen Gruppen oder als ehemalige Baathisten betrachtet werden. Viele intern Vertriebene (sogenannte IDPs) konnten anfangs auf - wenn auch bescheidene - finanzielle oder materielle Unterstützung durch die kurdischen Behörden zählen, zahlreiche Zuzüger aus dem Süden fanden im Norden auch eine Arbeit. Weiterhin unterstützt vom Finanzministerium (welches von einem christlichen Politiker geleitet wird) werden christliche Familien (Home Office, Z. 31.13 ff.).
Zuzüger in die Provinz Erbil, die ursprünglich aus dieser Provinz stammen, können frei einreisen, sich niederlassen und bewegen. Nicht-Kurden bedürfen zur Einreise jedoch einer Gewährsperson und müssen sich zur Legalisierung ihres Aufenthalts bei den lokalen Behörden registrieren lassen. Ihnen ist es zudem - im Gegensatz zu kurdischen IDPs - untersagt, Grundeigentum zu erwerben. Der Miete von Wohnraum steht jedoch nichts im Wege. Die Mehrzahl aller IDPs, fast 70 %, bringen sich in der Provinz Dohuk in Sicherheit, wobei die meisten von ihnen Christen sind, die ursprünglich aus der Region stammen. Seit November 2006 verlangten die Behörden von Arabern und alleinstehenden Männern zur Einreise und für den Aufenthalt in Dohuk offiziell ebenfalls eine Gewährsperson. In der Praxis jedoch wurde bei alleinstehenden Männern darauf verzichtet, wenn Abklärungen ergaben, dass diese Männer kein Sicherheitsrisiko darstellten und an ihrem Herkunftsort gefährdet waren. Ein Fünftel der intern vertriebenen Iraker sucht Zuflucht in Suleimaniya (davon ca. zwei Drittel Araber und ein Drittel Kurden). Für die Niederlassung und den Aufenthalt wird ebenfalls eine Gewährsperson verlangt (mit der Ausnahme von Ärzten, Unternehmern und
Universitätsprofessoren); für die Wohnungs- und Arbeitssuche sind keine offiziellen behördlichen Hindernisse bekannt. Zum Teil werden Kurden aus Kirkuk an der Einreise gehindert, um auf diese Weise die dortige demografische kurdische Mehrheit vor dem Referendum nicht zu gefährden. In allen drei Provinzen sind die Nahrungsmittelversorgung und minimale Dienstleistungen (wie Wasserversorgung, Gesundheits- und Schulwesen) gewährleistet (vgl. Rapid Needs Assessments des UNCHR zu den drei Provinzen, Januar 2007; SFH, Irak-Update, S. 26).
Die Einreisebestimmungen infolge der massiven Einwanderung haben die Niederlassung und Arbeitssuche für IDPs jedoch erschwert, wobei Kurden bevorzugt behandelt werden und Arabern am wenigsten Unterstützung zuteil wird, sodass die Ärmsten unter ihnen auf der Strasse leben müssen (Home Office, Z. 31.13 ff.; UNHCR's Eligibility Guidelines 2007, S. 107 f.). Demgegenüber gibt es auch Berichte, wonach viele Araber, die während der Herrschaft Saddam Husseins im Rahmen der baathistischen Arabisierungspolitik im Norden angesiedelt wurden, Kurdistan wieder verlassen.
Nach dem Gesagten kann nicht davon ausgegangen werden, dass im Norden - trotz der besseren Sicherheitslage als im Zentral- und Südirak - jedermann Zuflucht finden kann. Am leichtesten dürfte dies Kurden fallen, die Beziehungen zu den grossen Parteien oder ihnen nahestehenden Gruppierungen haben oder über ein familiäres oder gesellschaftliches Netzwerk in den kurdischen Provinzen verfügen. Für Araber und andere nicht-kurdische Iraker (insbes. Männer) kann jedoch nicht automatisch vom Bestehen der innerstaatlichen Niederlassungsfreiheit und der Schutzgewährung durch die kurdischen Behörden ausgegangen werden; diese Konstellationen bedürfen einer Einzelfallprüfung.

6.6.2 Die Medien im kurdischen Nordirak sind stark beeinflusst durch die politischen Parteien. Öffentliche Kritik an den herrschenden Parteien und Berichte über Korruption in der Verwaltung und Demonstrationen von Bürgern werden grundsätzlich nicht toleriert und können zu körperlichen Übergriffen, Festnahme und Haft führen. Offiziell übt die KRG keine Zensur aus, unliebsame Berichterstattung wird jedoch vermehrt durch Anklagen wegen Verleumdung und übler Nachrede zu verhindern versucht. Die Chefredakteure der beiden unabhängigen Zeitungen in der Region (Awene und Hawlati) wurden beide schon zu bedingten Gefängnisstrafen verurteilt. Es wurden auch Festnahmen von Journalisten wegen Verdachts auf Spionage und Unterstützung des Terrorismus bekannt. Andererseits beklagen Regierungsvertreter den oft unzureichenden Standard der Berichterstattung sowie das mangelnde Berufsethos vieler Journalisten, die falsche oder nicht verifizierte Informationen veröffentlichten. Die Meinungsäusserungs- wie auch die Pressefreiheit sind Gegenstand von Beratungen im kurdischen Parlament. Weiter soll es zu Disziplinarverfahren und Versetzungen von fehlbaren Polizeibeamten, die Journalisten festgenommen und misshandelt hatten, gekommen sein (vgl. UNHCR-
Hinweise, S. 7; UNHCR-Guidelines 2005, S. 19 f.; UNHCR's Eligibility Guidelines 2007, S. 116; Home Office, Z. 18.32 ff. mit weiteren Hinweisen; SFH, Irak-Update, S. 24; UNAMI, Z. 33 ff.).

6.6.3 Politische Oppositionelle, vor allem Anhänger von extremistisch-islamistischen Gruppierungen, sind wegen Verdachts der Verstrickung in terroristische Handlungen besonders im Visier der kurdischen Behörden. Berichte sprechen von Angriffen, willkürlichen Festnahmen und langen Inhaftierungen ohne formelle Anklage, häufig begleitet von Folter. Hervorzuheben sind an dieser Stelle insbes. die in der Provinz Suleimaniya bei Halabja an der iranischen Grenze aktive Ansar al-Islam (Jund al-Islam) und die Ansar al-Sunna, welchen Beziehungen zu Al-Kaida und zum Iran nachgesagt und die für zahlreiche (Selbstmord-) Attentate in Nordirak verantwortlich gemacht werden (UNHCR-Hinweise, S. 7 f. mit weiteren Hinweisen; UNHCR-Guidelines 2005, S. 17; UNHCR's Eligibility Guidelines 2007, S. 108; Home Office, S. 223 ff.; UNAMI, Z. 72 ff.; Terrorism Monitor, The Hidden Hand of Iran in the Resurgence of Ansar al-Islam, V/11, 7. Juni 2007, S. 8 ff.). Nach ihrem Austritt aus der kurdischen Koalition sei es auch zu Übergriffen gegenüber der Kurdistan Islamic Union gekommen. Mitglieder der Kurdistan Islamic Group seien willkürlich festgenommen und gefoltert worden (SFH, Irak-Update, S. 25; UNHCR's Eligibility Guidelines 2007, S. 109). Den herrschenden
Parteien (wie auch schon dem Saddam-Regime) steht auch die in Kurdistan domizilierte Worker Communist Party of Iraq (WCPI) kritisch gegenüber, die von der PUK wie auch von der KDP als illegal erklärt wurde. Die WCPI stellt sich auf politischer Ebene inbesondere gegen den (rückschrittlichen) kurdischen Nationalismus sowie gegen die US-Invasion. Weiter macht sie sich stark gegen Ehrenmorde und für die Gleichstellung der Frauen und kritisiert den Koran und die islamische Glaubenslehre insgesamt, was viele Islamisten verärgert hat (Home Office, S. 212). In den letzten Jahren kam es vereinzelt zu Verhaftungen und Mordanschlägen gegen aktive WCPI-Anhänger. Von der WCPI zu unterscheiden ist die Kurdistan Communist Party (KCP-I), welche 2005 zusammen mit der Iraqi Communist Party an den Wahlen teilgenommen hat.

6.6.4 Ehemalige Baathisten kurdischer Ethnie sind seitens der kurdischen Behörden nicht einer generellen Gefährdung ausgesetzt. Der Ruf von Überlebenden und Angehörigen von Opfern der Anfal-Operation, dass kurdische Kollaborateure von damals zur Verantwortung gezogen werden sollen, wird allerdings immer lauter. Stammes- oder Selbstjustiz kann in Fällen, wo Familienmitglieder umgekommen sind und der Täter bekannt ist, nicht ausgeschlossen werden. Demgegenüber sind auch viele Fälle bekannt, wo arabischen ehemaligen Baath-Mitgliedern in den kurdischen Gebieten Zuflucht gewährt wurde, sofern diese eine kurdische Gewährsperson haben (SFH, Irak: Rückkehrgefährdung früherer kurdischer KollaborateurInnen in die Autonome Region Kurdistan, 7. Dezember 2006; ECRE, S. 18).

6.6.5 Aus Unzufriedenheit mit der mangelhaften Infrastruktur, fehlenden Dienst- und Fürsorgleistungen und der anhaltenden Korruption der Regionalregierung haben in verschiedenen Städten Demonstrationen von Bürgern stattgefunden, obwohl diese zum Teil von den Sicherheitskräften zu verhindern versucht worden waren. Mehrfach wurden die Manifestationen mit Gewalteinsatz seitens der Polizei aufgelöst und es kam zu Todesopfern, Verletzten sowie wahllosen Verhaftungen von friedlichen Demonstrationsteilnehmern (UNHCR-Hinweise, S. 7; UNHCR's Eligibility Guidelines 2007, S. 109; Home Office, Z. 17.10 ff.; Terrorism Monitor, Intra-Kurdish Disputes in Northern Iraq, V/9, 10. Mai 2007, S. 10 f.).

6.6.6 Gemäss Artikel 2 der irakischen Verfassung ist der Islam die offizielle Staatsreligion des Landes. Gleichzeitig wird die Religionsfreiheit für alle Personen garantiert, namentlich für Christen, Yeziden und Mandäer-Sabier (Art. 2 und Art. 42). Nicht-Muslime machen einen Anteil von rund 3 % an der Gesamtbevölkerung des Iraks aus, wovon es sich bei den meisten um Christen (römisch-katholische Chaldäer, Assyrer u.a.) handelt. Es gibt Vorwürfe, wonach religiöse Minderheiten durch die KRG diskriminiert werden, indem beispielsweise ihr Land entschädigungslos konfisziert und mit Siedlungen bebaut werde oder sie vor Gericht willkürlich behandelt oder Urteile zu ihren Gunsten von den Behörden nicht durchgesetzt würden (MRGI, S. 20; Home Office, Z. 21.42). Die traditionellen christlichen Gemeinschaften in Irakisch-Kurdistan (wie zum Beispiel die Assyrer und Chaldäer) können im Allgemeinen auf die Toleranz der muslimischen Mehrheit setzen und werden in der Ausübung ihrer Religion nicht behindert. Seit dem Sturz des Saddam-Regimes wurden einige christlich-evangelische Kirchen nach westlichem Vorbild gegründet, welche aufgrund ihrer Bekehrungstätigkeit jedoch auf Ablehnung sowohl der Muslime als auch der alteingesessenen Christen - welche
Missionierungen stets abgelehnt hatten - stossen (Home Office, Z. 21.60 ff.). In den Norden (insbes. in die Region um Mossul, südlich der grünen Linie) zurückkehrende Christen, die unter Saddam vertrieben wurden und nun ihre Besitzansprüche anmelden, machen ausserdem Schwierigkeiten mit PUK- und KDP-Anhängern geltend (MRGI, S. 20; UNHCR's Eligibility Guidelines 2007, S. 66).

6.6.7 Turkmenen (ca. 2-3 % der Bevölkerung), die sich für die Durchsetzung der Grundrechte ihrer Bevölkerungsgruppe engagierten, beklagen sich über willkürliche Untersuchungen oder Verhaftungen durch die kurdischen Behörden. Angespannt ist das Verhältnis insbes. zwischen der von der Türkei unterstützten « Iraqi Turkmen Front » (ITF), die sich gegen die kurdische Ausdehnung in Kirkuk stellt, und der KRG (Gesellschaft für bedrohte Völker, Die Turkmenen: Seit Jahrhunderten im Nordirak beheimatet, Juni 2007; Home Office, Z. 22.23 ff.). Der PUK und der KDP wird vorgeworfen, sie wollten die demographische Zusammensetzung jener Gebiete systematisch verändern, in welchen die Turkmenen traditionellerweise gelebt hätten (MRGI, S. 18 f.).

6.6.8 Nach verschiedenen Revisionen des Strafrechts in den Jahren 2000 bis 2002 im Herrschaftsgebiet der PUK und der KDP können sich Verantwortliche von Verbrechen im Rahmen von häuslicher Gewalt oder von Ehrenmorden nicht mehr auf strafmildernde oder -ausschliessende Umstände berufen. Die kurdischen Behörden sind sich des Problems der Ehrendelikte gegen Frauen bewusst und sensibilisieren entsprechend das öffentliche Bewusstsein. In den traditionell und tribal geprägten kurdischen Gebieten kam es nach offiziellen Angaben dennoch zu einem deutlichen Anstieg der Todesfälle von Frauen infolge Unfalls oder Verbrechens. So wurden im ersten Halbjahr 2006 allein in den Provinzen Erbil und Suleimaniya 112 respektive 163 Fälle von getöteten Frauen bekannt, wobei ein Grossteil der Fälle statistisch als Brandunfälle deklariert wurde. Von verschiedener Seite wird jedoch betont, dabei handle es sich entweder um Ehrenmorde oder um Selbsttötungen, mit denen die betroffenen Frauen die Ehre ihrer Familien wieder herstellen oder einem gegen sie gerichteten Mordanschlag durch ein Familienmitglied zuvorkommen wollten. So gilt der Nordirak neben Jordanien als die Region mit der höchsten Zahl an Ehrenmorden im Nahen Osten. Den wenigen Frauenhäusern in
der Region bleibt häufig, da die Frauen dort für längere Zeit Unterschlupf suchen müssen oder eine Rückkehr in die Familie trotz Mediationsversuchen als zu gefährlich betrachtet wird, keine andere Möglichkeit, als die betroffenen Frauen in abgelegene Dörfer, in welchen sie niemand kennt, oder sogar ins Ausland zu bringen. Trotz aller Aufklärungsbemühungen ist die Polizei im Allgemeinen unsensibel gegenüber geschlechtsspezifischen Übergriffen (vgl. UNHCR-Guidelines 2005, S. 21; UNHCR's Eligibility Guidelines 2007, S. 123 ff.; Home Office, Z. 25.36 ff.; SFH, Irak-Update, S. 24; UNAMI, Z. 49 ff.).
Mehr als im Zentral- und Südirak wird im kurdischen Norden die Genitalverstümmelung an Mädchen und jungen Frauen ausgeübt. Trotz der Unterstrafstellung dieser Praktiken werden diese im Geheimen in den Dörfern weiterhin durchgeführt (ECRE, S. 18; Home Office, Z. 25.48 ff.).

6.6.9 Ferner ist private Verfolgung vor allem von islamistischen Extremisten zu befürchten, beispielsweise von Jund al-Islam oder Ansar al-Islam, welche in den von ihnen kontrollierten Dörfern eine Scharia-Herrschaft einführten (Segregation von Männern und Frauen, Ausschluss der Frauen von Bildung und Beschäftigung, Musikverbot, Körperstrafen etc.). Allerdings ist unklar, wie stark die Gruppierungen nach der US-Invasion noch sind (UNHCR-COI, S. 66 f.; UNHCR-Guidelines 2005, S. 19).

6.7 Nach dem Gesagten kann zusammenfassend Folgendes festgehalten werden: Die kurdischen Behörden sind grundsätzlich willens, den Einwohnern der drei nordirakischen Provinzen Schutz vor allfälliger Verfolgung zu gewähren. Sofern die geltend gemachten Übergriffe jedoch von den beiden Mehrheitsparteien, ihren Organen oder Mitgliedern ausgehen, kann nicht mit einer staatlichen Schutzgewährung durch die Polizei- und Sicherheitskräfte gerechnet werden, da die Partei- und Behördenstrukturen zu eng miteinander verflochten und teilweise sogar identisch sind. Nichts anderes kann natürlich gelten, wenn eine allfällige Gefährdung direkt von den offiziellen Behörden ausgeht. Einer solchen sind - gestützt auf die vorstehende Darstellung - insbes. kritische Medienschaffende, oppositionelle Politiker, Islamisten, aus dem Zentralirak eingewanderte alleinstehende arabische Männer sowie allenfalls Angehörige von ethnischen oder religiösen Minderheiten, die sich gegen den kurdischen Machtanspruch stellen, ausgesetzt.
Sofern die Verfolgung von privater Seite droht, muss ebenfalls nach dem geltend gemachten Verfolger unterschieden werden: Einerseits ist an dieser Stelle an die im Grenzgebiet zu Iran operierenden Islamisten zu denken. Gemäss offiziellen Verlautbarungen der KRG kann davon ausgegangen werden, dass diese das Gebaren dieser Terroristengruppen nicht akzeptiert und gegen sie vorgeht. Eine vertiefte Einzellfallabklärung zur Feststellung der Schutzgewährung - insbes. in Bezug auf deren Effektivität - ist in diesen Konstellationen indes unerlässlich. Andererseits kann die private Verfolgung auch von der Familie oder dem Clan ausgehen, wobei vor allem an Ehrenmorde - wovon in erster Linie Frauen betroffen sind - zu denken ist. Trotz der staatlichen Aufklärungskampagnen und den Strafgesetzrevisionen ist aber infolge mangelnder Sensibilität sowie ungenügender Schutzinfrastruktur nach wie vor nicht von der Bereitschaft der Polizeibeamten auszugehen, entsprechende Straftaten gegenüber Frauen zu verhindern oder diesen umfassend nachzugehen.
Eine innerkurdische Fluchtalternative, das heisst die Schutzsuche in einer der anderen nordirakischen Provinzen, ist infolge des Zusammenwachsens der PUK- und der KDP-Verwaltung nur mit Zurückhaltung anzunehmen. Die Behörden der einen Partei dürften es aus (politischer) Rücksicht gegenüber der anderen Partei ablehnen, einer von dieser Partei verfolgten Person Schutz zu gewähren. Allein die Zugehörigkeit zu einer der beiden grossen kurdischen Parteien in einem von der anderen Partei dominierten Gebiet dürfte aufgrund des fortschreitenden Zusammenwachsens der beiden Parteiadministrationen nicht zu Übergriffen durch die lokal vorherrschende Partei oder deren Mitglieder führen; diesbezügliche Einzelfallabklärungen sind jedoch unerlässlich.
Mit Blick auf das nach wie vor hohe Gewaltpotenzial im Zentral- und Südirak und die nur unzureichende Fähigkeit zur Schutzgewährung der dortigen Behörden dürfte eine Fluchtalternative im Zentral- und Südirak ebenfalls verneint werden.

7.

7.1 Gestützt auf die vorstehende Lageanalyse wird im Folgenden zu untersuchen sein, inwieweit der Beschwerdeführer - wie von ihm geltend gemacht - bei einer Rückkehr in sein Heimatland eine begründete Furcht vor allfälliger asylrelevanter Verfolgung hat (Art. 3
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 [AsylG], SR 142.31).

7.2 Zusammengefasst macht der Beschwerdeführer geltend, er sei Mitglied der KCP-I gewesen und habe sich an einer Veranstaltung einer Frauenunion gegen die Unterdrückung der Frauen in der kurdischen und islamischen Gesellschaft ausgesprochen. Daraufhin habe eine islamistische Partei zu seiner Tötung aufgerufen. Die Sicherheitsbehörden, insbes. die Asaish, hätten ihn weder schützen können noch wollen.

7.3 Die gegen den Beschwerdeführer gerichtete Morddrohung stammt nach seinen Angaben von der islamistischen Gruppierung « Harakai Islam », welche später ihren Namen in « Jund al-Islam » geändert hat und heute als « Ansar al-Islam » bekannt ist. Nach Erkenntnissen des BVGer sind diese Parteien aus der Islamistischen Bewegung Kurdistans hervorgegangen. Sie waren inbesondere im Grenzgebiet zu Iran tätig und wurden für zahlreiche Anschläge in Nordirak verantwortlich gemacht. Wie schon in EMARK 2002 Nr. 16 E. 5c festgehalten wurde, ging die PUK massiv gegen die Islamisten vor. Auch neuere Quellen bestätigen, dass Dutzende von Ansar-Kämpfern in Gefängnissen der PUK in Suleimaniya festgehalten werden. Die kurdischen Behörden wurden in ihrem Kampf gegen die Islamisten von den US-amerikanischen Truppen nach deren Einmarsch in den Irak unterstützt. Unklar ist jedoch, wie stark der Einfluss der Islamisten heute noch ist. Den kurdischen Behörden und Sicherheitskräften ist es allem Anschein nach jedoch nicht gelungen, die Extremisten ganz aus den Nordprovinzen in den Süden oder über die Grenze in den Iran zu vertreiben oder sie andersweitig auszuschalten. Aufgrund der Sprengstoffanschläge, die gegen Parteilokale der PUK und KDP verübt wurden,
ist immer noch von der, wenn auch punktuellen, Aktionsfähigkeit der islamistischen Gruppierungen auszugehen. Sofern die Extremisten von der Rückkehr oder Anwesenheit des mit einer Morddrohung belegten Beschwerdeführers erfahren würden, ist ein erneuter Übergriff gegen ihn jedenfalls nicht von vornherein auszuschliessen.

7.4 Im vorliegenden Einzelfall kann nicht mit ausreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass dem Beschwerdeführer durch die kurdischen Behörden angemessener Schutz vor einer allfälligen Verfolgung durch die Islamisten geboten würde. Wie dargestellt wurde, ist die Regionalregierung zwar darum bemüht, Ehrenmorde an und Beschneidungen von Frauen zu unterbinden und die Gleichstellung der Geschlechter voranzutreiben. Die Umsetzung dieser Absichtserklärungen an der Basis, das heisst bei den lokalen Polizei- und Sicherheitskräften, hat jedoch noch nicht stattgefunden und eine entsprechende Sensibilität für diese Problematik fehlt noch weitgehend. So ist es unwahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer, würde er vor Ort um Schutz ersuchen, auf offene Ohren stossen würde - wurde doch die Todesdrohung gegen ihn gerade wegen seiner Kritik an der Unterdrückung und Benachteiligung der Frauen in der islamischen Gesellschaft ausgesprochen. In diesem Sinn stellte auch die Vorinstanz in der angefochtenen Verfügung fest, es gebe konkrete Anhaltspunkte dafür, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Heimatstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, im Sinne eines « real risk », eine durch Art. 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
EMRK verbotene Strafe oder
Behandlung drohe. Angesichts der geltend gemachten - und als glaubhaft erachteten - Exponierung des Beschwerdeführers erscheine die Schutzfähigkeit der Behörden gegenüber islamistischen Übergriffen fraglich. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen dürfte sich die Situation heute, fünf Jahre nach der erstinstanzlichen Lageeinschätzung, nicht dergestalt verändert haben, dass eine Gefährdung des Beschwerdeführers ausgeschlossen werden könnte; diese stellt nach wie vor eine aktuelle Bedrohung dar.
Nicht zugunsten einer adäquaten Schutzgewährung für den Beschwerdeführer spricht auch seine Parteizugehörigkeit (und jene seiner Familie) zur KCP-I. Die Vorinstanz hat in zutreffender Weise festgehalten, dass es sich dabei um eine gemässigte Partei handle, welche keine spezifischen Probleme mit den herrschenden Parteien PUK und KDP habe; vielmehr habe sie eine vermittelnde Rolle zwischen den beiden rivalisierenden Parteien eingenommen. Tatsächlich ist sie für die Wahlen im Jahr 2005 der Allianz der grossen kurdischen Parteien beigetreten. Dennoch weichen die Positionen der kommunistischen Partei wesentlich von jenen der Mehrheitsparteien PUK und der KDP ab. Als Kurde mit einem kommunistischen Hintergrund gehört der Beschwerdeführer zu einer Minderheit im Nordirak, die nicht mit derselben Schutzgewährung rechnen kann wie ein Anhänger der etablierten machthabenden Parteien. Dies umso weniger, als die in klarer Weise geäusserte Kritik des Beschwerdeführers an den herrschenden Gesellschaftsstrukturen in seiner Heimat auch als Kritik an der PUK und KDP verstanden werden muss, die für sich in Anspruch nehmen, die Politik im Nordirak umfassend zu bestimmen, und die abweichenden Meinungen bisweilen intolerant gegenüber stehen.

7.5 Eine alternative Schutzsuche kommt im vorliegenden Einzelfall für den aus Suleimaniya stammenden Beschwerdeführer in den nordirakischen Provinzen Erbil oder Dohuk nicht in Frage. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass ihm die KDP-Behörden in Erbil und Dohuk umfassenderen Schutz gewähren könnten und wollten, als dies durch die PUK in Suleimaniya der Fall ist. Gemäss glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers, die im Übrigen auch von der Vorinstanz unwidersprochen geblieben sind, wurde die gegen ihn ausgesprochene Todesdrohung per Radio im gesamten nordirakisch-kurdischen Gebiet bekannt gemacht. Der Beschwerdeführer könnte sich folglich auch in den beiden anderen Provinzen vor Übergriffen der Islamisten nicht sicher fühlen. Ausserdem könnte er weder auf die Unterstützung noch den Schutz durch seine Angehörigen zählen, die alle in der Provinz Suleimaniya niedergelassen sind. Dieser Umstand erschwert zudem die Einreise in die Nachbarprovinzen sowie den Zugang zu bestimmten Grunddienstleistungen sowie zum Arbeits- und Wohnungsmarkt (vgl. UNHCR's Eligibility Guidelines 2007, S. 171 ff.).

7.6 Angesichts der Situation weitverbreiteter Gewalt und des Unvermögens der irakischen Behörden, im Zentral- oder Südirak Schutz zu gewähren, braucht eine allfällige Schutzsuche des Beschwerdeführers in diesen Gebieten nicht weiter geprüft zu werden.

7.7 Aufgrund des Vorstehenden kommt das BVGer im vorliegenden Fall in Übereinstimmung mit der Erkenntnis der Vorinstanz zum Schluss, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in den Irak Verfolgung durch Islamisten zu befürchten hat, welche von ihrer Intensität her als ernsthafter Nachteil im Sinne von Art. 3
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
AsylG anzuerkennen wäre. Die bereits erfolgte Verfolgungshandlung (Mordaufruf) und die in Zukunft zu befürchtenden Übergriffe richteten sich gezielt gegen den Beschwerdeführer. Seine Furcht vor einem Übergriff durch die Islamisten war sowohl sachlich als auch zeitlich kausal für seine Ausreise. Im konkreten Fall kann nicht von einer angemessenen Schutzgewährung durch die kurdischen Behörden ausgegangen werden. Ob es bei den KRG-Behörden am Schutzwille oder an der Schutzfähigkeit mangelt, ist heute - nach dem Wechsel von der Zurechenbarkeits- zur Schutztheorie (siehe dazu oben E. 5.2) - bedeutungslos geworden. Eine alternative Schutzgewährung ist weder in den kurdischen Nachbarprovinzen noch im Zentral- oder Südirak ersichtlich.
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Art. 3
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
AsylG erfüllt. Er ist als Flüchtling anzuerkennen.

8. Den Akten ist nichts zu entnehmen, was die Gewährung von Asyl ausschliessen würde. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und die Verfügung des BFF vom 27. November 2002 aufzuheben. Das BFM ist anzuweisen, dem Beschwerdeführer Asyl zu gewähren.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 2008/4
Datum : 22. Januar 2008
Publiziert : 01. Januar 2008
Quelle : Bundesverwaltungsgericht
Status : 2008/4
Sachgebiet : Abteilung V (Asylrecht)
Gegenstand : Verfügung vom 27. November 2002 i.S. Asyl und Wegw...


Gesetzesregister
AsylG: 3
SR 142.31 Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG)
AsylG Art. 3 Flüchtlingsbegriff - 1 Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
1    Flüchtlinge sind Personen, die in ihrem Heimatstaat oder im Land, in dem sie zuletzt wohnten, wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.
2    Als ernsthafte Nachteile gelten namentlich die Gefährdung des Leibes, des Lebens oder der Freiheit sowie Massnahmen, die einen unerträglichen psychischen Druck bewirken. Den frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen.
4    Keine Flüchtlinge sind Personen, die Gründe geltend machen, die wegen ihres Verhaltens nach der Ausreise entstanden sind und die weder Ausdruck noch Fortsetzung einer bereits im Heimat- oder Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind. Vorbehalten bleibt die Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951.6
EMRK: 3
IR 0.101 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
EMRK Art. 3 Verbot der Folter - Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
VGG: 25
SR 173.32 Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG) - Verwaltungsgerichtsgesetz
VGG Art. 25 Praxisänderung und Präjudiz - 1 Eine Abteilung kann eine Rechtsfrage nur dann abweichend von einem früheren Entscheid einer oder mehrerer anderer Abteilungen entscheiden, wenn die Vereinigung der betroffenen Abteilungen zustimmt.
1    Eine Abteilung kann eine Rechtsfrage nur dann abweichend von einem früheren Entscheid einer oder mehrerer anderer Abteilungen entscheiden, wenn die Vereinigung der betroffenen Abteilungen zustimmt.
2    Hat eine Abteilung eine Rechtsfrage zu entscheiden, die mehrere Abteilungen betrifft, so holt sie die Zustimmung der Vereinigung aller betroffenen Abteilungen ein, sofern sie dies für die Rechtsfortbildung oder die Einheit der Rechtsprechung für angezeigt hält.
3    Beschlüsse der Vereinigung der betroffenen Abteilungen sind gültig, wenn an der Sitzung oder am Zirkulationsverfahren mindestens zwei Drittel der Richter und Richterinnen jeder betroffenen Abteilung teilnehmen. Der Beschluss wird ohne Parteiverhandlung gefasst und ist für die Antrag stellende Abteilung bei der Beurteilung des Streitfalles verbindlich.
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