Urteilskopf

98 IV 156

30. Urteil des Kassationshofes vom 23. Juni 1972 i.S. A. gegen Generalprokurator des Kantons Bern.
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Sachverhalt ab Seite 156

BGE 98 IV 156 S. 156

A.- Hanna A. entwendete am 13. September 1969 im einem Sportgeschäft einen Damenmantel.
B.- Der Gerichtspräsident VIII von Bern verurteilte sie am 12. Oktober 1971 wegen Diebstahls zu 14 Tagen Gefängnis als Zustatzstrafe zum Urteil des Gerichtspräsidenten VI von Bern vom 23. April 1971. Er nahm an, ihre Zurechnungsfähigkeit sei bei Begehung der Tat in leichtem bis mittlerem Grad vermindert gewesen (Art. 11
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 11 - 1 Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden.
1    Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden.
2    Pflichtwidrig untätig bleibt, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist, namentlich auf Grund:
a  des Gesetzes;
b  eines Vertrages;
c  einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder
d  der Schaffung einer Gefahr.
3    Wer pflichtwidrig untätig bleibt, ist gestützt auf den entsprechenden Tatbestand nur dann strafbar, wenn ihm nach den Umständen der Tat derselbe Vorwurf gemacht werden kann, wie wenn er die Tat durch ein aktives Tun begangen hätte.
4    Das Gericht kann die Strafe mildern.
StGB). Das Obergericht des Kantons Bern bestätigte am 29. Februar 1972 Schuldspruch und Strafe. Es lehnte die Anwendung von Art. 11
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 11 - 1 Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden.
1    Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden.
2    Pflichtwidrig untätig bleibt, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist, namentlich auf Grund:
a  des Gesetzes;
b  eines Vertrages;
c  einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder
d  der Schaffung einer Gefahr.
3    Wer pflichtwidrig untätig bleibt, ist gestützt auf den entsprechenden Tatbestand nur dann strafbar, wenn ihm nach den Umständen der Tat derselbe Vorwurf gemacht werden kann, wie wenn er die Tat durch ein aktives Tun begangen hätte.
4    Das Gericht kann die Strafe mildern.
StGB ab und trug der "besonderen Situation" der Angeklagten lediglich im Rahmen von Art. 63
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 63 - 1 Ist der Täter psychisch schwer gestört, ist er von Suchtstoffen oder in anderer Weise abhängig, so kann das Gericht anordnen, dass er nicht stationär, sondern ambulant behandelt wird, wenn:
1    Ist der Täter psychisch schwer gestört, ist er von Suchtstoffen oder in anderer Weise abhängig, so kann das Gericht anordnen, dass er nicht stationär, sondern ambulant behandelt wird, wenn:
a  der Täter eine mit Strafe bedrohte Tat verübt, die mit seinem Zustand in Zusammenhang steht; und
b  zu erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr weiterer mit dem Zustand des Täters in Zusammenhang stehender Taten begegnen.
2    Das Gericht kann den Vollzug einer zugleich ausgesprochenen unbedingten Freiheitsstrafe, einer durch Widerruf vollziehbar erklärten Freiheitsstrafe sowie einer durch Rückversetzung vollziehbar gewordenen Reststrafe zu Gunsten einer ambulanten Behandlung aufschieben, um der Art der Behandlung Rechnung zu tragen. Es kann für die Dauer der Behandlung Bewährungshilfe anordnen und Weisungen erteilen.
3    Die zuständige Behörde kann verfügen, dass der Täter vorübergehend stationär behandelt wird, wenn dies zur Einleitung der ambulanten Behandlung geboten ist. Die stationäre Behandlung darf insgesamt nicht länger als zwei Monate dauern.
4    Die ambulante Behandlung darf in der Regel nicht länger als fünf Jahre dauern. Erscheint bei Erreichen der Höchstdauer eine Fortführung der ambulanten Behandlung notwendig, um der Gefahr weiterer mit einer psychischen Störung in Zusammenhang stehender Verbrechen und Vergehen zu begegnen, so kann das Gericht auf Antrag der Vollzugsbehörde die Behandlung um jeweils ein bis fünf Jahre verlängern.
StGB Rechnung.
BGE 98 IV 156 S. 157

C.- Hanna A. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Einholung eines psychiatrischen Gutachtens, eventuell zur Gewährung des bedingten Strafvollzugs. Der Generalprokurator beantragt Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

1. Nach Art. 13 Abs. 1
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 13 - 1 Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
1    Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
2    Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht ist.
StGB ordnet die urteilende Behörde eine Untersuchung des Beschuldigten an, wenn sie Zweifel an dessen Zurechnungsfähigkeit hat. Der Richter soll also seine Zweifel nicht selber beseitigen, etwa durch Zuhilfenahme psychiatrischer Fachliteratur, sondern wie sich aus Abs. 2 des Art. 13 ergibt, durch Beizug von Sachverständigen (vgl. WAIBLINGER, ZBJV 1960 S. 82). Art. 13 gilt nicht nur, wenn der Richter tatsächlich Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit hegt, sondern auch, wenn er nach den Umständen des Falles Zweifel haben sollte. Der Kassationshof hat das zunächst so umschrieben, dass der Richter die Zweifel nicht unterdrücken dürfe, wenn Umstände vorliegen, die sie normalerweise aufdrängen (BGE 69 IV 53 E 3, BGE 71 IV 193 E 7, BGE 72 IV 62 E 3). In BGE 78 IV 55, 211 und BGE 88 IV 51 hat er dann ohne nähere Begründung das Erfordernis aufgestellt, dass sich dem Richter Zweifel über die Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten so gebieterisch aufdrängen müssen, dass er sie schlechterdings nicht unterdrücken darf. Diese stark einschränkende Auslegung findet keine Stütze im Wortlaut des Art. 13
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 13 - 1 Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
1    Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
2    Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht ist.
StGB. Es spricht auch nichts dafür, dass dies dessen Sinn ist. Es muss deshalb für die Anordnung einer psychiatrischen Untersuchung genügen, dass ernsthafter Anlass zu Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit des Angeschuldigten besteht. Entsprechend ist nach der deutschen Rechtsprechung die Zurechnungsfähigkeit "bei genügendem Anlass", beim Vorliegen "begründeter Zweifel" von Amtes wegen zu prüfen (Leipziger Kommentar zu § 51 StGB, Anm. 3 und 14). Eine ähnliche Auffassung wird in Frankreich vertreten (Répertoire DALLOZ, Responsabilité pénale, Nr. 16 Expertise mentale: "Le juge, s'il dispose d'un libre pouvoir d'appréciation, n'en a pas moins le devoir de faire un large appel aux médecins experts").
2. Wie die Vorinstanz feststellt, leidet die Tochter der Beschwerdeführerin, mit der diese zusammenlebt, an schubweise
BGE 98 IV 156 S. 158

auftretender Schizophrenie. Das legt die Möglichkeit nahe, dass die Krankheit in der einen oder andern Form auch bei der Beschwerdeführerin besteht. Das Obergericht verweist weiter auf ein Schreiben vom 20. April 1972 des Psychiaters Dr. O., der die Tochter der Beschwerdeführerin behandelt. Darin teilt der Spezialarzt dem Anwalt der Beschwerdeführerin im Sinne "vorläufiger summarischer Angaben" mit, er kenne die Beschwerdeführerin seit vier Jahren und habe feststellen können, dass sie unter den psychischen Störungen und den abnormen Reaktionen ihrer einzigen Tochter sehr leide. Unter dem Drucke dieser unerfreulichen Situation habe auch sie eindeutig mit echten und tiefgehenden depressiven Verstimmungen reagiert. Sollte Frau A. die ihr zur Last gelegten Ladendiebstähle begangen haben, so stehe für ihn ausser Frage, dass dazu in erheblichem Masse der Umstand beigetragen habe, dass die seit Jahren dauernde übergrosse seelische Belastung wegen der Krankheit ihrer Tochter bei ihr einen seelischen Ausnahmezustand erzeugt habe. Diese Umstände, zu denen noch das hartnäckige Bestreiten der Tat trotz erdrückender Indizien kommt, hätten bei der Vorinstanz Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit wecken sollen, über die sie sich umso weniger hinwegsetzen durfte, als sie keinen persönlichen Eindruck von der Angeklagten hatte. Die Sache ist deshalb an das Obergericht zurückzuweisen. Dieses hat den Geisteszustand der Beschwerdeführerin durch einen oder mehrere Sachverständige untersuchen zu lassen. In Würdigung der Begutachtung wird es sodann die Sache hinsichtlich Schuld, Strafe und Gewährung des bedingten Strafvollzugs neu prüfen müssen.
Dispositiv

Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur Anordnung einer psychiatrischen Begutachtung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 98 IV 156
Datum : 23. Juni 1972
Publiziert : 31. Dezember 1972
Quelle : Bundesgericht
Status : 98 IV 156
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 13 StGB. Für die Anordnung einer psychiatrischen Untersuchung genügt es, dass ernsthafter Anlass zu Zweifeln an der
Einordnung : Änderung der Rechtsprechung


Gesetzesregister
StGB: 11 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 11 - 1 Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden.
1    Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden.
2    Pflichtwidrig untätig bleibt, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist, namentlich auf Grund:
a  des Gesetzes;
b  eines Vertrages;
c  einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder
d  der Schaffung einer Gefahr.
3    Wer pflichtwidrig untätig bleibt, ist gestützt auf den entsprechenden Tatbestand nur dann strafbar, wenn ihm nach den Umständen der Tat derselbe Vorwurf gemacht werden kann, wie wenn er die Tat durch ein aktives Tun begangen hätte.
4    Das Gericht kann die Strafe mildern.
13 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 13 - 1 Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
1    Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
2    Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht ist.
63
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 63 - 1 Ist der Täter psychisch schwer gestört, ist er von Suchtstoffen oder in anderer Weise abhängig, so kann das Gericht anordnen, dass er nicht stationär, sondern ambulant behandelt wird, wenn:
1    Ist der Täter psychisch schwer gestört, ist er von Suchtstoffen oder in anderer Weise abhängig, so kann das Gericht anordnen, dass er nicht stationär, sondern ambulant behandelt wird, wenn:
a  der Täter eine mit Strafe bedrohte Tat verübt, die mit seinem Zustand in Zusammenhang steht; und
b  zu erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr weiterer mit dem Zustand des Täters in Zusammenhang stehender Taten begegnen.
2    Das Gericht kann den Vollzug einer zugleich ausgesprochenen unbedingten Freiheitsstrafe, einer durch Widerruf vollziehbar erklärten Freiheitsstrafe sowie einer durch Rückversetzung vollziehbar gewordenen Reststrafe zu Gunsten einer ambulanten Behandlung aufschieben, um der Art der Behandlung Rechnung zu tragen. Es kann für die Dauer der Behandlung Bewährungshilfe anordnen und Weisungen erteilen.
3    Die zuständige Behörde kann verfügen, dass der Täter vorübergehend stationär behandelt wird, wenn dies zur Einleitung der ambulanten Behandlung geboten ist. Die stationäre Behandlung darf insgesamt nicht länger als zwei Monate dauern.
4    Die ambulante Behandlung darf in der Regel nicht länger als fünf Jahre dauern. Erscheint bei Erreichen der Höchstdauer eine Fortführung der ambulanten Behandlung notwendig, um der Gefahr weiterer mit einer psychischen Störung in Zusammenhang stehender Verbrechen und Vergehen zu begegnen, so kann das Gericht auf Antrag der Vollzugsbehörde die Behandlung um jeweils ein bis fünf Jahre verlängern.
BGE Register
69-IV-51 • 71-IV-190 • 72-IV-59 • 78-IV-50 • 88-IV-49 • 98-IV-156
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
zweifel • kassationshof • vorinstanz • beschuldigter • psychiatrische untersuchung • bedingter strafvollzug • spezialarzt • sachverhalt • begründung des entscheids • examinator • diebstahl • schizophrenie • tag • druck • frage • psychiatrisches gutachten • verurteilter • von amtes wegen • mass • serie
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ZBJV
1960 S.82