Urteilskopf

88 IV 69

21. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. April 1962 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau.
Regeste (de):

Regeste (fr):

Regesto (it):


Sachverhalt ab Seite 69

BGE 88 IV 69 S. 69

Aus dem Tatbestand:

A.- X. hatte sich als kantonaler Armeninspektor mit der Unterstützung der Familie Z. zu befassen. Als Frau Z. schwanger wurde, entschloss sie sich im Einvernehmen mit X., die Schwangerschaft im Sinne des Art. 120
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 120 - 1 Mit Busse166 wird die Ärztin oder der Arzt bestraft, die oder der eine Schwangerschaft in Anwendung von Artikel 119 Absatz 2 abbricht und es unterlässt, vor dem Eingriff:
1    Mit Busse166 wird die Ärztin oder der Arzt bestraft, die oder der eine Schwangerschaft in Anwendung von Artikel 119 Absatz 2 abbricht und es unterlässt, vor dem Eingriff:
a  von der schwangeren Frau ein schriftliches Gesuch zu verlangen;
b  persönlich mit der schwangeren Frau ein eingehendes Gespräch zu führen und sie zu beraten, sie über die gesundheitlichen Risiken des Eingriffs zu informieren und ihr gegen Unterschrift einen Leitfaden auszuhändigen, welcher enthält:
b1  ein Verzeichnis der kostenlos zur Verfügung stehenden Beratungsstellen,
b2  ein Verzeichnis von Vereinen und Stellen, welche moralische und materielle Hilfe anbieten, und
b3  Auskunft über die Möglichkeit, das geborene Kind zur Adoption freizugeben;
c  sich persönlich zu vergewissern, dass eine schwangere Frau unter 16 Jahren sich an eine für Jugendliche spezialisierte Beratungsstelle gewandt hat.
2    Ebenso wird die Ärztin oder der Arzt bestraft, die oder der es unterlässt, gemäss Artikel 119 Absatz 5 einen Schwangerschaftsabbruch der zuständigen Gesundheitsbehörde zu melden.
StGB unterbrechen zu lassen. Sie begab sich zu diesem Zwecke von Aarau nach Chur und Zürich, wo sie jeweils einen Arzt aufsuchte; X. stellte ihr für diese Reisen Transportgutscheine zum Bezuge von Armenbilletten aus.
BGE 88 IV 69 S. 70

B.- Am 11. Dezember 1961 erklärte das Obergericht des Kantons Aargau als Berufungsinstanz X. des fortgesetzten Amtsmissbrauchs im Sinne des Art. 312
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 312 - Mitglieder einer Behörde oder Beamte, die ihre Amtsgewalt missbrauchen, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
StGB schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von zehn Tagen.
C.- X. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung, eventuell zur Ausfällung einer blossen Busse zurückzuweisen.
D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau erklärt, auf Gegenbemerkung zu verzichten.
Erwägungen

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

1. Nach Art. 312
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 312 - Mitglieder einer Behörde oder Beamte, die ihre Amtsgewalt missbrauchen, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
StGB wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft, wer als Mitglied einer Behörde oder als Beamter seine Amtsgewalt missbraucht, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen. Wie der Kassationshof in BGE 76 IV 286 ausgeführt hat, geht diese Bestimmung weniger weit als Art. 53 lit. f des Bundesgesetzes über das Bundesstrafrecht vom 4. Februar 1853 gegangen war, der einen allgemeinen Tatbestand der vorsätzlichen Verletzung der Amtspflicht enthielt. Art. 312
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 312 - Mitglieder einer Behörde oder Beamte, die ihre Amtsgewalt missbrauchen, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
StGB erfasst nicht jede Verletzung der Amtspflicht, entgegen dem deutschen Randtitel nicht einmal jeden Missbrauch des Amtes, mag der Täter auch sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil verschaffen oder einem andern einen Nachteil zufügen wollen. Die Bestimmung verlangt vielmehr, dass die in der erwähnten Absicht vorgenommene Tat in einem Missbrauch der Amtsgewalt bestehe. Die Einschränkung der Strafbarkeit gegenüber dem frühern Bundesstrafrecht wird besonders deutlich in der Strafandrohung. Während nach der Bestimmung aus dem Jahre 1853, die übrigens bloss für eidgenössische, nicht aber für kantonale Amtspersonen galt, einfache Amtspflichtverletzungen nur mit Busse
BGE 88 IV 69 S. 71

bestraft wurden, bedroht Art. 312
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 312 - Mitglieder einer Behörde oder Beamte, die ihre Amtsgewalt missbrauchen, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
StGB die Verletzung einer Amtspflicht durch Missbrauch der Amtsgewalt in jedem Falle mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis. Das kann nur heissen, dass der Gesetzgeber nicht jede noch so geringfügige Missachtung der Amtspflicht als Amtsmissbrauch bestraft wissen will; es ist vielmehr offensichtlich, dass er nur "einzelne Arten... besonders wichtiger Amtspflichtverletzung" (Botschaft S. 65), also solche, die durch besondere Merkmale gekennzeichnet sind, dem Strafgesetzbuch unterstellen, im übrigen aber die Ahndung von Amtspflichtverletzungen dem Disziplinarrecht und, soweit es sich um kantonale Amtspersonen handelt, dem Übertretungsstrafrecht der Kantone (Art. 335
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 335 - 1 Den Kantonen bleibt die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist.
1    Den Kantonen bleibt die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist.
2    Die Kantone sind befugt, die Widerhandlungen gegen das kantonale Verwaltungs- und Prozessrecht mit Sanktionen zu bedrohen.
StGB) überlassen wollte. Die nach Art. 312
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 312 - Mitglieder einer Behörde oder Beamte, die ihre Amtsgewalt missbrauchen, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
StGB strafbare Amtspflichtverletzung zeichnet sich abgesehen von der Absicht, sich oder einem anderen einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen, dadurch aus, dass der Täter seine Amtsgewalt missbraucht. Ein solcher Missbrauch ist nach der angeführten Rechtsprechung nur anzunehmen, wenn das Mitglied der Behörde oder der Beamte die Machtbefugnisse, die ihm sein Amt verleiht, unrechtmässig anwendet, d.h. kraft seines Amtes verfügt oder zwingt, wo es nicht geschehen darf. Das hat X. dadurch, dass er Frau Z. zwei Bedürftigkeitsausweise zum Bezuge von Armenbilletten nach Chur und Zürich ausstellte, nicht getan. Freilich war der Bahnbeamte der Billetausgabestelle Aarau gegen Vorlage der Ausweise jeweils gehalten, Frau Z. ein Billet zum halben Preise abzugeben. Hiezu verpflichtet war der Beamte jedoch kraft der im Tarif der schweizerischen Transportunternehmungen enthaltenen Bestimmungen über Fahrvergünstigungen im Personenverkehr, nicht weil er der Amtsgewalt des kantonalen Armeninspektors unterworfen gewesen wäre; denn der Armeninspektor hat dem Bahnbeamten gegenüber keinerlei Befehls- oder Weisungsbefugnisse. Nur ein missbrauch von Machtbefugnissen aber,
BGE 88 IV 69 S. 72

welche das kennzeichnende Merkmal der Amtsgewalt sind, würde den Beschwerdeführer nach unbestrittener Meinung von Lehre und Rechtsprechung der Strafandrohung des Art. 312
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 312 - Mitglieder einer Behörde oder Beamte, die ihre Amtsgewalt missbrauchen, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
StGB aussetzen (vgl. Komm. THORMANN/OVERBECK, Note 3 zu Art. 312; HAFTER, Bes. Teil II S. 831; SCHWANDER, Nr. 778; PETRZILKA, Zürcher Erläuterungen zum StGB S. 439). Was X. vorgeworfen wird, war eine Verletzung seiner Amtspflicht, nicht Missbrauch der Amtsgewalt; er ist daher von der Anschuldigung des Amtsmissbrauches freizusprechen.
2. .....

Dispositiv

Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 11. Dezember 1961 aufgehoben und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 88 IV 69
Datum : 16. April 1962
Publiziert : 31. Dezember 1963
Quelle : Bundesgericht
Status : 88 IV 69
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 312 StGB. Ein kantonaler Armeninspektor, der zu Unrecht Bedürftigkeitsausweise zum Bezuge von Armenbilletten ausstellt,


Gesetzesregister
StGB: 120 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 120 - 1 Mit Busse166 wird die Ärztin oder der Arzt bestraft, die oder der eine Schwangerschaft in Anwendung von Artikel 119 Absatz 2 abbricht und es unterlässt, vor dem Eingriff:
1    Mit Busse166 wird die Ärztin oder der Arzt bestraft, die oder der eine Schwangerschaft in Anwendung von Artikel 119 Absatz 2 abbricht und es unterlässt, vor dem Eingriff:
a  von der schwangeren Frau ein schriftliches Gesuch zu verlangen;
b  persönlich mit der schwangeren Frau ein eingehendes Gespräch zu führen und sie zu beraten, sie über die gesundheitlichen Risiken des Eingriffs zu informieren und ihr gegen Unterschrift einen Leitfaden auszuhändigen, welcher enthält:
b1  ein Verzeichnis der kostenlos zur Verfügung stehenden Beratungsstellen,
b2  ein Verzeichnis von Vereinen und Stellen, welche moralische und materielle Hilfe anbieten, und
b3  Auskunft über die Möglichkeit, das geborene Kind zur Adoption freizugeben;
c  sich persönlich zu vergewissern, dass eine schwangere Frau unter 16 Jahren sich an eine für Jugendliche spezialisierte Beratungsstelle gewandt hat.
2    Ebenso wird die Ärztin oder der Arzt bestraft, die oder der es unterlässt, gemäss Artikel 119 Absatz 5 einen Schwangerschaftsabbruch der zuständigen Gesundheitsbehörde zu melden.
312 
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 312 - Mitglieder einer Behörde oder Beamte, die ihre Amtsgewalt missbrauchen, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.
335
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 335 - 1 Den Kantonen bleibt die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist.
1    Den Kantonen bleibt die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist.
2    Die Kantone sind befugt, die Widerhandlungen gegen das kantonale Verwaltungs- und Prozessrecht mit Sanktionen zu bedrohen.
BGE Register
76-IV-283 • 88-IV-69
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
kassationshof • aargau • vorteil • amtsmissbrauch • sachverhalt • chur • busse • aarau • schwangerschaft • strafgesetzbuch • vorsatz • strafanstalt • wissen • disziplinarrecht • reis • not • arzt • familie • vorinstanz • verurteilter • weiler • wille • tag • mais
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