S. 131 / Nr. 25 Sachenrecht (d)

BGE 78 II 131

25. Urteil der Il. Zivilabteilung vom 27. März 1952 i. S. Oehen gegen
Bachmann.


Seite: 131
Regeste:
Überragende Bauten (Art. 674
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 674 - 1 Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstücke auf ein anderes überragen, verbleiben Bestandteil des Grundstückes, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat.
1    Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstücke auf ein anderes überragen, verbleiben Bestandteil des Grundstückes, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat.
2    Das Recht auf den Überbau kann als Dienstbarkeit in das Grundbuch eingetragen werden.
3    Ist ein Überbau unberechtigt, und erhebt der Verletzte, trotzdem dies für ihn erkennbar geworden ist, nicht rechtzeitig Einspruch, so kann, wenn es die Umstände rechtfertigen, dem Überbauenden, der sich in gutem Glauben befindet, gegen angemessene Entschädigung das dingliche Recht auf den Überbau oder das Eigentum am Boden zugewiesen werden.
ZGB).
1. Intertemporales Recht. - 2. Art. 674 Abs. 3 ist analog anwendbar, wenn
beide Grundstücke bei Errichtung der über die Grenze ragenden Bauten dem
gleichen Eigentümer gehörten und erst später in verschiedene Hände gelangten.
- 3. Art. 973
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 973 - 1 Wer sich in gutem Glauben auf einen Eintrag im Grundbuch verlassen und daraufhin Eigentum oder andere dingliche Rechte erworben hat, ist in diesem Erwerbe zu schützen.
1    Wer sich in gutem Glauben auf einen Eintrag im Grundbuch verlassen und daraufhin Eigentum oder andere dingliche Rechte erworben hat, ist in diesem Erwerbe zu schützen.
2    Diese Bestimmung gilt nicht für Grenzen von Grundstücken in den vom Kanton bezeichneten Gebieten mit Bodenverschiebungen.704
ZGB schützt den gutgläubigen Erwerber des vom Überbau
betroffenen Grundstücks nicht gegen die Geltendmachung des Anspruchs aus Art.
674 Abs. 3. - 4. Umstände, welche die Zuweisung des dinglichen Rechts auf den
Überbau rechtfertigen.
Constructions empiétant sur le fonds d'autrui (art. 674 CC).
1. Droit transitoire. - 2. L'art. 674 al. 3 est applicable par analogie
lorsque deux immeubles appartenaient au même propriétaire lors de la
construction des bâtiments empiétant sur le fonds voisin et ne sont devenus
qu'ultérieurement propriété de propriétaires différents. - 3. L'art. 973 CC ne
protège pas le propriétaire de bonne foi de l'immeuble atteint par
l'empiétement contre l'exercice du droit conféré par l'art. 674 al. 3 CC. -4.
Circonstances qui justifient l'attribut ion d'un droit réel sur l'empiétement.
Opere sporgenti sul fondo altrui (art. 674 CC).
1. Diritto transitorio. - 2. L'art. 674 cp. 3 è applicabile per analogia, se i
due fondi appartenevano al medesimo proprietario quando fu eseguita la
costruzione dell'opera sporgente su uno di essi e solo ulteriormente sono
passati in mano di proprietari diversi. - 3. L'art. 973 CC non protegge il
proprietario in buona fede del fondo colpito dall'opera sporgente, qualora
venga fatto valere il diritto previsto dall'art. 674 cp. 3. - 4. Circostanze
che giustificano la concessione d'un diritto reale sull'opera sporgente.

A. - Die Grundstücke Nr. 1079 und 1080 in Kleinwangen, Hohenrain, auf denen
aneinandergebaute Häuser stehen, gehörten seinerzeit beide dem Johann Sidler.
Vermutlich im Jahre 1887 liess dieser die Trennwand im Keller durchbrechen, um
die im Keller des Hauses Nr. 1080 befindliche Werkstatt um ca. 3.90 m X 2.37 m
auf Kosten des Kellers des Hauses Nr. 1079 zu vergrössern. Im ersten Stock
versetzte er die Zwischenwand in der

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Weise, dass das Schlafzimmer des Hauses Nr. 1080 ca. 4.60 m X 1.10 m und die
Küche dieses Hauses ca. 2.00 m X 0.40 m an Bodenfläche gewannen und die
anstossenden Räume des Hauses Nr. 1079 entsprechend kleiner wurden.
Im Jahre 1897 verkaufte Sidler beide Grundstücke dem Vater des Beklagten,
Candid Bachmann sen. Im Jahre 1904 verkaufte dieser das Grundstück Nr. 1079.
Nach mehreren Handänderungen wurde es im Jahre 1943 vom Kläger gekauft. Das
Grundstück Nr. 1080 ging im Jahre 1932 bei der Teilung des Nachlasses von
Candid Bachmann sen. ins Eigentum des Beklagten über. Die Erwerbstitel und
Hypothekarprotokolle erwähnten die von Sidler im Keller und ersten Stock
vorgenommenen baulichen Veränderungen nicht, enthielten dagegen die
Bestimmung, dass die Hausscheidewände von den beiden Nachbarn gemeinsam zu
unterhalten seien. Wie sein Vater benützt der Beklagte die Werkstatt im Keller
als Küfer.
Am 1. März 1939 wurde in der Gemeinde Hohenrain das eidgenössische Grundbuch
eingeführt. Wieder im vorausgehenden Bereinigungsverfahren noch innert der
zweijährigen Verwirkungsfrist gemäss § 9 Abs. 2 des luzernischen
Grundbuchgesetzes vom 14. Juli 1930 (vgl. Art. 44 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 44 - 1 Die Zivilstandsbeamtinnen und Zivilstandsbeamten erfüllen insbesondere folgende Aufgaben:
1    Die Zivilstandsbeamtinnen und Zivilstandsbeamten erfüllen insbesondere folgende Aufgaben:
1  Sie führen die Register.
2  Sie erstellen die Mitteilungen und Auszüge.
3  Sie führen das Vorbereitungsverfahren der Eheschliessung durch und vollziehen die Trauung.
4  Sie nehmen Erklärungen zum Personenstand entgegen.
2    Der Bundesrat kann ausnahmsweise eine Vertreterin oder einen Vertreter der Schweiz im Ausland mit diesen Aufgaben betrauen.
des Schlusstitels des
ZGB) meldete der Beklagte hinsichtlich der in das Nachbargrundstück
hineinragenden Räume im Keller und ersten Stock einen Rechtsanspruch an.
B. - Am 4. August 1950 liess der Kläger dem Beklagten eine «rechtliche
Anzeige» mit der Aufforderung zustellen, innert Monatsfrist die von ihm
benützten Räume auf dem Grundstück Nr. 1079 zu verlassen und die Wände auf die
Grundstücksgrenze zu versetzen, da ihm gemäss Grundbuch kein Recht zustehe,
einen Teil dieses Grundstücks für sich in Anspruch zu nehmen. Da der Beklagte
dieser Aufforderung nicht nachkam, leitete er am 31. Oktober 1950 beim
Amtsgericht Hochdorf Klage ein mit dem Begehren, der Beklagte sei zu
verurteilen, das Grundstück Nr. 1079 zu räumen, die auf diesem Grundstück
befindlichen Wände im Keller und ersten Stock auf die

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Grenze zurückzusetzen und ihm einen Schadenersatz von monatlich Fr. 30.- für
die Zeit vom 4. September 1950 bis zur Beseitigung des Überbaus zu bezahlen.
Der Beklagte beantragte Abweisung der Klage und stellte unter Berufung auf
Art. 674 Abs. 3
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 674 - 1 Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstücke auf ein anderes überragen, verbleiben Bestandteil des Grundstückes, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat.
1    Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstücke auf ein anderes überragen, verbleiben Bestandteil des Grundstückes, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat.
2    Das Recht auf den Überbau kann als Dienstbarkeit in das Grundbuch eingetragen werden.
3    Ist ein Überbau unberechtigt, und erhebt der Verletzte, trotzdem dies für ihn erkennbar geworden ist, nicht rechtzeitig Einspruch, so kann, wenn es die Umstände rechtfertigen, dem Überbauenden, der sich in gutem Glauben befindet, gegen angemessene Entschädigung das dingliche Recht auf den Überbau oder das Eigentum am Boden zugewiesen werden.
ZGB die Begehren, der Teil des Grundstücks Nr. 1079, auf dem
die Überbauten sich befinden, sei ihm als Eigentum zuzusprechen; eventuell sei
ihm das dingliche Recht auf den Überbau zuzuerkennen und als
Grunddienstbarkeit ins Grundbuch einzutragen...
Das Amtsgericht hiess die Klage mit der Einschränkung gut, dass es den
Schadenersatz auf monatlich Fr. 20.- statt Fr. 30.- fest setzte, und wies die
konnexen Gegenansprüche» des Beklagten ab.
Das luzernische Obergericht hat mit Urteil vom 3. Oktober 1951 die Klage
abgewiesen und erkannt:
Dem Beklagten ist im Sinne der Begründung das dingliche Recht auf den Überbau
zugesprochen und es ist daher ins Grundbuch von Hohenrain folgende
Dienstbarkeit einzutragen: Recht auf Überbau zugunsten des Grundstücks Nr.
1080 und zulasten des Grundstücks Nr. 1079 im Keller sowie im 1. Stock im
Schlafzimmer und in der Küche.
Die Begründung enthält die Vorbehalte, dass vor der grundbuchlichen Behandlung
der Zuweisung des dinglichen Rechts auf den Überbau dessen genaue Ausmasse
durch den zuständigen Grundbuchgeometer auf Kosten des Beklagten festzustellen
seien, und dass dieses Recht dem Beklagten zugesprochen werde, «ohne dass
dadurch die Höhe der dem Kläger zu leistenden angemessenen Entschädigung
präjudiziert wird».
C. - Gegen dieses Urteil hat der Kläger die Berufung an das Bundesgericht
erklärt mit Anträgen, die darauf hinauslaufen, dass das erstinstanzliche
Urteil wiederherzustellen sei. Eventuell beantragt er Rückweisung der Sache an
die Vorinstanz.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- (Streitwert.)
2.- Obwohl die baulichen Veränderungen zum

Seite: 134
Nachteil des Hauses Nr. 1079 erfolgten und die Grundstücke Nr. 1079 und Nr.
1080 verschiedene Eigentümer erhielten, bevor das ZGB in Kraft trat, ist der
vorliegende Rechtsstreit gemäss Art. 3
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 3 - 1 Wo das Gesetz eine Rechtswirkung an den guten Glauben einer Person geknüpft hat, ist dessen Dasein zu vermuten.
1    Wo das Gesetz eine Rechtswirkung an den guten Glauben einer Person geknüpft hat, ist dessen Dasein zu vermuten.
2    Wer bei der Aufmerksamkeit, wie sie nach den Umständen von ihm verlangt werden darf, nicht gutgläubig sein konnte, ist nicht berechtigt, sich auf den guten Glauben zu berufen.
und Art. 17 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 17 - Handlungsunfähig sind urteilsunfähige Personen, Minderjährige sowie Personen unter umfassender Beistandschaft.
des Schlusstitels
des ZGB auf Grund des neuen Rechts zu beurteilen. Denn die Ansprüche, die die
Parteien geltend machen, stützen sich ausschliesslich auf die gesetzlichen
Vorschriften über den Inhalt des Grundeigentums (vgl. BGE 41 II 217 Erw. 2).
Dass ein Rechtsvorgänger des Beklagten unter der Herrschaft des alten
kantonalen Rechts durch Rechtsgeschäft oder auf andere Weise ein dingliches
Recht auf den Überbau erworben habe, dessen Inhalt allenfalls nach alt cm
Recht zu beurteilen wäre, ist von keiner Seite behauptet worden. Der Kläger
hat dies vielmehr in der Replik ausdrücklich bestritten. Es ist darum auch
nicht zu prüfen, ob die Nichtanmeldung eines solchen Rechts bei der Einführung
des Grundbuchs dessen Verwirkung nach sich gezogen hätte, und welche Folgen
bei Beurteilung der streitigen Ansprüche an eine derartige Verwirkung zu
knüpfen wären.
3.- Der Keller, das Schlafzimmer und die Küche des Hauses Nr. 1080 ragen in
ihrer heutigen Gestalt unstreitig in den Luftraum des Grundstücks Nr. 1079
hinüber. Die Vorkehren, die diesen Zustand herbeigeführt haben (Durchbrechen
der Trennwand im Keller, Versperren des Zugangs vom erweiterten Kellerraum zum
Hause Nr. 1079, Versetzen der hölzernen Trennwände im ersten Stock), stellen
bauliche Veränderungen dar, die entgegen der Behauptung des Klägers nicht
bloss provisorischen Charakter haben. Man hat es daher unzweifelhaft mit
überragenden Bauten im Sinne von Art. 674
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 674 - 1 Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstücke auf ein anderes überragen, verbleiben Bestandteil des Grundstückes, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat.
1    Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstücke auf ein anderes überragen, verbleiben Bestandteil des Grundstückes, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat.
2    Das Recht auf den Überbau kann als Dienstbarkeit in das Grundbuch eingetragen werden.
3    Ist ein Überbau unberechtigt, und erhebt der Verletzte, trotzdem dies für ihn erkennbar geworden ist, nicht rechtzeitig Einspruch, so kann, wenn es die Umstände rechtfertigen, dem Überbauenden, der sich in gutem Glauben befindet, gegen angemessene Entschädigung das dingliche Recht auf den Überbau oder das Eigentum am Boden zugewiesen werden.
ZGB zu tun.
Ein dingliches Recht auf den Bestand dieser Bauten hat der Eigentümer des
Grundstücks Nr. 1080 bis heute nicht erlangt. Die überragenden Raumteile sind
also gemäss Art. 674 Abs. 1
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 674 - 1 Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstücke auf ein anderes überragen, verbleiben Bestandteil des Grundstückes, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat.
1    Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstücke auf ein anderes überragen, verbleiben Bestandteil des Grundstückes, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat.
2    Das Recht auf den Überbau kann als Dienstbarkeit in das Grundbuch eingetragen werden.
3    Ist ein Überbau unberechtigt, und erhebt der Verletzte, trotzdem dies für ihn erkennbar geworden ist, nicht rechtzeitig Einspruch, so kann, wenn es die Umstände rechtfertigen, dem Überbauenden, der sich in gutem Glauben befindet, gegen angemessene Entschädigung das dingliche Recht auf den Überbau oder das Eigentum am Boden zugewiesen werden.
ZGB Bestandteile des Grundstücks Nr. 1079
geblieben. Der Beklagte anerkennt dies. Dass er zwar kein dingliches, aber ein
persönliches Recht auf

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Duldung des Überbaus besitze, behauptet er selber nicht. Zu entscheiden bleibt
deshalb nur noch, ob der Kläger auf Grund seines Eigentums die Beseitigung des
Überbaus verlangen kann oder sich gemäss Art. 674 Abs. 3
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 674 - 1 Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstücke auf ein anderes überragen, verbleiben Bestandteil des Grundstückes, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat.
1    Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstücke auf ein anderes überragen, verbleiben Bestandteil des Grundstückes, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat.
2    Das Recht auf den Überbau kann als Dienstbarkeit in das Grundbuch eingetragen werden.
3    Ist ein Überbau unberechtigt, und erhebt der Verletzte, trotzdem dies für ihn erkennbar geworden ist, nicht rechtzeitig Einspruch, so kann, wenn es die Umstände rechtfertigen, dem Überbauenden, der sich in gutem Glauben befindet, gegen angemessene Entschädigung das dingliche Recht auf den Überbau oder das Eigentum am Boden zugewiesen werden.
ZGB gefallen lassen
muss, dass dem Beklagten ein dingliches Recht darauf oder gar das Eigentum am
Boden zugewiesen wird.
4.- Ist ein Überbau unberechtigt, und erhebt der Verletzte, trotzdem dies für
ihn erkennbar geworden ist, nicht rechtzeitig Einspruch, so kann nach Art. 674
Abs. 3, wenn es die Umstände rechtfertigen, dem Überbauenden, der sich in
gutem Glauben befindet, gegen angemessene Entschädigung das dingliche Recht
auf den Überbau oder das Eigentum am Boden zugewiesen werden. Diese Bestimmung
regelt den Fall, dass auf ein fremdes Grundstück hinübergebaut wird. Auf den
Fall, dass beide Grundstücke bei Errichtung der über die Grenze ragenden
Bauten dem gleichen Eigentümer gehörten und erst später in verschiedene Händen
gelangten, trifft sie nach ihrem Wortlaut nicht zu; denn hier ist das
Hinüberbauen über die Grenze nicht unberechtigt, gibt es keinen Verletzten,
der zur Verhinderung des Überbaus Einspruch erheben könnte, und stellt sich
die Frage des guten oder bösen Glaubens des über die Grenze Bauenden nicht.
Wenn das Grundstück, von dem der Überbau ausgeht, und das Grundstück, in das
er hineinragt, nachträglich verschiedene Eigentümer erhalten, tritt jedoch
eine ähnliche Lage ein wie in dem in Art. 674 Abs. 3 vorgesehenen Falle.
Schränkt das Gesetz die Anwendung des Akzessionsprinzips zugunsten der
Erhaltung wirtschaftlicher Werte (vgl. 41 II 220) und eines billigen
Interessenausgleichs ein, wenn ein Grundeigentümer gutgläubig auf das Land des
Nachbarn hinüberbaut und dieser trotz Erkennbarkeit des Übergriffs nicht
rechtzeitig Einspruch erhebt, so muss das gleiche vernünftigerweise auch
gelten, wenn die überragende Baute von dem hiezu berechtigten Eigentümer
beider Grundstücke errichtet wurde und ein Konflikt

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zwischen verschiedenen Eigentümern erst infolge nachträglicher Veräusserung
eines oder beider Grundstücke entsteht. Art. 674 Abs. 3 ist daher in solchen
Fällen entsprechend anzuwenden (so auch LEEMANN, 2. Aufl., Nr. 10, HAAB Nr. 5
zu Art. 674; SJZ 18 S. 130 Nr. 30), und zwar in dem Sinne, dass dem Eigentümer
des Grundstücks, von dem die überragende Baute ausgeht, gegen angemessene
Entschädigung das dingliche Recht auf den Überbau oder das Eigentum am Boden
zugewiesen werden kann, wenn die Umstände es rechtfertigen. Die weitern
Erfordernisse von Art. 674 Abs. 3 lassen sich auf Fälle dieser Art nicht
übertragen, da sie, wie schon gesagt, auf den Fall zugeschnitten sind, dass
der Bauende eine auf ein fremdes Grundststück hinüberragende Baute errichtet.
5.- Der Kläger behauptet, die Vorinstanz habe Art. 973
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 973 - 1 Wer sich in gutem Glauben auf einen Eintrag im Grundbuch verlassen und daraufhin Eigentum oder andere dingliche Rechte erworben hat, ist in diesem Erwerbe zu schützen.
1    Wer sich in gutem Glauben auf einen Eintrag im Grundbuch verlassen und daraufhin Eigentum oder andere dingliche Rechte erworben hat, ist in diesem Erwerbe zu schützen.
2    Diese Bestimmung gilt nicht für Grenzen von Grundstücken in den vom Kanton bezeichneten Gebieten mit Bodenverschiebungen.704
ZGB und Art. 44 des
Schlusstitels verletzt, indem sie dem «Begehren um nachträgliche Eintragung
eines neuen dinglichen Rechts» zu lasten des Grundstücks Nr. 1079 entsprochen
habe; denn er habe sich beim Erwerb dieses Grundstücks in gutem Glauben auf
das Grundbuch verlassen, wo ein dingliches Recht auf den Überbau nicht
eingetragen gewesen sei. Hieraus ergibt sich jedoch nach den erwähnten
Bestimmungen nur, dass er das Grundstück Nr. 1079 selbst dann frei von einer
Überbaudienstbarkeit zugunsten des Grundstücks Nr. 1080 erworben hätte und
Eigentümer der überragnden Bauten geworden wäre, wenn der Beklagte bis dahin
ein (im Grundbuch nicht eingetragenes) dingliches Recht auf den Überbau gehabt
hätte, was gar nicht behauptet werden ist. Dagegen kann auch derjenige, der
sich gutgläubig auf das Grundbuch verlässt, das Eigentum an einem Grundstück
nur mit dem Inhalt und den Beschränkungen erwerben, die sich aus dem Gesetz
ergeben. Zu den gesetzlichen Beschränkungen des Grundeigentums gehört es, dass
der Eigentümer eines Grundstücks. auf das von einem Nachbargrundstück
ausgehende Bauten überragen, sich beim Zutreffen der Voraussetzungen von Art.
674 Abs. 3 gefallen lassen muss,

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dass dem Nachbarn gegen angemessene Entschädigung das dingliche Recht auf den
Überbau oder das Eigentum am Boden zugewiesen wird. Aus den in BGE 41 II 220
dargelegten Gründen bestehen diese Pflicht und der entsprechende Anspruch des
Nachbarn nicht bloss im Verhältnis zwischen dem Überbauenden und dem
Verletzten (d. h. demjenigen, dem das vom Überbau betroffene Grundstück zur
Zeit der Errichtung der Baute gehörte), sondern auch im Verhältnis zwischen
ihren Rechtsnachfolgern. Da Pflicht und Anspruch unmittelbar auf dem Gesetz
beruhen, ist es nicht notwendig, ja nicht einmal möglich, sie in das Grundbuch
einzutragen (vgl. den eben zitierten Entscheid). Sie unterscheiden sich darin
von dem (mit dem Zuweisungsanspruch gemäss Art. 674 Abs. 3 nicht zu
verwechselnden) dinglichen Recht auf den Überbau, das im Falle der Begründung
durch Rechtsgeschäft erst mit der Eintragung entsteht und im Falle der
Zuweisung durch den Richter der Eintragung bedarf, wenn es gegenüber einem
gutgläubigen Erwerber des belasteten Grundstücks Bestand haben soll. (Aus Art.
674 Abs. 2, wonach das Recht auf den Überbau als Dienstbarkeit in das
Grundbuch eingetragen werden kann, folgt nicht etwa, dass das dingliche
Überbaurecht allgemein oder wenigstens im Falle der Zuweisung gemäss Art. 674
Abs. 3 der Eintragung nicht bedürfe, wie die Vorinstanz und die Kommentatoren
LEEMANN und HAAB, Nr. 25 bzw. 27, annehmen, sondern das Gesetz will mit der
erwähnten Wendung nur sagen, in welcher Form das Recht auf den Überbau, das
persönlicher oder dinglicher Natur sein kann, sich als dingliches Recht
begründen lässt.) Der Umstand, dass sich der Kläger beim Erwerb des
Grundstücks Nr. 1079 in gutem Glauben auf das Grundbuch verlassen hat, schützt
ihn also keineswegs gegen die Geltendmachung des in Art. 674 Abs. 3
vorgesehenen Anspruchs.
6.- Bei Prüfung der Frage, ob die Umstände es rechtfertigen, dem Kläger ein
dingliches Recht im Sinne von

Seite: 138
Art. 674 Abs. 3 zuzuweisen, fällt vor allem ein Umstand in Betracht, den die
Vorinstanz nur beiläufig am Schluss ihrer Erwägungen zu dieser Frage erwähnt
hat: die Tatsache nämlich, dass die Überbauten seit ungefähr 65 Jahren
bestehen und beide Grundstücke, namentlich das heute dem Kläger gehörende,
während dieser Zeit durch verschiedene Hände gegangen sind, ohne dass es einem
der Rechtsvorgänger des Klägers je eingefallen wäre, an den althergebrachten
Verhältnissen zu rütteln. Auch der Kläger brauchte sieben Jahre, um sich zur
Klage zu entschliessen. Dabei waren ihm die Überbauten ohne Zweifel von Anfang
an bekannt. Er hat sich also wie seine Rechtsvorgänger zunächst damit
abgefunden. Der Beklagte seinerseits hat das Haus Nr. 1080 in der heutigen
Gestalt von seinem Vater geerbt und benützt es nun seit bald 20 Jahren mit den
vorhandenen Überbauten. Es entspricht der Billigkeit, dass die Verhältnisse so
belassen werden, wie sie seit Jahrzehnten bestanden haben und von beiden
Parteien angetreten wurden.
Die Vorinstanz stellt im übrigen fest, bei Rückversetzung der Kellerwand auf
die Grenze würde für den Kläger nur ein verhältnismässig geringer Vorteil, für
den Beklagten dagegen ein grosser Nachteil entstehen; denn der Keller des
Hauses Nr. 1080 würde in diesem Falle als Küferwerkstatt nicht mehr genügen,
sodass der Beklagte bauliche Veränderungen vornehmen müsste, die er nur schwer
zu finanzieren vermöchte; die Rückversetzung der Küchenwand würde für den
Beklagten (der verheiratet ist und vier kleine Kinder hat) zu einer
eigentlichen Raumnot in der Küche führen, während für den alleinstehenden
Kläger praktisch nichts gewonnen wäre; die Rückverlegung der Schlafzimmerwand
böte dem Kläger, dessen Wohnstube vergrössert und besser belichtet würde,
einen erheblichen Vorteil, doch würde anderseits der Beklagte mit seiner
Familie noch mehr als jetzt schon eingeengt. Dabei handelt es sich um
tatsächliche Feststellungen, die gemäss Art. 63 Abs. 2
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 973 - 1 Wer sich in gutem Glauben auf einen Eintrag im Grundbuch verlassen und daraufhin Eigentum oder andere dingliche Rechte erworben hat, ist in diesem Erwerbe zu schützen.
1    Wer sich in gutem Glauben auf einen Eintrag im Grundbuch verlassen und daraufhin Eigentum oder andere dingliche Rechte erworben hat, ist in diesem Erwerbe zu schützen.
2    Diese Bestimmung gilt nicht für Grenzen von Grundstücken in den vom Kanton bezeichneten Gebieten mit Bodenverschiebungen.704
OG für das
Bundesgericht

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verbindlich sind. Auch diese Umstände durften bei der Anwendung von Art. 674
Abs. 3 zugunsten des Beklagten in Betracht gezogen werden.
Der vom Kläger behauptete Umstand, dass die Rückversetzung der Wände mit
geringem Kostenaufwand leicht zu bewerkstelligen wäre, fällt demgegenüber
nicht erheblich ins Gewicht, sodass es sich erübrigt, über diesen Punkt noch
Beweis erheben zu lassen. Ebensowenig vermag die Tatsache, dass das Haus des
Klägers auch abgesehen von den Überbauten sehr schmal ist, den Ausschlag zu
seinen Gunsten zu geben; dies schon deswegen nicht, weil er sein Grundstück
(wohl nicht zuletzt wegen der vorhandenen Überbauten) sehr billig erwerben
konnte.
Die Voraussetzungen für die Zuweisung des dinglichen Rechts auf den Überbau
oder des Eigentums am Boden sind demnach erfüllt.
Wie die Vorinstanz zutreffend angenommen hat, kommt von diesen beiden
Möglichkeiten im vorliegenden Falle nur die erste in Frage, namentlich weil ja
die Verhältnisse in den verschiedenen Stockwerken verschiedene sind.
7.- Der Kläger beanstandet, dass die Vorinstanz die Eintragung einer
Dienstbarkeit ohne zeitliche Beschränkung verfügt habe. Er befürchtet, dass
der Beklagte oder ein Rechtsnachfolger das Überbaurecht auch für eine Neubaute
beanspruchen könnte. Diese Gefahr besteht jedoch nicht. Das auf Grund von Art.
674 Abs. 3
SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907
ZGB Art. 674 - 1 Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstücke auf ein anderes überragen, verbleiben Bestandteil des Grundstückes, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat.
1    Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstücke auf ein anderes überragen, verbleiben Bestandteil des Grundstückes, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat.
2    Das Recht auf den Überbau kann als Dienstbarkeit in das Grundbuch eingetragen werden.
3    Ist ein Überbau unberechtigt, und erhebt der Verletzte, trotzdem dies für ihn erkennbar geworden ist, nicht rechtzeitig Einspruch, so kann, wenn es die Umstände rechtfertigen, dem Überbauenden, der sich in gutem Glauben befindet, gegen angemessene Entschädigung das dingliche Recht auf den Überbau oder das Eigentum am Boden zugewiesen werden.
ZGB eingeräumte Überbaurecht gilt nur für den bestehenden Überbau
und fällt mit dessen Beseitigung dahin. Der Nachbar kann in diesem Falle die
Löschung des Eintrags verlangen. Zur Duldung eines auf sein Grundstück
übergreifenden Neubaus ist der Nachbar nur verpflichtet, wenn die
Voraussetzungen von Art. 674 Abs. 3 bei diesem Neubau wiederum gegeben sind
(vgl. LEEMANN Nr. 26).
8.- Nach Art. 674 Abs. 3 kann das dingliche Recht auf den Überbau dem
Überbauenden (oder einem seiner Rechtsnachfolger) «gegen angemessene
Entschädigung»

Seite: 140
zugewiesen werden. Den Entschädigungsanspruch geltend zu machen und im
einzelnen zu begründen, ist Sache des durch den Überbau geschädigten Nachbarn.
Da der Kläger es unterlassen hat, im kantonalen Verfahren für den Fall der
Gutheissung der Begehren des Beklagten die Zusprechung einer Entschädigung zu
verlangen, bedeutet es keine Verletzung von Bundesrecht, dass die Vorinstanz
die Entschädignngsfrage in ein besonderes Verfahren verwies, ohne den Erwerb
des dinglichen Rechts auf den Überbau von der vorherigen Festsetzung und
Bezahlung der Entschädigung abhängig zu machen.
Demnach erkennt das Bundesgericht
Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichtes des Kantons
Luzern vom 3. Oktober 1951 bestätigt.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 78 II 131
Date : 01. Januar 1952
Published : 27. März 1952
Source : Bundesgericht
Status : 78 II 131
Subject area : BGE - Zivilrecht
Subject : Überragende Bauten (Art. 674 ZGB).1. Intertemporales Recht. - 2. Art. 674 Abs. 3 ist analog...


Legislation register
OG: 63
ZGB: 3  17  44  674  973
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41-II-215 • 78-II-131
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defendant • land register • property • lower instance • good faith • appropriate compensation • question • federal court • final section • easement • father • forfeiture • advantage • real property • hamlet • compensation • month • relationship between • toleration • neighbor
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18 S.130