S. 123 / Nr. 28 Motorfahrzeugverkehr (d)

BGE 75 IV 126

28. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 28. Oktober 1949 i. S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern gegen Kümin.


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Regeste:
Art. 26 Abs. 3 MFG. Wer vor Strassenkreuzungen überholen will, muss sein
Vorhaben spätestens dort beenden können, wo er seine Aufmerksamkeit auf die
Kreuzung zu richten hat.
Art. 26 al. 3 LA. Le conducteur qui veut dépasser avant une croisée de routes
doit pouvoir terminer sa manoeuvre au plus tard au moment où il doit porter
son attention sur la croisée.
Art. 26, cp. 3 LA. n conducente che vuole oltrepassare prima d'un incrocio
deve poter terminare la sua manovra al più tardi là dove deve volgere la sua
attenzione all'incrocio.

A. - Kümin fuhr am 27. November 1948 kurz nach Mittag auf einem Motorrad durch
die etwa 8 m breite Maihofstrasse in Luzern aus nördlicher Richtung
stadteinwärts. Als er im Begriffe war, mit 45 bis 50 km/h unter Einhaltung von
bloss etwa 35 cm Abstand einen 40 bis 50 cm vom rechten Trottoir entfernt
fahrenden Traktor mit Anhänger zu überholen, näherte sich aus der von rechts
einmündenden beidseits mit Trottoirs versehenen Weggismattstrasse ein
Motordreirad. Der Führer des Traktors, in der irrigen Meinung, das
Motordreirad beanspruche den Vortritt, verringerte die Geschwindigkeit und
schwenkte leicht nach links. Dadurch stiess das überholende Motorrad, obschon
Kümin auf einer Strecke von 3,9 m scharf abbremste, mit dem linken Vorderrad
des Traktors zusammen. Die Stelle des Zusammenstosses liegt auf der
verlängerten Linie des nördlichen Randes der Fahrbahn der Weggismattstrasse.
B. - Der Amtsstatthalter von Luzern-Stadt beantragte gegen Kümin eine Busse
von Fr. 20.­ wegen Übertretung von Art. 25 und 26 MFG und Art. 46 MFV, mit dem
Vorwurf, Kümin habe den Traktor im Bereiche einer

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Strasseneinmündung mit zu geringem Abstand und zu schnell überholt.
Da Kümin den Strafantrag nicht annahm, wurde die Sache dem Amtsgericht
überwiesen. Dieses verurteilte den Beschuldigten am 19. Juli 1949 zu einer
Busse von Fr. 10.­ wegen Überholens mit ungenügendem Abstand (Art. 25 Abs. 1
Satz 3 MFG, Art. 46 Abs. 3 MFV). Dass er an verbotener Stelle überholt habe,
verneinte es mit der Begründung, dass sein Vorhaben knapp vor der
Strasseneinmündung beendet gewesen wäre, wenn er nicht wegen des plötzlichen
Linksschwenkens des Traktors hätte bremsen müssen. Zur Strasseneinmündung sei
nur die Fahrbahn, nicht auch das Trottoir zu rechnen. Das Linksschwenken des
Traktors habe Kümin nicht voraussehen können.
C. - Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern führt Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das Urteil sei aufzuheben und das Amtsgericht unter anderem
anzuweisen, Kümin auch wegen Überholens im Bereiche einer Strasseneinmündung
zu büssen (Art. 26 Abs. 3 MFG).
Zur Begründung wird geltend gemacht, die Einmündung beginne nicht erst in der
verlängerten Linie der Nordseite der Weggismattstrasse, sondern « von dieser
aus links früher ». Kümin habe zu überholen begonnen, als er bereits in der
dafür gesetzlich verbotenen Zone gewesen sei. Dass er plötzlich habe abbremsen
müssen, entlaste ihn nicht, denn er habe nicht schneller fahren dürfen, als
dass er sein Fahrzeug noch habe beherrschen können, besonders auch gegenüber
allen vernünftigen Vorkehren des vor ihm auf die Einmündung zu fahrenden
Traktors. Wäre er langsamer gefahren, so hätte ihn das Linksschwenken des
Traktors nicht so überrascht, dass er nicht mehr rechtzeitig und genügend
abbremsen konnte, um den Zusammenstoss zu vermeiden. Ausserdem hätte er dann
erkannt, dass er vor der Strasseneinmündung nicht mehr überholen könne. Dass
er überrascht worden sei, habe er sich selber zuzuschreiben und entlaste ihn
daher nicht. Der Traktor habe wegen des aus der Weggismattstrasse kommenden

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Fahrzeuges nach links schwenken müssen. Gerade bei solcher Lage verbiete Art.
26 MFG das Überholen.
D. - Kümin beantragt, die Nichtigkeitsbeschwerde sei abzuweisen. Er macht
geltend, da nach der verbindlichen Beweiswürdigung durch die Vorinstanz
feststehe, dass das Überholen vor der Strasseneinmündung beendet gewesen wäre,
wenn der Traktor nicht in unvorhergesehener Weise plötzlich nach links
abgebogen hätte, verletze das angefochtene Urteil Art. 26 MFG nicht. Der
Beschwerdegegner sei noch nicht in der verbotenen Zone der Strasseneinmündung
gewesen, als er zu überholen begonnen habe. Bei den gegebenen Strassen- und
Verkehrsverhältnissen habe er auch annehmen dürfen, dass er das Überholen vor
der Einmündung beenden könne.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1.- .....
2.- Art. 26 Abs. 3 MFG verbietet dem Führer eines Motorfahrzeuges, an
Strassenkreuzungen zu überholen. Als Kreuzung im Sinne dieser Bestimmung gilt
nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts auch die Stelle, an der eine
Strasse in eine andere einmündet (BGE 64 II 317, 75 IV 29)
Unter Berufung auf BGE 74 IV 173 hält die Vorinstanz das Überholen dann nicht
für verboten, wenn es unmittelbar vor der Kreuzung (Einmündung) beendet werden
kann, und zu dieser rechnet sie « nur die Fahrbahn, nicht auch das Trottoir ».
In der Tat hat der Kassationshof im zitierten Urteil ausgeführt, wer an der
Kreuzung überhole, verkürze den von links kommenden Fahrzeugen die zum
Anhalten zur Verfügung stehende Strecke oder hindere sie am Abbiegen nach
rechts; solche Erschwerungen des Verkehrs träten dagegen nicht ein, wenn das
Überholen vor der zu überquerenden Fahrbahn beendet werde oder erst jenseits
beginne. Kernfrage war jedoch damals nicht, ob und inwieweit der über die
Kreuzungsfläche der beiden Fahrbahnen sich abspielende Fahrzeugverkehr Anlass

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geben könne, das Verbot des Überholens über diese Fläche hinaus auszudehnen,
sondern ob und inwieweit diese Ausdehnung zum Schutze der über die
anstossenden Fussgängerstreifen gehenden Personen nötig sei. Unter ersterem
Gesichtspunkte behandelt das zitierte Urteil das Problem nicht abschliessend.
Der heute zu beurteilende Fall zeigt, dass das Überholen an Strassenkreuzungen
nicht bloss deshalb gefährlich ist, weil der Überholende einem von links
kommenden Fahrzeug die zum Anhalten verfügbare Strecke verkürzt oder es am
Abbiegen nach rechts hindert. Auch der von rechts aus der Querstrasse kommende
Verkehr und die nach links oder rechts in die Querstrasse einbiegenden
Fahrzeuge schaffen Gefahren, die das Verbot des Überholens an
Strassenkreuzungen rechtfertigen. Zum Beispiel kann der Führer des zu
überholenden Fahrzeuges bei einer Kreuzung genötigt sein, sich leicht der
Strassenmitte zu nähern, um besser in die von rechts kommende Seitenstrasse zu
sehen oder einem von dort her auftauchenden Fahrzeug auszuweichen. Dadurch
läuft er Gefahr, mit dem überholenden Fahrzeug zusammenzustossen. Auch kann
das zu überholende Fahrzeug die Sicht vom überholenden auf das von rechts
kommende und die Sicht von diesem auf das überholende Fahrzeug behindern,
wodurch beide oder alle drei der Gefahr eines Zusammenstosses ausgesetzt
werden. Ganz allgemein gesprochen ist an Strassenkreuzungen, wo gleichzeitig
von drei oder mehr Seiten her Fahrzeuge sich dem gleichen Punkte nähern
können, die Möglichkeit eines Unfalles so gross, dass sie nicht durch
überholende Fahrzeuge noch vergrössert werden darf. Das Bundesgericht hat denn
auch in BGE 64 II 317 den gesetzgeberischen Grund des Verbotes des Überholens
an Strassenkreuzungen in den besonderen Gefahren gesehen, die das
Zusammentreffen zweier oder mehrerer Strassen für den Verkehr schafft. Wo
schon die Strassenkreuzung hohe Anforderungen an die Aufmerksamkeit und
Tüchtigkeit des Führers stellt, soll dieser sich nicht durch Überboten weitere
Sorgfaltspflichten aufbürden und andere

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Strassenbenützer, insbesondere den Führer des überholten Fahrzeuges, dessen
Aufmerksamkeit ebenfalls durch die Strassenkreuzung in besonderem Masse in
Anspruch genommen ist, zusätzlichen Gefahren aussetzen. Dem Art. 26 Abs. 3 MFG
ist daher nicht schon nachgelebt, wenn der Führer das Überholen im Augenblick
beendet, wo er die Kreuzungsfläche der beiden Fahrbahnen erreicht. Er muss
sein Vorhaben schon dort fertig ausgeführt haben, wo er seine Aufmerksamkeit
auf die Strassenkreuzung zu richten hat. Wo sich diese Stelle befindet, hängt
von den Umständen des einzelnen Falles, insbesondere auch von der
Geschwindigkeit des überholenden Fahrzeuges ab; wer schnell fährt, muss auf
die Kreuzung aus grösserer Entfernung acht geben, als wer sich ihr langsam
nähert.
3.- Nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz hätte der
Beschwerdegegner das Überholen des Traktors mit Anhänger knapp vor Erreichung
der verlängerten Linie des nördlichen Randes der Fahrbahn der
Weggismattstrasse, wo nach Auffassung der Vorinstanz die Strasseneinmündung
beginnt, beenden können, wenn er nicht vorher wegen des Linksschwenkens des
Traktors auf einer Strecke von 3,9 m scharf hätte bremsen müssen. Damit steht
fest, dass der Beschwerdegegner selbst dann, wenn er ungehindert hätte
weiterfahren können, das Überholen erst beendet hätte, als er sich bereits im
Gefahrenbereich der Einmündung befand und seine Aufmerksamkeit auf diese
richten musste. Denn ein pflichtbewusster Motorradfahrer, der mit 45 bis 50
km/h auf eine Einmündung zufährt, darf nicht erst knapp auf der Höhe der
Seitenstrasse auf diese achten. Er darf damit nicht einmal bis zu der Stelle
zuwarten, an welcher der Beschwerdegegner wegen des Traktors zu bremsen
begonnen, sich also noch in ungehemmter Fahrt hinter oder neben dem zu
überholenden Gefährt befunden hat. Schon wesentlich früher hätte der
Beschwerdegegner das Überholen beendet haben müssen, um dem Vorwurf der
Übertretung von Art. 26 Abs. 3 MFG zu entgehen. Die Vorinstanz hat ihn wegen

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Widerhandlung gegen diese Bestimmung zu bestrafen. Wenn vielleicht nicht
bewusst und gewollt, hat er zum mindesten fahrlässig gehandelt, da er bei
pflichtgemässer Überlegung hat erkennen können, dass er in den Gefahrenbereich
der Einmündung gerate, ehe das Überholen beendet sein werde.
4.- .....
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil
des Amtsgerichts Luzern-Stadt vom 19. Juli 1949 aufgehoben und die Sache zur
Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 75 IV 126
Datum : 01. Januar 1948
Publiziert : 28. Oktober 1949
Quelle : Bundesgericht
Status : 75 IV 126
Sachgebiet : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Gegenstand : Art. 26 Abs. 3 MFG. Wer vor Strassenkreuzungen überholen will, muss sein Vorhaben spätestens dort...


Gesetzesregister
MFV: 46
BGE Register
64-II-312 • 74-IV-171 • 75-IV-126 • 75-IV-26
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
traktor • strassenkreuzung • vorinstanz • beschwerdegegner • stelle • kassationshof • trottoir • bremse • beginn • fahrender • bundesgericht • abbiegen • busse • motorrad • gefahr • distanz • sorgfalt • fahrzeugverkehr • strafantrag • entscheid • begründung des entscheids • annahme des antrags • bewilligung oder genehmigung • strasse • weiler • termin • wille • minderheit • beschuldigter • vortritt • verurteilter • mass • ehe
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