S. 225 / Nr. 36 Rechtsgleichheit (Rechtsverweigerung) (d)

BGE 75 I 225

36. Auszug aus dem Urteil vom 7. Juli 1949 i. S. Ruch gegen Kantonale
Steuerverwaltung Bern und Verwaltungsgericht des Kantons Bern.


Seite: 225
Regeste:
Rechtliches Gehör, Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV.
1. Voraussetzungen, unter denen in Verwaltungssachen dem Betroffenen ein
Anspruch auf rechtliches Gehör zusteht (Erw. 3).
2. Die durch einen Entscheid bestimmte Rechtsstellung einer Partei darf nicht
zu deren Ungunsten abgeändert werden, ohne dass sie Gelegenheit gehabt hat,
sich zu den gegen diesen Entscheid geltend gemachten Gründen auszusprechen
(Erw. 4-5).
Droit d'étre entendu, art. 4 Cst.
1. Conditions dans lesquelles 1'intéressé peut invoquer le droit d'être
entendu dans la procédure administrative (consid. 3).
2. La situation juridique d'une partie, telle qu'elle résulte d'une décision,
ne peut être modifiée au détriment de cette partie sans qu'elle ait eu
l'occasion de se prononcer sur les motifs invoqués pour modifier la décision
prise (consid. 4 et 6).
Diritto d'essere udito, art. 4 CF.
1. Condizioni alle quali dev'essere riconosciuto all'interessato il diritto di
essere udito in materia amministrativa (consid. 3).
2. La situazione giuridica, quale risulta da una sentenza, non può essere
modificata a danno di una parte senza averle dato la possibilità di essere
udita sui motivi addotti contro la sentenza stessa (consid. 4-5).

Aus dem Tatbestand:
Die kantonale Steuerverwaltung Bern hatte den Beschwerdeführer im
Einspracheverfahren für einen beim Verkauf von Liegenschaften erzielten
Vermögensgewinn von Fr. 11200.­ steuerpflichtig erklärt. Die kantonale
Rekurskommission, an die der Steuerpflichtige rekurrierte, setzte jedoch den
Gewinn auf Fr. 5200.­ herab. Den Entscheid der Rekurskommission zog die Steuer
verwaltung an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern.
Das Gericht holte eine Vernehmlassung der Rekurskommission ein; dem
Steuerpflichtigen hingegen gab es keine Gelegenheit, sich zur Beschwerde der
Steuerverwaltung auszusprechen.
Mit Urteil vom 28. Februar 1949 hiess das Verwaltungsgericht die Beschwerde
gut und setzte den steuerbaren Vermögensgewinn auf Fr. 11200.­ fest. Dieser
Entscheid beruht auf der Annahme, dass ein von der

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Rekurskommission als Auslageposten angerechneter Betrag ganz offensichtlich
keine Aufwendung im Sinne von Art. 84 des bernischen Steuergesetzes sei und
dass somit die Rekurskommission diese Vorschrift willkürlich ausgelegt habe.
Der Beschwerdeführer beantragt in seiner staatsrechtlichen Beschwerde die
Aufhebung des Verwaltungsgerichtsentscheides wegen . Willkür und Verweigerung
des rechtlichen Gehörs.
Das Bundesgericht hat die Beschwerde gutgeheissen im Sinne folgender
Erwägungen:
1./2. ­ .....
3. ­ Für das Verfahren in Verwaltungssachen hat zwar die Praxis den
unmittelbar aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV fliessenden Anspruch auf rechtliches Gehör nicht wie
für das Zivil- und Strafverfahren ganz allgemein, aber doch in immer
zahlreicheren Fällen gewährt. Unter diese Fälle hat sie schon vor Jahren die
sog. « Parteistreitigkeiten des öffentlichen Rechts » (vgl. zu diesem Begriff:
FLEINER, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 8. Aufl. S. 265)
eingereiht. Ob der Anspruch darüber hinaus allgemein im
Verwaltungsstreitverfahren zu gewähren sei, konnte das Bundesgericht jeweils
offen lassen (nicht publizierte Entscheide i. S. Schait vom 27. Oktober 1922,
Erw. 2, S. 6; i. S. Commune d'Ayent vom 14. März 1930, Erw. 4, S. 11/12; vgl.
hiezu: BURCKHARDT, Kommentar zur BV, 3. Aufl., S. 53). Inzwischen hat nun aber
das Bundesgericht mit dem Entscheide vom 14. Oktober 1948 i. S. Dame Chastel
(BGE 74 I S. 249) die Voraussetzungen, unter denen in Verwaltungssachen dem
Betroffenen ein unmittelbar aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV fliessender Anspruch auf rechtliches
Gehör zusteht, neu umschrieben und zwar in der Weise, dass dieser Anspruch dem
Betroffenen u. a. stets dann zuerkannt wird, « si l'acte administratif
considéré n'est pas de ceux qui exigent normalement une décision immédiate, et
si la mesure, une fois prise, n'est pas susceptible d'un nouvel examen » Diese

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beiden Voraussetzungen sind aber im vorliegenden Falle gegeben. Einerseits
handelt es sich um eine Streitsache, bei der die Verschiebung des Entscheides
um einige Wochen keine Rolle spielen konnte, und anderseits kann das
Verwaltungsgericht den angefochtenen Entscheid nicht in « Wiedererwägung »
ziehen, sondern nur auf ein Gesuch um « neues Recht » hin unter den in Art. 35
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 35 Verwirklichung der Grundrechte - 1 Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
1    Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
2    Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.
3    Die Behörden sorgen dafür, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden.

des Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 31. Oktober 1909 aufgeführten
Voraussetzungen abändern.
4. ­ Der aus Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV fliessende Anspruch auf rechtliches Gehör schliesst in
sich auch den Anspruch einer Partei darauf, dass ihre durch einen Entscheid
bestimmte Rechtsstellung nicht zu ihren Ungunsten verändert wird, ohne dass
sie Gelegenheit gehabt habe, sich zu den gegen diesen Entscheid geltend
gemachten Gründen auszusprechen (BGE 43 I S. 5; 64 I S. 148). Das
Verwaltungsgericht hat somit Art. 4
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
BV dadurch verletzt, dass es auf
Beschwerde der Steuerverwaltung hin den Entscheid der kantonalen
Rekurskommission zu Ungunsten des Beschwerdeführers abänderte, ohne dass es
diesem Gelegenheit gab, sich zur Beschwerde der Steuerverwaltung zu äussern.
Hieran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass das Verwaltungsgericht «
eine rein juristische Frage » zu beurteilen hatte, die es auf Grund der Akten
für « spruchreif » erachtete; denn der Anspruch auf rechtliches Gehör ist
formeller Natur, d.h. dessen Verletzung hat die Aufhebung des angefochtenen
Entscheides auch dann zur Folge, wenn der Beschwerdeführer ein materielles
Interesse hieran nicht nachzuweisen vermag (BGE 64 I S. 148/9 und dort
zitierte frühere Entscheide).
5. ­ Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben. Das Verwaltungsgericht
darf den Entscheid der Rekurskommission zu Ungunsten des Beschwerdeführers
nicht abändern, ohne ihm zuvor Gelegenheit zu geben, sich zur Beschwerde der
Steuerverwaltung zu äussern. Auf die gegen den Inhalt des angefochtenen
Entscheides

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gerichteten Rügen des Beschwerdeführers ist zur Zeit nicht einzutreten. Dem
Beschwerdeführer bleibt das Recht gewahrt, sie gegen den neuen Entscheid des
Verwaltungsgerichts zu erheben.
Entscheidinformationen   •   DEFRITEN
Dokument : 75 I 225
Datum : 01. Januar 1948
Publiziert : 06. Juli 1949
Quelle : Bundesgericht
Status : 75 I 225
Sachgebiet : BGE - Verfassungsrecht
Gegenstand : Rechtliches Gehör, Art. 4 BV.1. Voraussetzungen, unter denen in Verwaltungssachen dem Betroffenen...


Gesetzesregister
BV: 4 
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 4 Landessprachen - Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.
35
SR 101 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999
BV Art. 35 Verwirklichung der Grundrechte - 1 Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
1    Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen.
2    Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.
3    Die Behörden sorgen dafür, dass die Grundrechte, soweit sie sich dazu eignen, auch unter Privaten wirksam werden.
BGE Register
43-I-4 • 64-I-145 • 74-I-241 • 75-I-225
Stichwortregister
Sortiert nach Häufigkeit oder Alphabet
anspruch auf rechtliches gehör • bundesgericht • entscheid • willkürverbot • staatsrechtliche beschwerde • staatsorganisation und verwaltung • frage