S. 43 / Nr. 12 Verfahren (d)

BGE 73 IV 43

12. Urteil des Kassationshofes vom 24. Januar 1947 i.S. Regazzoni gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern.


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Regeste:
Art. 397 StGB. Wenn der Gesuchsteller die behauptete neue erhebliche Tatsache
glaubhaft macht, ist dem Wiederaufnahmegesuch Folge zu geben.
Art. 397 CP. Lorsque le requérant rend vraisemblable le fait nouveau sérieux
qu'il allègue, il y a lieu de donner suite à la demande de révision.
Art. 397 CP. Se l'istante rende verosimile il nuovo fatto rilevante da lui
asserito, devesi dare corso all'istanza di revisione.

A. ­ Regazzoni beantragte dem Obergericht des Kantons Luzern am 23. Oktober
1946 die Wiederaufnahme eines Verfahrens, in welchem er erstinstanzlich durch
das Kriminalgericht und auf Appellation hin am 13. Mai 1940 durch das
Obergericht in Anwendung eidgenössischen Rechts wegen Diebstahls und
Sachbeschädigung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Er berief
sich auf ein bei den Akten der Begnadigungskommission liegendes privates
ärztliches Gutachten vom 1. Juni 1946. Dieses bezeichnet ihn als
stimmungslabilen Psychopathen, der in seinen Verstimmungszuständen zu
affektiven Deliktshandlungen neige, für welche eine verminderte
Zurechnungsfähigkeit anzunehmen sei, indem die intellektuellen Hemmungen
ausgeschaltet seien und der Täter mehr triebhaft handle. Weiter sagt es, der
Zustand, der im Jahre 1946 zu den Diebstählen Anlass gegeben habe, sei mehr
reaktiv exogener Natur gewesen, nämlich durch Krankheit und Ehezerrüttung
bedingt.
B. ­ Das Obergericht wies das Wiederaufnahmegesuch am 25. November 1946 ab mit
der Begründung, dass Privatgutachten nach den Vorschriften des Strafverfahrens
und nach ständiger Rechtsprechung keinen Beweiswert hätten.

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C. ­ Regazzoni führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, dieser Entscheid
sei aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen, auf das Revisionsgesuch
einzutreten und das Beweisverfahren durchzuführen. Er hält Art. 397 StGB für
verletzt, weil das Obergericht einer erheblichen Tatsache die Qualifikation
eines Revisionsgrundes abgesprochen bezw. sich mit der damit verbundenen Frage
nicht auseinandergesetzt habe.
D. ­ Die Staatsanwaltschaft ist der Meinung, dass das eingelegte Gutachten
Zweifel an der vollen Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers im Sinne von
Art. 11
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 11 - 1 Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden.
1    Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden.
2    Pflichtwidrig untätig bleibt, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist, namentlich auf Grund:
a  des Gesetzes;
b  eines Vertrages;
c  einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder
d  der Schaffung einer Gefahr.
3    Wer pflichtwidrig untätig bleibt, ist gestützt auf den entsprechenden Tatbestand nur dann strafbar, wenn ihm nach den Umständen der Tat derselbe Vorwurf gemacht werden kann, wie wenn er die Tat durch ein aktives Tun begangen hätte.
4    Das Gericht kann die Strafe mildern.
und 13
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 13 - 1 Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
1    Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
2    Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht ist.
StGB aufkommen lasse und dass daher das die eigentliche
Revision nicht präjudizierende Vorverfahren hätte eingeleitet werden müssen,
das dann aufgezeigt hätte, ob die Behauptung den tatsächlichen Verhältnissen
entspreche. Es genüge, dass die neue Tatsache glaubhaft gemacht werde.
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. ­ Nach Art. 397 StGB muss die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des
Verurteilten zugelassen werden «wegen erheblicher Tatsachen oder Beweismittel,
die dem Gerichte zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt waren». Indem
im vorliegenden Falle der Verurteilte behauptet, die Tat im Zustande
verminderter Zurechnungsfähigkeit begangen zu haben, beruft er sich auf eine
Tatsache. Sie ist neu, da sie im Verfahren, das zur Verurteilung führte, weder
vom Kriminalgericht noch vom Obergericht in Erwägung gezogen worden ist. Sie
ist auch erheblich, denn falls es stimmt, dass der Beschwerdeführer bloss
vermindert zurechnungsfähig war, muss er milder bestraft werden (Art. 11
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 11 - 1 Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden.
1    Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden.
2    Pflichtwidrig untätig bleibt, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu verpflichtet ist, namentlich auf Grund:
a  des Gesetzes;
b  eines Vertrages;
c  einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder
d  der Schaffung einer Gefahr.
3    Wer pflichtwidrig untätig bleibt, ist gestützt auf den entsprechenden Tatbestand nur dann strafbar, wenn ihm nach den Umständen der Tat derselbe Vorwurf gemacht werden kann, wie wenn er die Tat durch ein aktives Tun begangen hätte.
4    Das Gericht kann die Strafe mildern.
, 66
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 66 - 1 Besteht die Gefahr, dass jemand ein Verbrechen oder Vergehen ausführen wird, mit dem er gedroht hat, oder legt jemand, der wegen eines Verbrechens oder eines Vergehens verurteilt wird, die bestimmte Absicht an den Tag, die Tat zu wiederholen, so kann ihm das Gericht auf Antrag des Bedrohten das Versprechen abnehmen, die Tat nicht auszuführen, und ihn anhalten, angemessene Sicherheit dafür zu leisten.
1    Besteht die Gefahr, dass jemand ein Verbrechen oder Vergehen ausführen wird, mit dem er gedroht hat, oder legt jemand, der wegen eines Verbrechens oder eines Vergehens verurteilt wird, die bestimmte Absicht an den Tag, die Tat zu wiederholen, so kann ihm das Gericht auf Antrag des Bedrohten das Versprechen abnehmen, die Tat nicht auszuführen, und ihn anhalten, angemessene Sicherheit dafür zu leisten.
2    Verweigert er das Versprechen oder leistet er böswillig die Sicherheit nicht innerhalb der bestimmten Frist, so kann ihn das Gericht durch Sicherheitshaft zum Versprechen oder zur Leistung von Sicherheit anhalten. Die Sicherheitshaft darf nicht länger als zwei Monate dauern. Sie wird wie eine kurze Freiheitsstrafe vollzogen (Art. 7971).
3    Begeht er das Verbrechen oder das Vergehen innerhalb von zwei Jahren, nachdem er die Sicherheit geleistet hat, so verfällt die Sicherheit dem Staate. Andernfalls wird sie zurückgegeben.

StGB).
2. ­ Eine andere Frage ist, ob die neue Tatsache von Bundesrechts wegen bloss
behauptet zu werden braucht oder ob sie glaubhaft gemacht oder sogar bewiesen
werden muss.
Nach dem französischen Texte des Art. 397 StGB

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würde genügen, dass die neuen Tatsachen angerufen werden (viennent à être
invoqués), während sie nach dem italienischen Texte bestehen (esistere), also
offenbar auch bewiesen sein müssten. Der deutsche Text entscheidet sich weder
für die eine noch für die andere Lösung deutlich; er gestattet die
Wiederaufnahme des Verfahrens einfach «wegen erheblicher Tatsachen». Mit der
Begründung, dass Tatsache nur sei, was wirklich bestehe, liesse sich daraus
ableiten, dass die behauptete Tatsache auch schon bewiesen sein müsse. Diese
Auffassung hätte indes zur Folge, dass die Kantone die Wiederaufnahme des
Verfahrens trotz Bestehens neuer Tatsachen in den meisten Fällen ablehnen
könnten, weil es dem Gesuchsteller nicht gelänge, ein schlüssiges Beweismittel
schon mit dem Gesuch einzureichen. Als solches Beweismittel kämen ja nur
Urkunden in Frage, und zwar Urkunden, die den Richter sofort voll und ganz
überzeugen müssten. Diese Beschränkung ist vom Gesetz nicht gewollt. Das
ergibt sich daraus, dass es dem Verurteilten erlaubt, eine im früheren
Verfahren behauptete Tatsache durch (neue) «Beweismittel» schlechthin, also
nicht bloss durch Urkunden, darzutun. Dass es für den Nachweis neuer Tatsachen
strenger sein wollte, ist nicht denkbar. Wesentlich ist ihm nur, der Wahrheit
zum Durchbruch zu verhelfen. Dazu kann jedes beliebige Beweismittel verwendet
werden. Der Richter darf daher ein Wiederaufnahmegesuch nicht abweisen mit der
Begründung, ein Beweismittel liege dem Gesuch nicht bei. Beweise zu erheben,
ist Sache des Gerichts, nicht des Verurteilten. Das heisst freilich nicht,
dass der Verurteilte eine neue Tatsache bloss zu behaupten brauchte und das
Gericht darauf von Amtes wegen nach den nötigen Beweismitteln zu forschen und
sie beizubringen hätte. Unter Umständen genügt nicht einmal, dass der
Verurteilte zu der behaupteten neuen Tatsache die Beweismittel nenne. Er
könnte sonst das Gericht jederzeit leichtfertig nötigen, auf eine
rechtskräftig beurteilte Sache zurückzukommen. Zu einem so tiefen Eingriff

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in das kantonale Prozessrecht bestand für den Bundesgesetzgeber kein Anlass.
Die Wiederaufnahme muss von Bundesrechts wegen nur gestattet werden, wenn der
Gesuchsteller die behauptete neue Tatsache mindestens glaubhaft macht.
Namentlich braucht der Richter auf die Behauptung des Verurteilten hin, die
Tat im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit oder verminderter
Zurechnungsfähigkeit begangen zu haben, nur dann ein Gutachten
Sachverständiger einzuholen, wenn jene Behauptung etwas für sich hat. Auch
Art. 13
SR 311.0 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937
StGB Art. 13 - 1 Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
1    Handelt der Täter in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt, so beurteilt das Gericht die Tat zu Gunsten des Täters nach dem Sachverhalt, den sich der Täter vorgestellt hat.
2    Hätte der Täter den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht vermeiden können, so ist er wegen Fahrlässigkeit strafbar, wenn die fahrlässige Begehung der Tat mit Strafe bedroht ist.
StGB verpflichtet den Richter ja nur dann zur Einholung eines
Gutachtens, wenn er an der Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten zweifelt,
und Zweifel werden ihm in der Regel nicht schon durch die blosse Behauptung
des Beschuldigten, geistig nicht gesund zu sein, aufgedrängt. Was der
Beschuldigte im ordentlichen Verfahren nicht durch eine blosse Behauptung
erzwingen kann, muss er auch nicht durch Behauptung in einem
Wiederaufnahmegesuch erzwingen können.
3. ­ Der Beschwerdeführer hat im Wiederaufnahmegesuch ein bei den Akten der
Begnadigungsbehörde liegendes privates ärztliches Gutachten angerufen, um
seine Behauptung, er habe die Tat im Zustande verminderter
Zurechnungsfähigkeit begangen, zu erhärten. Das Obergericht hat das Gesuch
abgewiesen, weil Privatgutachten nach den Vorschriften des kantonalen
Strafverfahrens und nach ständiger kantonaler Rechtsprechung keinen Beweiswert
hätten. Damit geht es von der Auffassung aus, die verminderte
Zurechnungsfähigkeit müsste schon bewiesen sein, um zur Wiederaufnahme des
Verfahrens führen zu könne. Nach dem Gesagten handelt es sich aber vorläufig
bloss darum zu wissen, ob die Behauptung des Gesuchstellers glaubhaft ist.
Wenn ja, muss dem Gesuch die gesetzliche Folge gegeben werden, sei es ­ wofür
kantonales Recht massgebend ist ­, dass das Obergericht vor der Bewilligung
der Wiederaufnahme selber ein Gutachten Sachverständiger einholt, sei es,

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dass es die Wiederaufnahme bewilligt und die Einholung eines Gutachtens dem
Richter im wiederaufgenommenen Verfahren vorbehält. Die Sache ist daher an das
Obergericht zurückzuweisen, damit es sich darüber ausspreche, ob der
Beschwerdeführer seine Behauptung (durch das angerufene Privatgutachten oder
sonstwie) glaubhaft gemacht hat. Zu Unrecht beruft es sich auf den Entscheid
des Kassationshofes vom 13. November 1946 in Sachen Hafner. Er betraf einen
Fall, in dem das Privatgutachten nicht zur Glaubhaftmachung einer neuen
Tatsache, sondern als neues Beweismittel zu einer bereits im früheren
Verfahren geltend gemachten Tatsache vorgelegt wurde und als solches
unerheblich war, weil ihm das kantonale Gericht ­ für den Kassationshof
verbindlich ­ Beweiswert absprach.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des
Kantons Luzern vom 25. November 1946 aufgehoben und die Sache zur
Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Decision information   •   DEFRITEN
Document : 73 IV 43
Date : 01. Januar 1947
Published : 24. Januar 1947
Source : Bundesgericht
Status : 73 IV 43
Subject area : BGE - Strafrecht und Strafvollzug
Subject : Art. 397 StGB. Wenn der Gesuchsteller die behauptete neue erhebliche Tatsache glaubhaft macht, ist...


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StGB: 11  13  66  397
BGE-register
73-IV-43
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convicted person • diminished responsibility • evidence • court of cassation • petitioner • hamlet • question • accused • new evidence • doubt • lower instance • revision • number • decision • statement of reasons for the adjudication • judicial agency • proof • cantonal remedies • truth • knowledge
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